Philosophieren XXXV
Wir sind als der Akte unseres Lebens bewusste Aktoren in die Verantwortung für die gemeinsamen Situationen unseres Redens und Handelns gestellt. Wenn du mich nach dem Wege fragst oder nach meiner Meinung über deine Berufswahl, bin ich nicht nur gehalten, deiner Erwartung auf eine Antwort zu entsprechen, sondern darüber hinaus, deine Erwartung mit einer ehrlichen und wahren Antwort zu erfüllen. Was wir Ethos oder Moral nennen, erweist sich als ein implizierter Teil der von unseren Handlungen im Reden und Tun aufgebauten Institutionen.
Auch wenn ich wegen einer deiner üblichen aversiven Anwandlungen heute nicht so gut auf dich zu sprechen bin, du mich aber in einer dir wichtigen Angelegenheit um meine Meinung und meinen Rat fragst, bin ich aufgefordert, die Hürde meiner Missstimmung zu überspringen oder das Haar der Ranküne in der Suppe zu übersehen und dir frank und frei und klipp und klar Rede und Antwort zu stehen. Moralische Unreife nennen wir die Schwäche des Charakters, aufgrund derer ich meinem kindlichen Drang nach Vergeltung, Herabsetzung oder aber ungerechter Bevorzugung Vorrang vor dem Anspruch der Vernunft auf die Wahrung der Reziprozität der beiderseitigen Erwartungen und somit auf die Erfüllung deines Anspruchs auf Antwort geben würde.
Die Ansprüche der Teilnehmer an der Situation des Redens und Tuns erwachsen aus dem institutionellen Charakter oder dem vernünftigen Anteil der jeweiligen Institution. Wenn die Teilnehmer weiterhin ihre Ansprüche geltend machen und befriedigt sehen wollen, sind sie genötigt, die Existenz der Institution zu bejahen und fortlaufend zu bestätigen, widrigenfalls sie Gefahr laufen, das kleinere oder größere Dach der Vernunft zum Einsturz zu bringen.
Du hast mir versprochen, das dir geliehene Geld an dem und dem Termin auf Heller und Pfennig zurückzuzahlen. Du tust dies, auch wenn es dir schwerfällt und du dir vergnüglichere Alternativen genug vor Augen rücken magst, wie du die Summe verjubeln könntest. Natürlich ist dir klar, dass du von mir keinen weiteren Kredit mehr erhieltest, solltest du dein Versprechen der pünktlichen Rückzahlung nicht halten. Aber nicht aus einem solchen sogenannten utilitaristischen Grund entziehst du dich der Pflichterfüllung nicht, sondern weil das Versprechen als solches genügend institutionellen Druck auf dein schwaches und verführbares Gemüt ausübt, so dass es dir unangenehm wäre, ihm nicht nachzugeben. Der Volksmund heißt dies schlechtes Gewissen und er tut gut daran.
Wenn die Vorstellung dich anfliegt, dich selbst nicht mehr gerne im Spiegel sehen zu wollen, und du ein schlechtes Selbstgefühl oder ein schlechtes Gewissen bei dem Gedanken empfindest, eine Zusage verworfen, ein Treuegelöbnis missachtet, ein Versprechen gebrochen zu haben, bist du ein halbwegs anständiger Mensch oder auf dem besten Wege, ein solcher zu werden.
Auch als Teilnehmer der gemeinsamen Situation des Redens und Handelns, ob als Teilhaber eines Liebesbunds, als Freund, als Kollege, als Vereinsmitglied oder als Staatsbürger, bleibst du unter dem ethisch-institutionellen Druck oder dem Dach der Vernunft der Einzelne, dem bei aller Nähe des Gegenübers ein Gran Fremdheit Zögern oder leise Traurigkeit einflößt oder ein lichter Schatten irisierende Flecken auf die helle Wand der Gegenwart werfen mag.
Wie innig, treuherzig, intensiv auch immer du den Geliebten küsst, den Freund umarmst, dem Kollegen und Vereinskameraden die Hand reichst und dem Staat als Soldat dienen magst: Immer musst du die Spannung einer gewissen mehr oder weniger großen Distanz anerkennen und mit deinem Fühlen und Verlangen nach größerer Nähe oder tieferer Vereinigung zum Ausgleich bringen. Gewiss hat die leidenschaftliche Liebe die tiefsten und innigsten Momente der Nähe und Vereinigung bis zur erotischen Verzückung bereit. Wärme und brüderliches Mitfühlen gibt dir der Freund, der Kamerad Schutz und Stütze, der Verein gehegte und gepflegte Muße bis zur Langeweile. Der Staat ist die emotional fernste Institution, die im Extremfall dir aber mit der Verpflichtung zum Einsatz von Gut und Leben am empfindlichsten auf den Leib rücken kann.
Jenen Grad der Nähe oder Vereinigung, den wir mystisch oder ekstatisch nennen und in dem du für selige Momente das Bewusstsein der Vereinzelung oder das Bewusstsein, der allen Dingen gegenüberstehende Einzelne zu sein, verlierst, erlangst du nicht unter dem Dach der Vernunft oder unter dem ethisch-institutionellen Druck der mit anderen geteilten Situation des Redens und Tuns. Hier berühren wir die Grenze, die verantwortlichem Reden aus Vernunft gezogen ist, und können uns daher nur in wenigen Andeutungen ergehen.
Die mystische Vereinigung geschieht dir jenseits der Vernunft aus Gnade des Heilands, der sich selbst dargereicht und hingegeben hat zur Einheit mit den Erwählten seiner Kirche. Die Kirche ist als Institution dem Ethos der Vernunft verpflichtet, indes zeigt die hohe Kuppelwölbung ihres Daches statt des Schlusssteins eine runde Öffnung: Durch sie strömt, was Licht der Liebe heißt und die Finsternis der Welt und unserer Herzen durchdringt. Das Licht der Welt wird dir zur innigsten mystischen Vereinigung in der Gestalt des geweihten Altarsakramentes dargereicht. Die Kommunion wird geglaubt als reale Übersteigung der Einzelheit des Bewusstseins in der Gegenwart liebender Umfassung durch die Gemeinde und doch gleichsam als ein Vorgeschmack der endgültigen Vereinigung mit dem ewigen Licht und den himmlischen Mächten, die von den bösen Überraschungen und Intermezzi unseres alltäglichen Lebens mit all seinen Mühen, seiner Langeweile, seiner Grausamkeit oder Tollheit nicht mehr unterbrochen werden soll.
Diese Überwindung der Einzelheit des Bewusstseins gleichsam durch ihre Öffnung ins obere Licht im Glauben wird notwendig konterkariert durch die dämonische Auslöschung der Einzelheit des selbstbewussten, verantwortlichen Lebens in der schwarzen Mystik gewaltsam-totalitärer Verschmelzung – von der uns, bezeugt von allzu reichlichen pikanten, degoutanten und erschreckenden Belegen und Dokumenten, satanische Praktiken eine religiös-sexuell pervertierte Version und kollektive Verschmelzungsszenarien und Unterwerfungsorgien eine politisch pervertierte Version geben.