Philosophieren XXXI
Du glaubst, den Schlägersänger heute Mittag wiedererkannt zu haben, den du vor drei Wochen in der Fernsehshow hast auftreten sehen. Du bist dir sicher, jener Typ, den du heute auf der Straße gesehen hast, muss derselbe sein, an den du dich gut erinnern kannst. Hast du etwa, um diese Behauptung aufstellen zu können, das aktuelle Bild, das du auf der Straße von dem Mann aufgeschnappt hast, mit dem älteren Bild, das in deinem Gedächtnis gespeichert ist, verglichen und Punkt für Punkt abgeglichen oder wie eine Skizze auf Transparentpapier das aktuelle Bild über das bestehende Bild gelegt, um dich der Übereinstimmung oder Nicht-Übereinstimmung beider versichern zu können?
Du kannst den wiedergesehenen Schlagersänger im strengen Sinne nur dann als denselben wie den Mann auf deinem Erinnerungsbild ansprechen, wenn die Identität der beiden Bilder vollständig wäre und Detail mit Detail von der Anzahl und Lage der Kopfhaare bis zur Feinstruktur der Augenfältchen kongruierte. Du wirst demgemäß immer wieder ein Fehlersignal von deiner Gedächtnisfunktion erhalten, wenn du gleichgültig welches aktuelle Sehbild mit einem älteren im Gedächtnis abgespeicherten desselben Gegenstandes vergleichst, um die Identität der abgebildeten Bildinformationen zu ermitteln. Körperliche Entitäten bewegen sich durch die Raum-Zeit und sind vielen Faktoren der Beeinflussung und Veränderung interner Natur wie dem Altern oder Krankheitsprozessen und externer Natur wie den Folgen von Haarfärbeaktionen und anderen kosmetischen Eingriffen oder Unfällen ausgesetzt.
Wir müssen also bei der Anwendung des Adjektivs für die Identität auf einen Gegenstand der Raum-Zeit etwas anderes im Sinne haben als bei der Anwendung des Identitätsbegriffs auf abstrakte Entitäten wie Zahlen, Buchstaben oder artikulierte Sprachlaute. Egal welche Sauklaue dem geplagten Deutschlehrer bei der Lektüre der Hausaufgaben vor Augen flirrt, ihm wird auch bei schlechter Lesbarkeit der Unterschied der Buchstaben m und l nicht entgehen. Ebenso wenig, dass Schüler Klaus den Buchstaben g nur so hingeschmiert hat, während Schülerin Claudia denselben Buchstaben in Schönschrift hingemalt hat. Wir sagen, der Lehrer erkennt und identifiziert den Typus (Type) des Buchstabens g am Token seiner konkreten Realisierung.
Der Japaner gibt sich viel Mühe, seinen Vortrag über japanisches Recht auf Deutsch vom Blatt abzulesen. Auch wenn du dich zunächst daran gewöhnen musst, dass in seinem Artikulationsspektrum uns unentbehrlich dünkende Laute wie r nicht vorkommen, kannst du den Mangel bald kompensieren und dem Geäußerten einen gewissen Sinn abgewinnen. Dasselbe gilt im Falle des neuen Nachbarn, dem du nicht unhöflich kommen solltest, nur weil er erheblich nuschelt: Gib dir Mühe und du verstehst ihn. Auch in diesen Fällen bist du in der Lage, den gemeinten Lauttypus gleichsam hinter seiner aktuellen Realisierung durch den Sprecher, das heißt dem Token der aktuellen Lautbildung, einigermaßen zu identifizieren, obwohl diese ihn mit einer Menge Geräusch oder akustischer Fehlinformation verschmutzt.
