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Philosophische Fragen und Antworten VI

11.04.2014

Soll ich einen Gedanken oder Begriff seiner Bedeutung und Relevanz wegen hervorheben und an den Beginn all meiner philosophischen Überlegungen stellen?

Ja, den Gedanken an dich selbst, den Urgedanken.

Der Gedanke an dich oder mich oder sich ist der Urgedanke, der alle deine oder meine oder seine sonstigen Gedanken begleitet, triviale oder erhabene, moralische oder unmoralische, wahre oder falsche wie der Mond die Erde oder die Erde die Sonne. Du kannst nicht denken, ohne gleichzeitig mehr oder weniger deutlich an dich selbst zu denken.

Du stößt immer wieder auf den Gedanken an dich, wenn du bemerkst, dass all dein Erleben um den Kern deines Ich wie in den alten Atommodellen die Elektronen um den Atomkern kreisen. Du stößt immer wieder auf den Gedanke an dich, wenn du bemerkst, dass du niemand anderen, und sei er dir noch so nahe, in die gleichsam intime Beziehung zwischen dir und deinem Gedanken an dich hineinlassen kannst, ebenso wenig wie es dir vergönnt ist, jemals in den Selbstbezug des anderen, und sei er dir noch so nahe, einzudringen.

Wenn du an dich denkst, bist du da. Du kannst nicht fehlgehen und ängstlich vermuten, du könntest, wenn du an dich denkst, versehentlich jemand anderen meinen. Du weißt nicht, woher der Gedanke an dich rührt, aus welchem Horizont er aufstieg ­– wenn der Gedanke an dich da ist, bist du da.

Der Gedanke an dich selbst, dein Wissen darum, hier und jetzt da zu sein, ist kein kognitiver Universalschlüssel, der dir die Türen zu allen möglichen Welten des Wissens aufschlösse. Der Gedanke an dich selbst schützt dich nicht davor, in vielem anderen fehlzugehen und nicht klar zu sehen. Der Gedanke an dich schützt dich zum Beispiel nicht davor, heute zu meinen, du habest mich gestern gesehen, und dabei war es in Wahrheit vorgestern, dass wir uns begegnet sind. Der Gedanke an dich impliziert demnach weder eine vollständige Selbstgegenwart oder Selbstpräsenz – die für schwache Wesen wie unsereins schlechterdings unerreichbar bleibt ­– noch setzt er sie voraus, wie einige angenommen haben (Jacques Derrida).

Der Gedanke, dass der Mond der Erdtrabant ist oder dass du mich gestern getroffen hast, ist von ganz anderer Struktur und hat eine ganz andere logische Form als der Gedanke an dich, der Urgedanke. Du könntest dich in Bezug auf die Wahrheit der Aussage, dass der Mond der einzige Erdtrabant ist, irren (wenn sich beispielsweise herausstellt, dass in einem ansonsten identischen Paralleluniversum die Erde nicht von einem, sondern von zwei Planeten begleitet wird); und du könntest dich wie gesehen natürlich in Bezug auf die Wahrheit der Aussage irren, dass du mich gestern getroffen hast – während diese Art des kognitiven Fehlgehens hinsichtlich des Gedankens an dich oder des Gedankens an dein Dasein ausgeschlossen ist.

Es ist bekanntlich gleichgültig in Bezug auf die Existenz äußerer Gegenstände der Wahrnehmung wie Planeten oder theoretischer Entitäten wie Quarks, ob du an sie denkst oder nicht an sie denkst – doch in Bezug auf deine eigene Existenz geht es schlicht ums Ganze: Denkst du an dich oder denkst du nicht an dich, bist du da oder existierst du nicht.

Hörst du auf, an dich zu denken oder wieder an dich denken zu können wie im Schlaf oder einer vorübergehenden Ohnmacht, existierst du nicht mehr. Hier gilt die Gleichung: esse est cogitari, Denken ist Sein.

Wenn du dein Wissen von der Existenz des Mondes einbüßen solltest, was schert es ihn, er mondet friedlich weiter. Solltest du allerdings dein Wissen um dein Dasein einbüßen, hätte dies fatale Folgen für dein Leben.

„Wissen um sich“ hat eine andere Struktur und logische Form als „Wissen, dass p“. Beim Wissen um sich ist dem Wissenden der Inhalt seines Wissens unmittelbar gegeben: Du musst den Gedanken an dich nicht rechtfertigen, in dem du auf andere Tatsachen der Wahrnehmung hinweist, aus denen er abgeleitet werden könnte. Weil der Gedanke an dich nicht die Form des Gedankens an etwas hat, ist er nicht einmal eigentlich eine Form des Wissens – kann Wissen doch immer in Frage gestellt, revidiert oder verworfen werden. Das Wissen von der Existenz des Mondes als dem Erdtrabanten kann als Wissen davon beschrieben werden, dass es unter allen Entitäten nur eine einzige gibt, die die Eigenschaft aufweist in einer elliptischen Flugbahn den Sonnenplaneten Erde in unserem Sonnensystem der Milchstraße zu umkreisen. Der Gedanke an dich duldet keine Form einer solchen Erklärung und Rechtfertigung: Entweder ist der Gedanke da oder er ist nicht da – er ist gegeben oder nicht gegeben.

