Philosophische Fragen und Antworten IV
Warum ist das Ich, das Selbst oder Selbstbewusstsein keine Illusion? Was spricht dagegen, dass es eine bloße Fiktion oder Illusion sein könnte?
Illusionen sind beispielsweise Sinnestäuschungen: Du siehst aufgrund der unterschiedlichen Dichtegrade von Wasser und Luft den geraden Strohhalm so im Glas stecken, als wäre er geknickt. Fiktionen sind erdichtete Entitäten wie das Einhorn, denen wir Faktizität absprechen. Illusionen und Fiktionen sind wie alle Vorstellungen und Ideen mentale Inhalte, die derjenige hat, der sie eben hat – du oder ich. Weil Illusionen oder Fiktionen stets jemandes Illusionen oder Fiktionen sind, kann die Existenz desjenigen, der die Sinnestäuschung des geknickten Strohhalms hat oder die Fiktion des im Mythenland grasenden Einhorns für bare Münze nimmt, nicht selbst illusorisch oder fiktiv sein.
Wenn du in einer Welt lebtest, in der alles, was du erlebst, einschließlich der Wahrnehmung deiner eigenen Erlebnisse und dessen, der sie erlebt, Illusionen wären, wie wäre dann ein Unterschied zu dieser unserer Welt auszumachen, in der wir davon ausgehen, dass das Gegenteil der Fall ist, indem wir den Inhalt unserer Erlebnisse, einschließlich unserer Selbst-Wahrnehmung, als intentionale Gegenstände von Behauptungen ansehen, die wahr oder falsch sein können? Wenn du deinen Sätzen den intentionalen Charakter benimmst, fällt der Unterschied zwischen dem Gegenstand, auf den du deine Aussage beziehst, und der Wahrnehmung des Gegenstandes weg. Dann aber musst du konsequent den Weg ins Absurde weitergehen und mit der Einsicht klarkommen, dass, wenn alle Erlebnisse auf Illusionen beruhen und keines einen wirklichen Gegenstand betrifft, der Unterschied zwischen Illusion und Nicht-Illusion seinerseits zusammenbricht. Wo bist du da hingeraten?
Wenn alles durch die illusorische Brille eines illusorischen Ich angesehen würde, machte das nicht den geringsten Unterschied, alles bliebe so, wie es ist. Vergleiche diesen Fall mit der sprachskeptischen Annahme, die wirkliche Bedeutung unserer Wörter und Sätze bleibe uns verborgen, sei opak, es könne sein, dass alle Wörter eine andere Bedeutung haben als die, von der wir annehmen, dass sie sie haben. Na und, möchte man sagen, wen scherte es: Das machte keinen Unterschied, wir könnten die sprachliche Verständigung problemlos aufrechterhalten. Kurz und gut: Behauptungen, die zu den bestehenden als wahr anerkannten Aussagen hinzutreten, aber keine inferenziellen Verbindungen (logische Folgerungsbeziehungen) zu dem Korpus der bestehenden Aussagen unterhalten, können wir getrost wieder streichen.
Ein von niemandem empfundener Schmerz tut nicht weh.
Es gibt keine Schmerzen an sich. Schmerzen können nicht wie Wolken oder Treibgut gleichsam eigentumslos an uns vorüberziehen. Schmerzen haben eine interne oder notwendige Verbindung zu der Person, die sie empfindet. Dies gilt für alle Empfindungen, Wahrnehmungen, Gefühle, Wünsche, Absichten und Überzeugungen – also offensichtlich für alle mentalen Vorkommnisse, die einen intentionalen Gegenstand haben. Neuronale Netze und Maschinen, die sie simulieren, haben keine intentionalen Gegenstände, sie können die in ihnen ablaufenden Prozesse nicht verbalisieren und in Sätzen ausdrücken, die sie als Behauptungen mit dem Vorsatz „Ich glaube, ich meine, ich denke, dass p“ versehen. Sollte eine Maschine so programmiert sein, dass sie einen Bericht über ihre momentanen Prozess-Zustände ausgeben kann, werden diese nur den Teil p der vollständigen personenbezogenen Äußerung „Ich glaube, meine, denke, dass p“ enthalten, denn es gibt keine interne Relation zwischen einem maschinellen Ablauf und einem seiner selbst bewussten Zentrum einer Maschine.
Wir leben in einer Welt, in der unsere Erlebnisse in interner Relation zu denjenigen sich befinden, die diese Erlebnisse haben, zu uns. Ein Erlebnis, das nicht gleichsam auf einen Ich-Pol hin gravitiert, ist kein Erlebnis, sondern ein neutrales Geschehnis wie das Fallen des Apfels vom Baum, unter dem einst Newton saß. Wir können Sätze über Erlebnisse nicht umformen in Sätze über Geschehnisse und etwa sagen: Wie dort das Fallen eines Apfels vom Baum stattfindet, so hier das Schmerzen eines etwas.
Wenn du vorgibst, an deiner Existenz zu zweifeln, kannst du dir selbst als demjenigen, der zweifelt, nicht entkommen.
Wer vorgibt, an der Existenz des Ich radikal zu zweifeln, indes bei Tisch nicht sagt „Bitte, gib niemandem das Wasser!“, zweifelt nicht wirklich oder stellt durch die Praxis unter Beweis, dass radikale Zweifel dieser Art in Unsinn und Paradoxien münden.
