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Philosophieren XXXVII

02.09.2013

Als käme am Ende alles zutage. Als würde sich der Horizont zuletzt noch lichten. Als lebten wir hier wie unter Schatten, aber am Ende zeigte sich uns das wahre Gesicht der Dinge. Als könnten wie jetzt bloß die Oberfläche der Dinge ertasten, dann aber streiften sie die verhüllende Haut ab und zeigten ihr echtes, unverfälschtes Wesen. Als wäre dies Leben ein Traum, das wahre Leben aber läge jenseits der Schwelle des endlichen Erwachens.

Nun kennen wir uns schon eine Weile. Und noch eine gute Weile braucht es, damit wir uns noch besser kennenlernen. Ist dies nicht der gewöhnliche Lauf der Dinge, dass wir mit der Zeit, in Windungen und Wendungen, mal ungehindert, mal über Stock und Stein, unser Wissen ansammeln, unsere Erfahrungen machen? Gewiss gehört dazu, eine scheinbare Erkenntnis, wie dass du aus Norddeutschland stammtest, wie ich deiner akzentfreien Aussprache wegen annahm, zu revidieren, nachdem wir zufällig im Gespräch auf Orte deiner wahren Herkunft aus dem Rheinland gekommen sind.

Freilich, jedes Ding hat zwei Seiten, oder vielmehr viele. Und gewiss, Fassaden können täuschen und blenden, doch wir lassen uns keinen Bären mehr aufbinden und schauen nicht nur auf die aufgehübschte Vorderseite, sondern inspizieren auch den verdreckten Hinterhof.

Wir müssen Zeit aufwenden und Geduld, um allmählich hinter die Dinge zu kommen. Es ist nicht damit getan, in einem Husch und Nu auf ein auffälliges Gesicht zu glotzen und wie die Kinder auszurufen: „Schau mal, ein Chinese!“

Wir treffen uns jetzt schon geraume Zeit und haben bereits etliche Einzelzüge unserer Art, zu reden und zu handeln, Einzelzüge unserer Art, auf Äußerungen und Situationen zu reagieren, also das, was man Charakterzüge nennt, kennengelernt. Du bist geduldig, wenn es darum geht, meinen langatmig dozierenden Ausführungen über Gott und die Welt anzuhören. Du bist von sanfter, nachgiebiger, aber dafür auch sehr empfindlicher Natur und reagierst leicht pikiert, wenn du den Eindruck hast, die dir gebührende Aufmerksamkeit würde dir auf ungeziemende Weise entzogen. Sicher muss ich darauf gefasst sein, in Situationen erhöhter Spannung oder Gefahr auf Züge deines Charakters und auf Verhaltensweisen zu stoßen, die bisher unter der Decke deines gewöhnlichen Benehmens verhüllt waren.

Aber sollte ich annehmen, dass du am Ende der Tage dir die Maske vom Gesicht reißen und dein wahres Gesicht zeigen wirst? Und wie sollte dies aussehen? Könnte es denn völlig verschieden sein von den mir bisher bekannten Zügen und Mienen der Aufmerksamkeit, der besorgten Teilnahme, des träumerischen Nachsinnens, der freundlicher Zuneigung und der lächelnder Beglückung?

Wir erwachen, schütteln den Schlaf von uns ab und knüpfen mehr oder weniger eben und gelenkig unseren alltäglichen Lebensfaden an der Stelle an, an der wir ihn gestern lose in den Schlaf haben gleiten lassen. Wir stillen unsere Bedürfnisse nach Reinlichkeit, Wärme, Nahrung. Die Tasse, die wir dummerweise haben fallen lassen, schwebt nicht an die Decke, sondern geht am Boden zu Bruch. Die Wolken ziehen hoch oben, das Gebirge blaut in der Ferne. Wir weichen dem Fahrradfahrer aus, denn wir vermeiden den Aufprall schwerer Gegenstände auf unser fragiles Leben. Einige Kollegen sind schon an ihren Arbeitsplätzen im Büro, du begrüßt den einen oder die andere und wünschst einen schönen Tag, und auch du fährst jetzt den PC hoch und checkst deine E-Mails.

Dass wir bedürftige Lebewesen sind, die ihr Leben auf den sozialen Zusammenhalt stützen, dass natürliche Gesetze unser Dasein determinieren und daher schwere Dinge zu Boden fallen oder uns bei einem Unfall gefährden, dass wir eine zeitlang hienieden weilen, dann aber nicht mehr – all das und noch viel mehr wissen wir, haben wir erfahren, haben wir uns gemerkt. Es ist ein metaphysischer Unsinn zu wähnen, dass all unsere Erfahrungen auf einer systematischen Täuschung und einem diabolischen Schwindel beruhten, der am Ende der Tage von einem apokalyptischen Ereignis beiseitegefegt werden würde.

