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Philosophische Fragen und Antworten V

28.03.2014

Wenn die Entwicklung des Menschen als natürlicher Spezies durch die darwinistischen Erklärungsprinzipien von Mutation und Selektion erklärt werden kann, der Mensch aber das sprachliche Lebewesen par excellence ist, kann dann nicht auch die Entwicklung der Sprache als Produkt der natürlichen Evolution erklärt werden?

Nein. Die Sprache kann nicht wie etwa die Entwicklung von Organen und Organsystemen von Flügeln, Armen, Krallen, Schnäbeln, Augen oder Gehirnen auf der Grundlage der darwinistischen Prinzipien von Mutation und Selektion erklärt werden. Die Selektion greift immer an zufälligen Mutanten an und diese sind zufällige individuelle Vorkommnissen an individuellen Organismen. So mag eine Genmutation das Längenwachstum von rudimentären Flügeln oder Armen oder Beinen oder Hälsen begünstigen: Die Wahrscheinlichkeit, dass das im Sinne des Überlebensvorteils begünstigte Individuum hinfort seine Gene weitergibt, ist größer als die Wahrscheinlichkeit der Vermehrung der  weniger begünstigten Individuen. Die Sprache ist ein auf konventionellen Regeln beruhendes kollektives System der Kommunikation zwischen Individuen: Sie kann sich demzufolge nicht als Mutation an einem solcherart bevorteilten Individuum durchsetzen.

Die Sprache setzt sich gleichsam wie die Existenz des Lebens selbst voraus: Konventionen bei der Verwendung von Zeichen festzulegen ist ein Vorgang innerhalb der Sprache. Weil Sprache demzufolge nicht nur die syntaktische Reihung von Zeichen, sondern auch die mehr oder weniger vage, provisorische oder exakte Festlegung der Bedeutung von Zeichen voraussetzt, ist sie nicht mit tierischen Signalsystemen vergleichbar, die freilich auf der Basis darwinistischer Evolution erklärbar sind.

Kein Einzelorganismus könnte sich des Privilegs, sprechen zu können, erfreuen: Sprechen setzt eine Gemeinschaft der Sprechenden und also Sprachbegabten voraus. Mehr noch: Sprechen heißt Überzeugungen zu haben und sie mitzuteilen. Überzeugungen aber kannst nicht du als einzelnes Individuum haben und mitteilen. Überzeugungen zu haben ist nicht dasselbe wie natürliche oder künstliche Objekte mit den Sinnesorganen wahrzunehmen. Überzeugungen zu haben ist überhaupt keine Form der Wahrnehmung, sondern der Identifikation und prädikativen Bestimmung intentionaler Objekte. Was für die Sprache im Allgemeinen, gilt für Überzeugungen und intentionale Gegenstände im Besonderen: Sie sind Momente eines logisch-semantischen Raums von gemeinschaftlich aufeinander abgestimmter Meinungen. Falls du der Meinung bist, dass dort ein Einhorn stehe, musst du unterstellen, dass es andere gibt, die deine Meinung teilen – oder auch bestreiten können.

Weil die semantische Einheit der Sprache der Satz ist und Sätze bilden gleichzeitig und gleichsinnig damit ist, eine Überzeugung oder eine Annahme oder eine Meinung zu bilden, bist du mit der Sprache gleichsam auf einen Schlag in das logische Universum des Wahren und Falschen versetzt worden. Das Wahre ist keinesfalls das Wahrgenommene: Dieses gehört allerdings in den Erklärungshorizont, der von den darwinistischen Prinzipien der Erklärung von natürlicher Entwicklung ausgeschöpft wird. Das Wahre ist nicht das Wahrgenommene heißt: Du bist mit der Sprache frei oder die schöpferische Macht der Sprache zeigt sich darin, auch das Nicht-Wahre zum intentionalen Gegenstand deines Meinens machen zu können. So kannst du annehmen, es gebe Einhörner oder der Erdtrabant, den du jetzt siehst, sei nicht der Mond, sondern der andere namens Selene. Auch hier gilt: Falls du der Meinung bist, dass dort ein Einhorn stehe oder dort der Erdtrabant namens Selene aufgegangen sei, musst du unterstellen, dass es andere gibt, die deine Meinung teilen – oder auch bestreiten können.

Das Leben selbst kann nicht durch die darwinistischen Methoden der Erklärung von natürlicher Evolution erklärt werden: Die evolutiven Mechanismen von Mutation und Selektion greifen am existierenden lebenden Organismus an – sie setzen seine Existenz voraus. Diese Logik gilt mutatis mutandis auch für die Existenz der Sprache als syntaktisch-semantischen Systems der Konstruktion von Überzeugungen und der Äußerung von diversen Sprechhandlungen.

Die Sprache ist keine emergente Eigenschaft der Hirnentwicklung zu größerer intellektueller Kapazität. Die Entwicklung intelligenter Wahrnehmungs- und Orientierungssysteme kann nicht, wie allenthalben unterstellt, den Unterschied zwischen Mensch und Tier markieren: Tiere haben Wahrnehmungs- und Orientierungssysteme mit subtileren und feinkörnigeren Rastern als die menschlichen Wahrnehmungs- und Orientierungssysteme entwickelt. Die natürliche Evolution intelligenter Systeme verläuft ganz den darwinistischen Erklärungsprinzipien gemäß in Graden und quantitativen Abstufungen. Die Sprache aber ist keine neue Form der Intelligenz, sondern ein qualitativ neues System des Verstehens von Bedeutungen und des Teilens von Überzeugungen.

Die Wissenschaft und also auch die Evolutionsbiologie ist eine methodisch und erfahrungsmäßig kontrollierte Aktivität des Erwerbs von Wissen, die sich als menschliches Handlungssystem neben vielen anderen Handlungssystemen innerhalb des logisch-semantischen Raums oder Felds von Sprache und Bewusstsein abspielt und das begriffliche Netz von Überzeugungen mit seinen Knotenpunkten elementarer oder primitiver Wesensbegriffe wie Bedeutung, Intentionalität, Person, Identität, logischer Folgerungsbeziehung und von manchen anderen voraussetzt. Die Wissenschaft kann nicht erklären, was sie voraussetzt oder impliziert. Deshalb kann auch die Evolutionsbiologie nicht erklären, was sie voraussetzt und impliziert: zum Beispiel die Sprache.

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