Philosophieren XXXVIII
Wenn wir uns der Gepflogenheit eines mehr oder weniger anspruchsvollen Gespräches anbequemen, suchen wir uns frei, nach Laune oder Gusto den Gegenstand aus, der uns zum gefälligen Thema dienen soll – für eine mehr oder weniger kurze oder lange Weile. Du kannst auch sagen, der Gegenstand begegne uns unterwegs, auf unserem Spaziergang, bei unserem Einkaufsbummel: Er fällt uns auf, gerät in unseren Blickwinkel, drängt sich uns auf.
Die Institution oder die Konvention oder die Gewohnheit des Dialogs gibt uns die Spielregeln vor: Eine wichtige Regel schreibt dir vor, das mitzuteilen, was du selbst für wahr hältst, von dessen Existenz und der Existenz seiner von dir ihm zugesprochenen Eigenschaften du überzeugt bist. Die höhere Regel könnte vielleicht lauten: Führe deinen Partner nicht in die Irre, an der Nase herum, täusche ihn nicht – vorsätzlich nicht die Wahrheit zu sagen, also zu lügen, wäre ein Fall der Täuschung und Irreführung.
Du zeigst deiner Freundin das Haus, in dem du geboren wurdest und deine Kindheit und Jugend verbracht hast. An diesem Haus habt ihr einstweilen einen bedeutenden Gegenstand, der sich als ergiebiges Thema eures Gesprächs erweisen könnte. Du wirst bei den zu erwartenden Fragen und Nachfragen deiner Freundin den Teufel tun und dich vor ihr mit phantastischen Hochstapeleien über den angeblichen Reichtum oder die hohe soziale Stellung deines Vaters oder die mit Orden ausgezeichneten Ruhmestaten deines Großvaters spreizen. Sondern du bleibst hübsch bei der Wahrheit, denn die ruhmredigen oder geckenhaften Lügen würden dich deiner Freundin auf lange Sicht wie in einem Zerrspiegel präsentieren – du aber willst mit ihr nicht als karikaturhafte Scheinexistenz, sondern als waschechter Kerl zusammensein.
Das Haus deiner Eltern und Großeltern birgt der Geschichten und interessanten Tatsachen viele – doch wirst du deine Freundin nicht mit der Angabe der Anzahl der Fliesen im Hausflur überraschen noch sie mit der Tatsache traktieren wollen, dass die Simse der Fenster aus dem hierzulande stark abgebauten Basalt bestünden. Du sichtest und sondierst die Informationen nach dem Grad ihrer Wichtigkeit und Relevanz, den sie zur Befriedigung des Informationsbedürfnisses deines Gesprächsteilnehmers und zur angemessenen Fülle und Breite bei der Darlegung deines biographischen Hintergrundes mitbringen.
Du unterhältst dich also mit deiner Freundin über dein Elternhaus, indem du denkwürdige Geschichten, Anekdoten und Schnurren zum besten gibst, die mit diesem Gegenstand eures Gesprächs verbunden und verwoben sind. Ist es immer so, dass wir gesprächsweise uns über etwas unterreden? Einem etwas diese und jene Eigenschaft zusprechen? Und dass wir rechtens einem Gegenstand diese, aber nicht jene Eigenschaft zusprechen, wenn er in der Tat diese, aber nicht jene Eigenschaft hat? Und dass wir nicht das Wahre, sondern das Falsche sagen, wenn wir vorsätzlich oder irrtümlich dem Gegenstand jene, aber nicht diese Eigenschaft zusprechen, wo er doch in Wahrheit diese, aber nicht jene Eigenschaft hat?
Aber du kannst auch noch anders in die Irre gehen. Du kehrst mit deiner Freundin in deine Vaterstadt zurück, in der du so viele Jahre nicht gewesen bist. Ihr geht durch die Straße, an der dein Geburtshaus steht und die dir von Kindesbeinen an so vertraut ist, weil du auf ihr unzählige Male zur Schule oder in die Kirche gegangen bist. Du siehst die vertraute Straßenlaterne, die immer noch am rechten Platz steht, und weist auf das Haus neben ihr als auf dein Geburtshaus. Doch in Wahrheit ist dies nicht dein Geburtshaus, sondern das etwas unscheinbare Haus gleich daneben. In diesem Falle hast du nicht dem richtigen Gegenstand fälschlicherweise eine ihm nicht zustehende Eigenschaft zugesprochen, sondern den falschen Gegenstand erwischt – kurz, dich in der Identifizierung des Gegenstandes geirrt.
Was ist nun der Gegenstand, dessen wir bedürfen, um unser Gespräch ins Laufen zu bringen? Ist es das Haus oder ein Haus? Nein, es ist genau dieses und nur dieses eine Haus, auf das du deine Freundin mit der demonstrativen Geste des ausgestreckten Zeigefingers hinweist.