Wenn du DEINE Überzeugung, dass alle ichbezogenen Überzeugungen (und es gibt keine anderen) und demnach auch die Überzeugung von der Existenz deines Ich falsch sind, muss auch die Überzeugung, dass alle ich-bezogenen Überzeugungen und die Überzeugung von der Nicht-Existenz des Ich falsch sein. Also ist das Gegenteil wahr, einschließlich der Überzeugung von der Existenz des Ich.
Du könntest sagen: „Das Leben ist ein Traum.“ Dann wäre auch diese Äußerung ein Teil deines Traums. Würdest du von jemandem – aber von wem? – gefragt, welchen Sinn der Satz „Das Leben ist ein Traum“ in deinem Traum habe, wüsstest du nichts weiter zu sagen, denn auch die Bedeutung dieses Satzes wäre eine erträumte Bedeutung. Der vollständig analysierte Satz aber hat die logische Form: Es gibt etwas, so dass dieses etwas die Eigenschaften hat, Inhalt eines Traumes zu sein. Trauminhalte indes definieren wir dergestalt, dass wir ihnen eo ipso die reale Existenz absprechen. Wir stoßen auf einen logischen Widerspruch, der den Satz als sinnlos erweist.
Wären die Sätze „Ich träume mein Leben“ und „Auch ich, der mein Leben träumt, bin ein Teil dieses Traumes“ wahr, implizierten sie, dass alle von dem Traum-Ich geäußerten Sätze wahr wären, denn wie könnte ein in einem Traum geäußerter Satz falsifiziert werden. Somit würde der Unterschied zwischen wahren und falschen Behauptungen hinfällig. Alle in diesem Kontext geäußerten Sätze würden sinnlos und also auch die Sätze „Ich träume mein Leben“ und „Auch ich, der mein Leben träumt, bin ein Teil dieses Traumes“.
Auch Folgendes bewegt sich auf dieser gedanklichen Linie: Wenn du behauptest: „Ich träume mein Leben“ und „Auch ich, der mein Leben träumt, bin ein Teil dieses Traumes“, wer könnte kommen und dir entgegenhalten: „Das Leben ist kein Traum“? Wenn die Möglichkeit der Negation eines Satzes a priori ausgeschlossen ist, ist auch die Position dieses Satzes zunichte, denn ein Unterschied zwischen wahren und falschen Sätzen könnte in absentia negationis nicht mehr ausgemacht werden. Sätze, die nicht verneint werden können, sind nur scheinbar Sätze. Also ist das Leben kein Traum, und derjenige, dem der Traum-Satz zugeschrieben wird, existiert wirklich.
Wer großspurig daherkommt mit der Behauptung, er zweifle an allem, muss mit der Nase darauf gestoßen werden, dass er bitte schön dann auch daran zu zweifeln beginnen möge, dass er an allem zweifle.
Diese reductio ad absurdum der radikalen Skepsis weist darauf hin, dass der Sprechakt des Zweifelns nicht kontextfrei geäußert werden kann: Zweifel zu äußern ist nur in einer bestimmten Handlungs- und Sprechumgebung sinnvoll: Du begegnest einem alten Bekannten, augenscheinlich kreideblass und fröstelnd, der von sich behauptet, er komme gerade von einem längeren Ferienaufenthalt auf den Malediven zurück. Du würdest dir rechtens sagen: „Das möchte ich bezweifeln, einer, der sich längere Zeit in einem Südseeparadies aufgehalten hat, sieht nicht so aus.“
Eine Behauptung in Zweifel zu ziehen, bedarf eines oder mehrerer Gründe. Grundlos den Zweifel immer weiter bis ins Bodenlose treiben zu wollen, gleicht dem entnervenden Warum-Fragen kleiner Kinder. Alles in einem Atemzug bezweifeln zu wollen, sogar die Existenz des Zweifelnden, ist das närrische Spiel von Leuten, die sich entweder wichtig machen oder verrückt spielen wollen oder verrückt sind.
Eine große Torheit besteht darin zu glauben, wir könnten die Bedeutung von Begriffen wie „Ich“, „Selbst“ oder „Bewusstsein“ erfassen oder erklären, indem wir die Vorgänge im Gehirn untersuchen und analysieren. Aber das mit den Begriffen „Ich“, „Selbst“ und „Bewusstsein“ Gemeinte sind keine Objekte in der Welt des physikalischen Raums, die der wissenschaftlichen Analyse zugänglich wären. Die genannten Begriffe sind Muster und Koordinaten im logisch-semantischen Raum, die sich selbst voraussetzen oder wichtige begriffliche Knotenpunkte im Gewebe unserer Überzeugungen darstellen. Es ist vertane Liebesmühe, das Gespenst des Ich im neuronalen Betrieb des Gehirns aufscheuchen zu wollen. Es ist eine andere Form eleganten Unsinns, nach dem Erweis der Nicht-Identifizierbarkeit des Ich oder des Bewusstseins mittels kausaler Analyse von neuronalen Prozessen im Gehirn zu erklären, die Annahme eines Ich sei niemandes Illusion, jemand zu sein.