Klein Hänschen krakelt sein 1 mal 1 mit Buntstift aufs Blatt, der Mathematikstudent bedient sich des neuesten digitalen Taschenrechners mit leichter Hand, während er gleichzeitig der Vorlesung lauscht. Trotz der ziemlich unterschiedlichen Form und Art der Realisierung, handelt es sich im Prinzip in beiden Fällen um das Vorkommen derselben natürlichen Zahlen: Einige Typen der natürlichen Zahlen werden hier so und dort anders realisiert. Heißt dass, die Zahlen an sich schauen als erdentrückte Wesen aus einem reinen Himmel geistiger Wesenheiten auf uns herab, während wir uns bemühen, ihrer abstrakten Natur durch immer präzisere Verfahren der Abbildung gerecht zu werden? Keineswegs. Denn es gibt kein abstraktes Wesen der Zahl, genauso wenig wie abstrakte oder ideale Sprachlaute, die zu realisieren wir als hehres Ideal eigentlich anstreben müssten, um uns endlich ohne sinnbedrohenden Geräuschanteil ausdrücken zu können. Versuche einmal, einen deutschen Satz mittels Verlautbarung reiner Lauttypen zu bilden! Da versagt dir die Stimme.
Es genügt für unseren Hausgebrauch anzunehmen, dass wir das abstrakte Wesen oder den Typus der Zahl auch mit mehr Bodenhaftung erreichen, wenn wir sagen: Wir nehmen immer wieder dieselben Verfahren des Zählens und Rechnens mit Entitäten vor, die wir Zahlen nennen. Dabei ist es gleichgültig, wie wir uns Zahlen vorstellen oder realisieren, ob mit römischen oder arabischen Ziffern, mit den digitalen Elementen 1 und 0 oder mit grafischen Formen wie einem Punkt und einer Klammer. Du sagst „1“ und meinst damit: „Ich habe jetzt 1 gezählt“ oder „Ich habe jetzt die Grundeinheit unseres Zählens und Rechnens einmal genannt, präsentiert, gezählt“. Wenn ich aufzähle „1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9“, könntest du sagen, ich habe die Reihe der natürlichen Zahlen in aufsteigender Größenordnung hergezählt, die ich durch folgendes Verfahren konstruiere: Ich nehme die Grundeinheit und füge ihr eine weitere Einheit hinzu, mit der so gebildeten Zahl 2 mache ich DASSELBE usw.
Was für Zahlen, Buchstaben und Sprachlaute gilt, dass wir ihren Typus jeweils mehr oder weniger gut mittels eines Token verwirklichen, gilt nicht bei den Gegenständen der Raum-Zeit oder den Körpern. Über dir schwebt kein Idealbild deiner Person in einem Himmel idealer Gegenstände wie Bäume, Enten oder Kaffeetassen, an denen wir die realen Gegenstände des Alltags in ihrem Sosein allererst bestimmen und identifizieren könnten. Wir sind uns neulich begegnet und du hast mich gleich wiedererkannt, obwohl doch einige Jahre seit unserem letzten Treffen vergangen sind. Du hast nicht etwa verdutzt dreingeschaut und zu dir gesagt: „Also mit diesen grauen Haaren und den Falten um die Augen entspricht er zwar nicht dem Idealbild, das ich von ihm hatte, als wir damals so lebhafte Diskussionen geführt hatten, und dennoch ist er derselbe Kerl.“ Das wäre seltsam und lächerlich!
Wir können die Identität von materiellen Körpern, die sich vom Zeitpunkt ihrer natürlichen Entstehung und ihrer Herstellung oder ihrer Erzeugung und Geburt bis zum Zeitpunkt ihrer Vernichtung, ihrer Zerstörung oder ihres Todes in der Raum-Zeit von A nach B fortbewegen, und damit die Semantik des Gebrauchs von „derselbe“ empirisch festlegen. Und weil alle Personen wie du und ich verkörpert sind, damit auch die Bedeutung des Ausdrucks festlegen „dieselbe Person hier und jetzt, die ich vor ein paar Wochen an jenem Ort gesehen habe“. Damit kommen wir Sinn und Zweck dessen auf die Spur, was wir tun, wenn wir das Adjektiv „derselbe“ auf diesen hier befindlichen augenblicklich wahrgenommenen Gegenstand anwenden, den wir dort zu jenem Zeitpunkt wahrgenommen hatten.
