Philosophische Konzepte: Aspekt I
Die Arché oder der Urgrund der Vorsokratiker, die Zahl des Pythagoras, die Idee Platons, die Wesensbestimmung des Aristoteles, das Zeitbewußtsein des Augustinus, die Substanz des Descartes, das Ich Kants und Fichtes, das Sprachspiel Wittgensteins, um nur diese zu nennen, sind keine Wahrheiten, sondern ursprüngliche Intuitionen, Sichtweisen und Aspekte ins bislang Ungedachte. Sie ähneln den Sichtweisen der Maler, die sie durch Figuration und Farbigkeit ans Licht bringen, oder den poetischen Anschauungen der Dichter, die sie durch ihre rhythmischen und mimetischen Mittel verwirklichen.
Wir sehen plötzlich in einem Wirrwarr und Labyrinth von Linien ein Gesicht. War es, bevor wir es sahen, bereits im jenem unentzifferbaren Chaos von Linien und Kurven vorhanden, verborgen und versteckt, und wir hatten es bloß noch nicht entdeckt? Hat unser Blick ihm aus dem Nebel des Bedeutungslosen heimgeleuchtet?
Jedenfalls betrachten wir den Wust von wirren Linien, nachdem wir die Züge des Gesichts bemerkt haben, nicht mehr als diesen unsinnigen Wirrwarr, wir können ihn nicht mehr anschauen, ohne daß sich uns das Gesicht zeigt, nachdem wir es einmal gesehen haben.
Wir können den Augenblick, da uns das bedeutsame Phänomen aufgeht, nicht voraussehen, wir können ihn nicht berechnen. Er könnte ganz ausbleiben. Ist das bedeutsame Phänomen aber einmal in unseren Gesichtskreis getreten, können wir es nicht wieder ungeschehen machen oder auslöschen.
Wir erwähnten das Zeitbewußtsein, das sich Augustinus in einer starken Intuition verstörend bemerkbar machte. Dies scheint auf kohärente Weise mit der Tatsache übereinzustimmen, daß Augustinus denjenigen, dem die Zeit fraglich wird, das selbst zeitlich verharrende und ausharrende Subjekt, nämlich sich selbst in seinen Bekenntnissen ins Zentrum seines Nachdenkens gerückt hat. Denn wir können alles zeitliche Geschehen nur vom Augenblick dessen her vergegenwärtigen, der in seiner subjektiven Erlebnisgegenwart sich selber gegenwärtig ist. Den Jetzt-Moment unserer Selbstvergegenwärtigung erfassen wir, indem wir von uns als den jetzt hier Gegenwärtigen sprechen.
Wir können aber vom Erlebnis des Augenblicks aus nicht nur die subjektiv sich eröffnenden Dimensionen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erfassen, sondern Differenzierungen in der Wahrnehmung und Darstellung zeitlicher Abläufe vornehmen.
Betrachten wir dazu kurz folgende Beispielsätze:
1.1 Es regnete unaufhörlich.
1.2 Ich spannte den Regenschirm auf.
1.3 Dann bin ich nach Hause gegangen.
2.1 Il pleuvait sans cesse.
2.2 J’ouvris mon parapluie.
2.3 Alors, je suis rentré à la maison.
Wir stellen neben die deutschen Sätze ihre französischen Gegenstücke, weil an ihnen das Gemeinte deutlicher zutage tritt. Sprechen wir davon, daß es unaufhörlich regnete, beziehen wir uns auf einen kürzer oder länger währenden Vorgang der Vergangenheit. Einen sich in der Vergangenheit zeitlich erstreckenden Vorgang (wie auch einen in der Vergangenheit andauernden Zustand) drücken wir grammatisch (im Deutschen und Französischen) mittels der Verwendung des Präteritums oder Imperfekts aus (es regnete, il pleuvait). Dagegen kann der gebildete Franzose (wie auch der Italiener, Spanier, Portugiese, Rumäne und Ladiner) den besonderen zeitlichen Aspekt, daß ein aus der Dauer des vergangenen Ablaufs herausragendes Ereignis oder eine Handlung punktuell vollzogen wird, mittels eines eigenen Tempus, des Passé simple, zum Ausdruck bringen (j’ouvris), während wir im Deutschen mit dem Imperfekt des Verbs vorliebnehmen müssen (ich spannte). Das Passé simple drückt also eine eigenen Zeitsinn aus und bezeichnet in der Vergangenheit liegende punktuell auftretende und in sich abgeschlossene Handlungen. Hinwieder verwenden wir das Perfekt (Passé composé in den romanischen Sprachen), um eine in der Vergangenheit liegende Handlung (oder ein entsprechendes Ereignis) zu bezeichnen, dessen Dauer oder Wirkung bis an die Schwelle der Gegenwart dessen reichen kann, der spricht (Ich bin nach Hause gegangen; je suis rentré à la maison).
Wir weisen darauf hin, daß die Zeitstufen der Vergangenheit uns narrative Kontexte eröffnen: So pflegen wir beispielsweise unter Verwendung des Präteritums Vorgänge und Zustände der Vergangenheit zu schildern oder zu beschreiben, während der Sprecher einer romanischen Sprache über historisch einmalige Ereignisse und Taten berichtet, indem er das Passé simple verwendet.
Wir können demnach zugespitzt sagen, daß uns die Grammatik der Zeitstufen und Aktionsarten intuitiv den Weg bahnt, uns in unterschiedlichen narrativen Ausdrucksformen und literarischen Genera wie der Schilderung und der Beschreibung oder der Erzählung und dem Bericht zu üben.
