Philosophieren XXXVI
Da kannst sagen: „Gib mir bitte die Handschuhe wieder, sie gehören mir – es sind meine Handschuhe!“ Immerhin, Handschuhe, die dir gehören, könnten auch mir gehören – das ist der Sinn unseres Gebrauchs der Possessivpronomina. Es ist ja leicht vorstellbar, dass diese Sache mir und nicht dir oder dir und nicht mir gehört. Hier gilt die Regel: Das Gegenteil ist genauso gut möglich. Und es ist ein Kinderspiel, sich den gegenteiligen Fall vorzustellen oder auszumalen.
Behielte indes das Possessivpronomen seine Bedeutung und wäre die genannte Regel auch in einer Äußerung gültig wie: „Bitte gib mir die Hände zurück, sie gehören mir – es sind meine Hände!“?
Wir wissen keine alltägliche Anwendung für den Satz und kennen Sätze so bizarrer Art ausschließlich aus dem psychiatrischen Umfeld, wo wir in der Tat Patienten mit extrem gestörter Selbstwahrnehmung des eigenen Körpers begegnen können.
Handschuhe gibt es eine Menge, es sind Gebrauchsgüter, die nach einem Fertigungsschema en masse hergestellt werden. An einem kalten Wintertag, an dem wir uns im Café getroffen haben, könntest du deine Handschuhe mit den meinen – wir tragen ja dieselbe Sorte mit derselben Farbe und Größe – vertauschen, und am Ende merktest du es nicht einmal. Warum klingt es so bizarr und scheint reiner Unsinn, anzunehmen, wir könnten Teile unserer Körper oder unsere Körper mit Stumpf und Stiel vertauschen?
Ich wäre verrückt, sagen zu wollen: „Ich treffe deinen Körper am gewohnten Ort zur gewohnten Zeit“, auch wenn es sinnvoll und gar nicht dumm wäre, wenn der Kommissar sagte: „Der schwere Körper des Opfers hätte niemals in den Kofferraum des Kleinwagens gepasst.“ Gewiss werde ich dich treffen, und da du eine ganz und gar verkörperte Person bist, werde ich dir in die Augen schauen, deine Hand drücken und mich wundern, welchen flotten Gang du draufhast. Im Gegensatz zur Massenware Handschuh, bei dem ein Muster oder Schema beliebig oft und in vielfältigen Variationen verkörpert wird, ist die Verschmelzung deiner Person mit deinem Körper singulär – soweit es dich betrifft, hat dein Körper weder Muster noch Schema, was immer Evolutionsbiologen und Mediziner sagen mögen.
Jene Handschuhe könnten auch meine Handschuhe sein, wenn sie nicht die deinen wären. Aber deine Hände? – Deine Handschuhe gehören nicht so unabtrennbar zu deiner Existenz wie deine Hände, auch wenn sie dir noch so fest angewachsen wären.
Wenn wir aber in der Lage sein werden, deinen Körper Maß für Maß bis ins biochemische, zelluläre und neuronale Detail künstlich zu erschaffen und diesem Homo novus Leben einzuhauchen – würdest du dir dann in die eigenen Augen schauen, wenn du in seine Augen schautest? – Nichts unterschiede diesen Fall von dem eineiiger Zwillinge, die sich jeder für sich des eigenen Seins und Körpers, nicht aber des Seins und Körpers ihres Zwillings bewusst sind.
Der Mechaniker hat bei einem schweren Unfall eine Hand verloren. Er trägt nun zwar eine Prothese, mit der er zur Not eine Türe oder Schublade öffnen oder sich an einem Griff festhalten kann. Er kann aber keine verwickelte Schlaufe am Schuh binden, den Druck deiner Hand kann er nicht als Liebkosung, neckisches Zwicken oder freches Zwacken deuten. Wir sagen korrekt: „Du fühltest die kühle Seide mit der Hand, mit deiner Hand vermochtest du blind die Kontur ihres Gesichts zu ertasten“ und nicht unkorrekt: „Deine Hand fühlte, deine Hand ertastete …“ – Ist die Hand etwa eine Art Werkzeug oder Instrument, mit dem du etwas fühlst oder ertastest? Der Arzt setzt ja zuweilen seine Hände in der Weise ein, dass er Organe des Patienten abtastet. Große Gelehrsamkeit hat das menschliche Handeln vom Werkzeugcharakter und der Organologie der Hand ableiten wollen.
Du siehst ja auch mit den Augen und mehr noch bist du, wie du siehst und dreinschaust, und du siehst und schaust drein, wie du bist und dich befindest. Wenn du starrst, bist du dumpf und starr, packt dich Neu- und Wissbegierde, schärfst du den Blick, überkommt dich das wohlige Gefühl universaler Wurstigkeit, lässt du die Augen schweifen und es gehen, wie es will. – Du kannst die Augen und die Hände wie Werkzeuge brauchen, und der Artist und der Schlangenmensch machen von ihrem ganzen Körper einen Werkzeuggebrauch. Aber abgeschminkt und ohne Schlangenhaut schlagen sie sich wie du und ich mit der flachen Hand vor die Stirn, wenn sie Mist gebaut haben.