Wir fassen den Gedanken an die kontingente Tatsache in den Blick, dass die Sonne von acht Planeten umkreist wird, und belegen die Kontingenz dieser Tatsache mit der Möglichkeit des Gedankens, dass es in der kosmischen Entwicklung des Sonnensystems nicht zur Entstehung unseres Heimatplaneten gekommen wäre.

Der Gedanke an dich ist nicht ein Gedanke an eine kontingente Tatsache. Es gibt keine Möglichkeit eines Gedankens derart, dass du in einer möglichen Welt existiertest, ohne den Gedanken an dich zu haben. Denn wenn dieser Gedanke, in welcher Welt auch immer, ausbliebe, existiertest du nicht. Folglich sind der Gedanke an dich und die Tatsache deiner Existenz in einer notwendigen Beziehung miteinander verknüpft.

Du bist nicht in der Lage, gleichzeitig an dich zu denken und deine Existenz in Frage zu stellen. Versuche es! Du bleibst gleichsam an dir – an dem Gedanken an dich – hängen. Die Notwendigkeit der Beziehung des Gedankens an dich und der Tatsache deiner Existenz erweist sich auch in der logischen Folgerung eines Widerspruchs, wenn du diese Beziehung negierst. Versuche es, versuche an dich zu denken und gleichzeitig diesen Gedanken an dich mit dem Gedanken deiner Nichtexistenz zu verknüpfen – du bleibst im Widerspruch hängen – und der Widerspruch ist das eindeutige Indiz dafür, dass der Gedanke falsch und sein Gegenteil wahr ist.

Der Gedanke an dich, der Urgedanke, ist kein Fundamentalgedanke und der Begriff des Ich oder Selbst, der Urbegriff, ist kein Fundamentalbegriff.

Urbegriffe sind Begriffe oder Konzepte, die das gesamte Netzwerk all unserer sonstigen Begriffe und Konzepte gleichsam durchwalten und regulieren oder in einem sachgemäßen Bild: Urbegriffe sind die Knoten, die das gesamte Netzwerk unserer sonstigen Begriffe zusammenhalten, verdichten und verknüpfen.

Fundamentalgedanken und Fundamentalbegriffe sind Gedanken und Begriffe, aus denen andere Gedanken und Begriffe abgeleitet, zusammengesetzt und begründet werden können. Aus dem Begriff der Menge kann ich den Zahlbegriff ableiten: Der Begriff der Menge ist im Verhältnis zum Begriff der Zahl fundamental.

Urgedanken und Urbegriffe sind nicht wie Fundamentalgedanken und Fundamentalbegriffe begriffliche Atome, aus denen wie Wörter aus Buchstaben, Sätze aus Wörtern, Stoffe aus chemischen Elementen alle sonstigen Gedanken und Begriffe abgeleitet und zusammengesetzt werden könnten. Insbesondere ist der Gedanke an dich, der Urgedanke des Ich und Selbst, nicht der eigentliche, aber latente Inhalt aller sonstigen Gedanken, den eine überschwängliche Metaphysik durch alle Phasen der begrifflichen und historischen Entwicklung aufzuspüren und aufzudecken hätte (Hegel).

Urgedanken wie der Gedanke an dich und Urbegriffe wie der Begriff des Ich können nicht aus tieferliegenden Gedanken und Begriffen oder Strukturen, aus Fundamentalgedanken und Fundamentalbegriffen, abgeleitet, begründet und erklärt werden. Der Urbegriff des Ich kann nicht mithilfe des Fundamentalbegriffs der sprachlichen Semantik, des sprachlichen Indikators für die erste Person singularis oder dem Personalpronomen der ersten Person „ich“ abgeleitet, begründet und erklärt werden.

Einem Automaten, der haargenau so aussähe wie du und kein Bewusstsein hätte und daher nicht wüsste, dass er er, das heißt, das er ein Ich ist, könnten verschmitzte Techniker einen Algorithmus zur korrekten Verwendung des sprachlichen Indikators oder des Personalpronomens der ersten Person singularis „ich“ einprogrammieren, so dass er oder „du“ im gegebenen Fall, wenn ich ihn und „dich“ nach seinem und „deinem“ Befinden fragte, er und „du“ korrekt antworten könnten „Mir geht es gut“. Allerdings wüssten er und „du“ nicht, was er und „du“ meinten, wenn er und „du“ diese wohlgebildete Antwort gäben, geschweige denn, dass er und „du“ wüssten, dass er und „du“ mit „mir“ sich selbst und „dich“ selbst meinten.