Das eine wäre die Verstörung durch die Frage nach dem Wesen der Zeit, wie sie uns Augustinus überliefert, das andere ihre Auflösung oder produktive Umformung in Hinblicke oder Sichtweisen, die uns die Grammatik beispielsweise auf die Darstellung zeitlicher Abläufe und Ereignisse der Vergangenheit ermöglicht.
Kehren wir wieder zur Intuition oder dem Auftauchen des bedeutsamen Aspekts im Chaos der Wahrnehmung wie im Beispiel des plötzlich im Linienwirrwarr auftauchenden Gesichts zurück. Hier erkennen wir einen Hauptzug der Intuition: Klarheit und Licht in eine übersichtliche Situation zu bringen und Orientierung in einem unübersehbaren Umfeld. Von dieser Art sind die Aspekte oder Sichtweisen, die uns die Vorsokratiker mit dem Konzept der Arché und Platon mit dem Hinblick auf die Idee geben wollen.
Wenn wir annehmen, daß im Chaos der Erscheinungen eine grundlegende Struktur durch das Walten und die gliedernde Herrschaft eines Urstoffes oder die Kombination der Elemente sich durchhält, erblicken wir gleichsam im Dickicht des Mannigfaltigen das vertraute Gesicht. Wenn wir im unübersichtlichen Text der alltäglichen Rede das eine und andere vorwaltende Thema ausmachen und wie Sokrates im Begriff einer Tugend (Tapferkeit, Besonnenheit, Weisheit, Gerechtigkeit) oder den Ideen des Wahren, Guten und Schönen dialektisch aufspüren und definitorisch fixieren, gewinnen wir Orientierung in einem trügerischen Umfeld. Ähnlich will uns Descartes mit der Unterscheidung zweier wesensverschiedener Substanzen, der geistigen und materiellen, Klarheit und Orientierung über das verschaffen, was wir klar und deutlich ausmachen und sicher wissen können und was nicht. Und wiederum ähnlich will uns das Ich der Idealisten an jenem epistemisch ausgezeichneten Ort verankern, von dem aus wir eine wenn auch transzendental begrenzte Orientierung unserer Erfahrung erlangen können.
Anders verhält es sich mit der Intuition, die Wittgenstein Aspekt nennt. Zwar finden wir auch unter diesem Hinblick ein gewisses Maß an Klarheit und Übersicht, doch nicht weil wir im Mannigfaltigen das Identische sehen, sondern wie bei den unterschiedlichen Spielen gewisse Ähnlichkeiten bemerken, ohne uns aufgrund der Identität der Laut- und Schriftgestalt des Wortes „Spiel“ zur Annahme verführen zu lassen, in der Mannigfaltigkeit all der Spielformen oder Sprachspiele halte sich ein einheitlicher, definitorisch zu fixierender Begriff von Spiel oder Sprache durch.
Doch die Intuition Wittgensteins geht weiter. Sie weist uns auf die Grammatik als ein faktisches Apriori hin, das uns in einer nicht ausdeutbaren Zweideutigkeit einerseits ermächtigt, indem es uns begrenzt, und andererseits ebenso lähmt und an die Wand stoßen läßt, indem es uns beflügelt. Grenzen wir unseren Blick beispielsweise, wie gezeigt, auf die grammatischen Zeitstufen und Aktionsformen der Vergangenheit ein, sind wir fähig, uns in wahrheitsfähigen Beschreibungen und Berichten über das Vergangene auszulassen. Doch werden wir auf der anderen Seite auch von sprachlich kontingenten Eigenheiten wie der semantischen Relation zwischen dem Namen und seinem Träger dazu verleitet, analoge Bedeutungen dort zu suchen und anzusetzen, wo die sprachlichen Ausdrücke semantisch leerlaufen (bei sogenannten Quantoren und indexikalischen Ausdrücken wie „nichts“, „keiner“, „alle“, „ich“) oder wo sie uns begriffliche Hypostasen vorgaukeln (bei Ausdrücken wie „die Tugend“, „das Gute“, „die Wahrheit“, „die Gerechtigkeit“).
Die Aspekte oder Sichtweisen, auf die wir aufmerksam machen, sind weder wahr noch falsch, denn sie bilden keine Schlüsse eines logisch wohlgeformten Arguments. Sie können allerdings dazu anregen, Argumente durch Aufweis von Inkongruenzen und Inkonsistenzen auszubilden, wenn man beispielsweise unter dem Aspekt der Wesensbestimmung des Aristoteles feststellt, daß der Bezug auf Sokrates sich nicht wesentlich ändert, gleichgültig wo sich das Individuum dieses Namens gerade aufhält, oder unter dem Aspekt der Subjektivitätsbestimmung Kants die Inkonsistenz der Perspektive der dritten Person („Ding an sich“) und der Perspektive der ersten Person („Phänomen“) nachweist.
Wir können philosophische Aspekte oder Sichtweisen als mehr oder weniger fruchtbar, anregend und aufschlußreich charakterisieren. Wir können sie einnehmen, erproben und sehen, wie weit wir damit auf den überwachsenen Pfaden des Daseins kommen. Doch lassen sie sich weder aus einsichtigen oder begründeten Prämissen ableiten noch wie die sokratischen Tugenden erlernen. Denn wir vermögen weder willentlich zu kontrollieren noch zu antizipieren, daß und wann der Aspekt des Hasen in der bekannten Kipp-Figur in den Aspekt der Ente oder umgekehrt umschlägt und überspringt.
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