Dies gilt auch im Kleinen: Die Sachen und Menschen und Ereignisse tragen keine Masken, die ihr Dasein zu dem von bloßen Phänomenen herabstufen würden, hinter denen sich ihr eigentliches Wesen verbürgte. Alles in allem genommen, nehmen wir die Dinge so wahr, wie sie sind. Und in allem ist die Zeit die große Lehrmeisterin. Denn Wahrnehmen, Lernen, Einsehen sind Prozesse, die von vielen Einzelzügen des Aufmerkens und Erinnerns, des erneuten Beobachtens und Revidierens begleitet werden.

Wie, das verborgene Wesen der Dinge besteht aus chemischen Elementen, aus Molekülen oder Quarks? Wie, das wahre Wesen von Wasser besteht nicht aus diesem trinkbaren Nass, sondern aus der Synthese der chemischen Elemente Wasserstoff und Sauerstoff? Wie, das wahre Wesen des Menschen besteht aus einem ungeheuer langen helixförmig verdrehten Doppelstrang, auf dem in systematischer Reihenfolge die Basen Adenin und Thymin oder Guanin und Cytosin angeordnet sind, mit denen das Programm des Aufbaus des menschlichen Organismus gesteuert wird? Wie, wenn wir mit unserer bescheidenen natürlichen Sensorik nicht in der Lage sind, ohne Hilfsmittel oder theoretische Annahmen chemische Elemente oder Moleküle oder Quarks oder Stücke der DNA zu identifizieren und aufzudecken, können wir das Wesen der Dinge nicht wahrnehmen, nehmen sie also nur als Oberflächenphänomene wahr?

Wie, wir kleinen Alltagsmenschen müssen uns mit den Phänomenen abspeisen lassen, während die Gelehrten, die Experten, die Wissenschaftler am Ding an sich werkeln, experimentieren und orakeln? Ist dieser Rüffel wider den Common Sense und die schlichte Wahrheit unseres Erlebens nicht vergleichbar der Pseudo-Folgerung, die manche aus der Tatsache des berechneten Termins des Untergangs der Erde und dieses Sonnensystems auf die Nichtigkeit und Eitelkeit all unseres Trachtens und Sinnens hienieden zu ziehen verleitet werden?

Wenn der Mond aus Käse wäre und das Innere der Dinge aus Rosinen oder Murmelsteinchen bestünde oder die Dinge bloße Windbeutel wären, geschnürt um ein Quentchen Vakuum – was machte dies für einen Unterschied? Gesetzt den Fall, die europäischen Lande wären seit der Renaissance nicht vom Glück gesegnet gewesen, die Blüte und die ungeheuren Erfolge der Naturwissenschaften zu erleben, wären wir dann darum zu bedauern, dass uns der Einblick in das Wesen der Dinge versagt geblieben wäre?

Müssen wir zu guter Letzt verstummen oder eine neue Lingua Scientiae erlernen, in der wir endlich die Dinge bei ihrem wissenschaftlich erklärten und abgeleiteten, also richtigen Namen nennen dürfen? Und müssen wir uns, weil die Wissenschaftlicher im naturalen Background unserer Absichten und Überzeugungen nicht fündig werden, einander mit Schweigen abspeisen? Muss ich deine Handbewegung, mit der du mir das geliehene Geld überreichst, als neuromechanisch generierten Akt hinnehmen, als einen Akt, der rein gar nichts bedeutet, weder das Einlösen deines Versprechens, mir das Geld heute zurückzugeben, noch als absichtsvolle Handlung, von der du voraussetzen kannst, dass ich das mit ihr Gemeinte verstehe?

Um zu verstehen, was du mit deiner Geste sagen willst, muss ich dir die Absicht unterstellen, dein Versprechen einzulösen und mir das geliehene Geld zurückzugeben. Du bist der Überzeugung, dass du dein Versprechen einlöst, wenn du mir das Geld zurückgibst. Um dich und deine Handlungsweise zu verstehen, muss ich dir beides, deine korrekte Absicht und deine wahre Überzeugung, unterstellen. Denn deine Überzeugung, dass du mit dieser Handlung jene Absicht verwirklichst, ist wahr.

Die Möglichkeit der Wahrheit oder Falschheit unserer Meinungen und Überzeugungen sowie die Möglichkeit von Erfolg oder Misserfolg bei der Verwirklichung unserer Absichten bilden das Rahmenwerk unserer alltäglichen Situationen gemeinsamen Redens und Handelns. Dieses Rahmenwerk besteht unabhängig davon, ob der Mond aus Käse oder unsere DNA aus Basen besteht. Innerhalb dieses Rahmens oder im Rahmen unseres alltäglichen Lebens erkennst du in hinreichenden Ausmaß meine Absichten, zu reden und zu handeln, unterstellst du mir rechtens die Wahrheit meiner alltäglich-trivialen Überzeugungen und nimmst du alles in allem die Dinge so wahr, wie sie sind.

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