Daraus folgern wir, dass die korrekte Verwendung des Personalpronomens der ersten Person singularis und das Erlenen dieser korrekten Verwendung die Existenz des Gedankens an dich oder die Identität der Person voraussetzen und nicht begründen oder konstituieren können. Wenn du nicht bereits über den Gedanken an dich verfügtest, worauf solltest du den sprachlichen Indikator denn anwenden?

Dies gilt auch für die sprachlichen Indikatoren „hier“ und „jetzt“: Sie setzen den Gedanken an dich oder die Identität der Person voraus. Nur in Hinsicht auf den Gedanken an dich ist es sinnvoll zu sagen, dass du dich jetzt hier an diesem Ort aufhältst. Und weil die variable Situation die Bedeutung der Indexwörter „hier“ und „jetzt“ variiert, müssen wir die Identität dessen, der sie anwendet, voraussetzen oder voraussetzen, dass sich der Gedanke an dich in der Zeit und unabhängig von der Umgebung kontinuiert oder als derselbe festgehalten wird.

Wenn die Beziehung zwischen dem Gedanken an dich und der Tatsache deiner wirklichen Existenz der Struktur und logischen Form nach eine notwendige Beziehung darstellt, folgt daraus wie gezeigt,  dass sie keine kontingente oder zufällige Beziehung sein kann. Wenn der Gedanke an dich, der Urgedanke, keine kontingente Tatsache meint, dann auch keine natürliche oder historische Tatsache, denn alle Tatsachen, Vorkommnisse und Ereignisse der natürlichen Welt und der Geschichte hätten auch ausbleiben oder anders ausfallen können. Wenn wir ausschließen, dass der Gedanke an dich sich nicht allmählich entwickelt hat – er ist wie auf einen Schlag da oder er ist nicht da –, kann er folglich nicht mit den Kriterien des Erklärungsschemas der darwinistischen Evolution erklärt werden. Wenn der Gedanke an dich kein Resultat historisch kontingenter Entwicklungen darstellt, dann insbesondere auch nicht das Resultat einer spezifisch europäischen oder patriarchalischen oder kapitalistischen Entwicklung von Mächten der Disziplinierung und Unterwerfung unter ein historisches Subjekt (Michel Foucault).

Der Gedanke an dich oder die Tatsache deiner Existenz sagt nichts darüber aus, wer oder was du bist. Die vom Gedanken an dich gleichsam ausgeleuchtete Welt, in der du lebst, die subjektive Welt deines Daseins, ist dir im und über das Medium deines Körpers gegeben. Du bist im Gedanken an dich nicht nur überhaupt da, sondern immer auch irgendwie da: Du befindest dich in einem situierten Erlebnishorizont körperlich bedingter Gefühle und Stimmungen, die dir die Welt, die subjektive Welt deines Lebens und Erlebens, erschließen.

Du erlebst deinen Körper und alle durch ihn übermittelten Erlebnisse und mentalen Inhalten deiner Empfindungen, Wahrnehmungen und Erinnerungen im Lichte des Gedankens an dich, auch wenn du dich anders als beim Gedanken an dich über die Inhalte deiner Empfindungen, Wahrnehmungen und Erinnerungen täuschen und irren kannst.

Durch den Gedanken an dich und die in seinem Lichte ausgeleuchteten Dimensionen deines Erlebens erschließt du dir eine Welt des Sinns, nicht eine Welt bewusstloser Körper und bewusstloser körperlicher Ereignisse, die den Gedanken an sich von sich ausschließen. Insofern grenzt es ans Absurde, wenn Neurowissenschaftler und von ihnen irregeleite Philosophen sich unterfangen, mittels wissenschaftlicher Verfahren, wie der bildgebenden Verfahren der Neurologie, den Gedanken an sich oder das Selbstwissen aus den Strukturen und Ereignissen im neuronalen Cortex ableiten und erklären zu wollen. Gehört es doch geradezu zum Sinn und Ethos naturwissenschaftlicher Methodik, Informationen zu ermitteln, die dadurch zustande kommen, dass sie vom Gedanken an sich und von allen subjektiven Perspektiven losgelöst sind.

Du hast gelernt, „ich“ zu sagen, aber du hast nicht gelernt, den Gedanken an dich zu haben, und nicht gelernt, ein Ich zu sein. Bei dem, was du gelernt hast, wie Rechnen, kann ich dich auf einen Fehler oder die Lösungsmöglichkeit einer Gleichung aufmerksam machen. Auf den Gedanken an dich, darauf, dass du da bist, kann ich dich nicht aufmerksam machen – als wärest du jetzt gerade nicht bei dir und wenn ich dich freundlicherweise auf die Tatsache deiner Existenz stieße, ginge dir das Licht des Gedankens an dich auf.

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