Um die Identitätsvoraussetzungen von Körpern und Personen bei ihrem Weg durch die Raum-Zeit zu klären und festzulegen, verwenden wir das kartesische Koordinatensystem mit den drei Raumachsen x, y, z und ergänzen es um die zusätzliche Dimension t, die wir mittels eines jeweiligen Vektors an dem Punkt darstellen, der unseren Gegenstand in der Raum-Zeit repräsentiert: Wir verfolgen so, wie der Gegenstand von den Koordinaten 2-4-4 zu den Koordinaten 4-8-8 seines neuen Standortes wechselt. Wir setzen dabei voraus, dass der Positionswechsel durch Anlegen des determinierenden Vektors zustande kam. Dabei sollte uns der Gegenstand nicht entwischen, auch wenn wir in diesem Falle mittels diskreter Einzelschritte und Schrittfolgen gleichsam kleine Zeitsprünge machen müssen. Mit der Anwendung von Integral- und Differentialfunktionen, die uns die kontinuierliche Abfolge in der Zeit darstellbar machen, können wir das Manko ausbügeln.
Eine technische Methode oder vielmehr ein technisches Modell, das uns die Möglichkeit der empirischen Festlegung der Bedeutung von „derselbe“ bei der Anwendung auf Körper und Personen vor Augen rückt, bestünde in ihrer jeweiligen Ausstattung mit einem kleinen Sender, der uns zu jedem Zeitpunkt und für jeden Aufenthaltsort die GPS-Daten und damit das vollständige Kontinuum seiner Bewegungen von seinem ersten erfreulichen Weltauftritt bis zu seiner mehr oder weniger starren Endstation beziehungsweise seinem letzten Seufzer und seiner eher unerfreulichen Endstation übermittelt.
Unsere Überlegungen kommen zu dem Ergebnis, dass und weshalb die Veränderungen der materiellen Beschaffenheit des Körpers und der Person aufgrund interner oder externer Einflüsse und Ursachen wie Altern und Krankheitsprozessen oder kosmetischer Eingriffe und Unfällen für die korrekte Anwendung des Begriffs „derselbe“ keinerlei Relevanz haben: Auch der zerbrochene Teller ist derselbe wie der gerade noch ganze Teller und der tote Hund ist derselbe, der dich vielleicht eben noch umschwänzelt hat.
Du kannst dir also auf der Grundlage alltags- und tagestauglicher Methoden niemals vollständig sicher sein, dass jener Typ, den du vor drei Wochen in der Fernsehshow als Schlagersänger hast auftreten sehen, derselbe ist wie der, den du heute Mittag auf der Straße gesehen zu haben glaubst. Sicherheit und Gewissheit erlangtest du nur, wenn du die eben besprochenen Bedingungen zur empirischen Festlegung und Bestimmung der Identität von Körpern und Personen auf diesen Fall hättest anwenden und auf diese Weise das Kontinuum der Bewegungen des Schlagersängers durch Raum und Zeit hättest abbilden können, angefangen von seinem Verlassen der Bühne des Fernsehsenders vor drei Wochen bis zum Augenblick heute Mittag, als du ihn wiederzuerkennen glaubtest. Aber das ist im normalen Falle nicht möglich! So sind wir also darauf abgestellt und darauf verwiesen, unserem anfälligen Gedächtnis, unseren verwackelten Wahrnehmungen und schlichten Intuitionen zu vertrauen – und meisten ist es ja noch mal gut gegangen!
Den strengen und harten Sinn von Identität in den weichen Übergängen unseres alltäglichen Sehens und Handelns zu befolgen, übersteigt unsere normalsterblichen Fähigkeiten. Begnügen wir uns mit dem unsicheren Begriff der Analogie und lassen wir uns durch die Tatsache nicht ins Bockshorn jagen und beunruhigen, dass wir immer wieder liebend gerne ähnliche Körper und Personen sehen und vergleichen, ja so verflixt ähnliche, dass wir sie gerne als dieselben behandeln und begrüßen.