Wie steht es aber um deine Gedanken, Empfindungen, Gefühle, Erinnerungen? Könnten sie auch meine Gedanken, Empfindungen, Gefühle, Erinnerungen sein und dies in demselben Sinn und demselben Maß an Erlebnisdichte und -intensität, wie sie die deinen sind?
Du hast deine Handschuhe bei mir liegen lassen, du hast sogar vergessen, dass du sie bei mir hast liegen lassen. Aber deine Hände – hätte es in irgendeinem Zusammenhang Sinn, etwa zu sagen, du hättest sie vergessen? – Freilich denken wir nicht an die Bewegungen unserer Beine, wenn wir eine gute Strecke gewandert oder mit dem Rad gefahren sind – anders, wenn wir stolpern oder uns eine Wespe sticht. Indes können die Bewegungen unserer Beine noch so sehr aus dem Fokus unserer Aufmerksamkeit geraten sein, es käme uns merkwürdig vor oder jedenfalls ungern und ungerade über die Lippen, wenn wir sagten, wir hätten unsere Beine vergessen oder wir erinnerten uns nicht an unsere Beine. Wann sagst du denn, du habest kein Gefühl mehr für deine Beine? Wenn sie vor Blutleere wie abgestorben sind – aber dann fühlst du eben dies.
Sicher, du kannst mir deine Gedanken, Empfindungen, Gefühle und Erinnerungen mitteilen, und ich verstehe deine Mitteilungen und teile deine Gedanken und Gefühle, erwecke in mir ganz ähnliche Empfindungen und versetze mich in deine Lage, an die du dich erinnert hast. Aber werden mittels der Mitteilung und sprachlichen Verlautbarung deine Gedanken, Empfindungen, Gefühle und Erinnerungen die meinen? Der Gedanke, den du mir mitteilst, verwandelt sich prompt in meinen Gedanken, du berichtest mir von dem süßen Geschmack der Erdbeeren, und ich stehe nicht an, diese angenehme Empfindung nachzuvollziehen: mit meiner Empfindung oder meiner Erinnerung einer Empfindung.
Eine Erinnerung kann verblassen und dir ganz aus dem Gesichtskreis entschwinden: Du hast sie vergessen. Ist dies so wie mit den Handschuhen, die du bei mir liegen lassen hast? Wie machst du es denn, wenn du sie vermisst und nach ihnen suchst? Du rufst mich beispielsweise an und fragst mich, ob ich wohl deine Handschuhe gefunden habe. Wie machst du es mit der Erinnerung, wenn dir dämmert, dass da etwas war, dessen du eingedenk sein solltest? Hier gibt es keine Auskunftei und keinen Ort, von dem du vermutest, an ihm lohne sich die Suche. Vielmehr sinnst du nach, kommst vielleicht auf ein merkwürdiges Detail, und plötzlich taucht das Vergessene wieder auf, mit all seine Farben und Gesichtern – verlorene Gegenstände pflegen dies nicht zu tun.
Ist eine Welt vorstellbar, in der du und ich, in der wir uns einen Körper teilten? – Wäre dies der Fall, hätten du und ich beispielsweise zur selben Zeit am selben Ort in demselben Gesichtsfeld dieselbe Rotempfindung. Aber das hieße doch, dass du und ich ein und dieselbe Person wären. Also ist die Verschmelzung deiner Person mit deinem Körper und meiner Person mit meinem Körper jeweils singulär. Diese Singularität hat nicht den Wert und das Gewicht einer Tatsache, sondern einer begrifflichen Grenze: Wenn wir uns eine Sache vorstellen wollen, deren Negation nicht denkbar ist, wie dass dein Körper nicht mein Körper sein „kann“, wird nicht unser Vorstellungsvermögen überstrapaziert, sondern wir schlagen mit dem Kopf an die Wand, die das Denkbare vom Undenkbaren, das Sinnvolle vom Unsinnigen scheidet.
Wenn deine Handschuhe nicht auch meine Handschuhe sein könnten, wären sie dann im eigentlichen Sinne „deine Handschuhe“? – Deine Handschuhe wären in gewisser Weise so mit dir oder deinen Händen verwachsen, dass es nicht vorstellbar wäre, sie nicht an deinen, sondern an meinen Händen wahrnehmen zu können. Doch echte, nicht angewachsene, sondern ausziehbare Handschuhe kannst du verleihen, verlieren, verkaufen. Dann sind es deine Handschuhe oder waren deine Handschuhe. Mit deinen Händen kommen wir da in Teufels Küche und stolpern atemlos über die Grenze sinnvollen Denkens mit der fatalen Auskunft, dass deine Hände im eigentlichen Sinne deine Hände nicht sind.
Dein Nachbar hat es wahr gemacht und ist nach Australien ausgewandert. Er hat dir sein Haus übereignet und jetzt wohnst du dort. – Warum ist eine Welt nicht vorstellbar, in der du deinen Körper verlässt und einem anderen zur gefälligen Heimstatt übereignest, jemandem, der selbst von seiner armen Seele verlassen worden ist? Nicht aus Mangel an Vorstellungskraft, sondern weil die Bedeutung solch kernig-alltäglicher, gesund-gewöhnlicher Begriffe wie du und ich und dein und mein hier jedes Gewicht verlören und gleichsam zu Staub zerfielen.
Es ist also eigentlich Unsinn, von meinem Körper oder deinem Körper zu reden? – Ja, eigentlich ist es Unsinn!