Was besagt aber der sprachliche Ausdruck „dieses Haus“? Er ist die abgekürzte Form des vollständigen Satzes „Dies ist ein Haus“, bei dem sich das Demonstrativpronomen „dies“ auf den eigentlich gemeinten Gegenstand bezieht, dem mit dem generellen Terminus „Haus“ die Eigenschaft zugesprochen wird, ein Haus zu sein. Wie sollte man aber mit einer bloßen Zeigegeste einen wohlbestimmten Gegenstand aus dem Wahrnehmungsfeld der Gegenstände herausgreifen können, ohne zu wissen, um welche Art von Gegenstand es sich dabei handelt? In der Tat, dies ist unmöglich, und deshalb können wir die Eigenschaft, ein Haus zu sein, so etwas wie eine notwendige Eigenschaft nennen, die der Gegenstand „Haus“ hat und ohne die er gleichsam seine Identität verlöre.
Hier werden uns die Form und die Struktur unserer Erfahrung deutlich, wie sie sich in der Dichotomie von Gegenstand und (Menge der) Eigenschaften oder der Einteilung von individuellem Terminus und generellem Terminus erschließen. Wäre dein Geburtshaus die bekannte Mühle am Waldrand und trüge den Namen „Die Mühle zur schönen Müllerin“, erfassten wir die allgemeine Form der Verknüpfung von individuellem und generellem Terminus in dem Satz, der einen Eigenname mit einer allgemeinen Eigenschaft verbindet: „Die Mühle zur schönen Müllerin ist ein Haus.“
Wir begegnen nun einmal auf Schritt und Tritt Gegenständen, die wir Körper nennen und mit unserer hauseigenen Sensorik oder technologisch fortgeschritteneren Instrumenten mit Raum-Zeit-Koordinaten versehen. Ja, wir selbst sind Körper dieser Art, wenn auch mit der merkwürdigen Eigenschaft des Bewusstseins und Selberwissens. Körper wiederum sind raumzeitliche Materialisierungen der Eigenschaften, die sie besitzen: Die genannte Mühle ist ein Haus bestimmter Größe mit Wänden, Böden, Decken, einem Keller, einem Dach, mit Türen, Fenstern, Zimmern, aus bestimmten Bausteinen und Baustoffen, mit einer mehr oder weniger ausgewogenen Statik. Die Eigenschaft, ein Haus zu sein, zerfällt demgemäß in wiederum nicht absehbare viele Eigenschaften, die wiederum wie die Eigenschaft „aus Holz“ oder „hölzern“, wenn es um die alten Decken des Hauses geht, in andere Eigenschaften wie „hart“, „organischen Ursprungs“ oder „brennbar“ zerfallen und so weiter ad infinitum.
Wir können uns natürlich den ganzen Wust und Ballast tausendfacher Eigenschaften und ihrer nicht zählbaren Verwirklichungen hienieden vom Halse schaffen, indem wir sagen: „Aller Erfahrung liegen die physikalische Struktur letzter Elemente genannt Quarks und ihre Zustandsänderungen gemäß den vier fundamentalen physikalischen Kräften zugrunde.“ Nur: Wir nehmen keine Quarks wahr, und von den Kräften indirekt etwa die Gravitation im Falle herunterfallender Tassen. Unsere Erfahrung stößt immer nur auf Gegenstände wie Häuser, Bäume, Hunde oder Menschen. Und unser Sinnen und Trachten, unser Reden und Tun dreht sich um nichts anderes als die Eigenschaften, die diese Gegenstände aufweisen.
Sollen wir nun sagen: Weil wir so geartet und gebaut sind, weil wir mit eben dieser Sensorik auf die Welt kommen, nehmen wir die Welt so wahr, wie wir es tun, wenn wir sie einer fundamentalen Dichotomie von Gegenständen und ihren Eigenschaften unterziehen? Oder sollen wir sagen: Weil wir mit dieser grammatischen Struktur unserer Sprache ausgestattet sind, ob wir sie nun ausgehend von ererbten Dispositionen erlernen oder ob sie uns per DNA gleichsam eingeschrieben ist, teilen wir die Welt mittels der Dichotomie von individuellen Termini und generellen Termini in Gegenstände und ihre Eigenschaften ein? Oder gehören Fragen dieser Art zu den Fragen, die man nicht stellen sollte, weil sie nicht zu beantworten sind? Aber wie könnte es denn Fragen geben, auf die es keine Antwort gäbe?
Oder gehe das Ding so an – sage dir: Der Handschuh liegt dicht um meine Hand an, weil meine Hand genau hineinpasst. Oder mach es umgekehrt und sage: Meine Hand passt genau in den Handschuh, weil der Handschuh dicht um meine Hand anliegt.
„Es regnet.“ Was ist jetzt wohl der Gegenstand und welche seiner Eigenschaften springt dir ins Auge?