Philosophieren XXIX
Du hast gesehen, wie soziale Beziehungen auf der horizontalen Achse gemäß der Steigerung der Adverbien nahe und fern vermessen und gewichtet werden können: Deine Freundin liegt dir sehr am Herzen und steht dir sehr nahe, deine Kollegen stehen dir weniger nahe, aber auch nicht so fern wie der zufällige Sitznachbar im Bus. Du hast ebenso erfasst, dass alle Größen oder Vektoren auf der horizontalen Achse der sozialen Beziehungen direkt proportional zu den Größen oder Vektoren auf der vertikalen Achse der Machtpositionen und der Überlegenheits- und Unterlegenheitsgefühle schrumpfen oder wachsen: Wenn dein Verdacht sich erhärtet, dass deine Freundin intimen Umgang mit anderen Männern pflegt, steigt ihre Position auf der vertikalen Achse rapide an, denn dein Unterlegenheitsgefühl wächst proportional zu ihrer gewachsenen tatsächlichen oder vermeintlichen Überlegenheit. Denn es spielt dabei keine Rolle, in welchem Ausmaß deine Gefühle auf Fiktionen und Projektionen beruhen: Der eigentlich unbegründete Verdacht der Untreue hat dieselbe Wirkmacht wie der begründete Verdacht, wenn er nur mit genügend emotionaler Energie behaftet ist. Genau um das Maß, in dem deine Freundin auf der vertikalen Skala nach oben geschossen ist, wirst du dich auf der horizontalen Skala von ihr entfernen.
Wenn deine intellektuelle Überlegenheit neben der etwas verdrucksten und mausgrauen Erscheinung deiner Freundin glamourös erstrahlt, wird sie diesen vektoriellen Vorsprung auf der vertikalen Achse vielleicht gemeinerweise dadurch auszugleichen suchen, dass sie ihre natürliche sexuelle Überlegenheit als Frau mittels mehr oder weniger feiner Nadelstiche und Anspielungen ins Spiel bringt. Wenn sie Pech hat, sinkt dadurch das Thermometer deines Überlegenheits- und Selbstwertgefühls in die unteren Bereiche, so dass sich die Größenverschiebung von oben nach unten bald in einer Entfernung deiner Person von ihrer Person auf der horizontalen Achse umsetzt und umschlägt.
Durch die beständigen Wechsel des atmosphärischen sozialen Drucks auf das Thermometer, das die Abstände der sozialen Beziehungen misst, geht es bei uns hierzulande und hienieden recht bunt, betriebsam und aufgeregt zu, denn die Vektoren auf der horizontalen Achse rasen ständig hin und her. Deshalb leben wir in einer Welt der mehr oder weniger großen, aufregenden, bedeutsamen Dramen. In einer Welt, in der die vertikale Achse der ungleichen Machtpositionen gleichsam abgebrochen ist, kommen die Positionswechsel auf der horizontalen Achse schnell zur Ruhe und gleichen sich auf regelmäßige, geringfügige Abstände aus. Diese Welt ohne Dramen, Tragödien und Komödien, ohne Entwicklungsschübe und erfindungsreiche Neuerungen ist die Utopie des radikalen Egalitarismus, in der sich alle aufs Höchste gelangweilt ebenbürtig und Aug in Aug auf den Zehen stehen.
Institutionen wie Freundschaft, Liebe und Ehe sind Einrichtungen, die dem Zweck dienen, die aufgrund biologischer und sozialer Veränderungen wie Schwangerschaft, Krankheit und Altern oder Karrieresprung und Entlassung unausweichlichen Positionswechsel auf den Achsen der sozialen Beziehungen auf das Erträgliche, Förderliche und Angemessene einzudämmen und zu hegen: Wenn ihr einen Liebensbund miteinander geschlossen oder euch im Ehegelöbnis zugesprochen habt, auch im dramatischen Auf und Ab des Lebens, soweit es eure Kräfte erlauben, füreinander einzustehen, musst du nicht gleich befürchten, dass dich deine Freundin mit einem anderen betrügen oder verlassen wird, wenn du einmal krank daniederliegst und auf Pflege und Betreuung angewiesen bist – auch wenn ein solches Drama natürlich nicht auszuschließen ist.
Wir haben schon gesehen, wie uns das System der Personalpronomina ich, du, er/sie/es, wir, ihr, sie und der Demonstrativa dieser und jener sowie hier und dort ein Netzwerk von Relationen der Nähe und Ferne aufspannt und an die Hand gibt, das wir nun mit den Koordinaten der sozialen Beziehungen verschmelzen und vereinheitlichen können.
Ich stehe hier und du stehst dort, während er da drüben sitzt. Wir bleiben hier, ihr geht dorthin, während sie da hinten auf uns warten. Wenn ich und du, wir und ihr in Institutionen wie die Ehe, ein Unternehmen, eine Behörde, einen Club eingebunden sind und diese repräsentieren, geben uns die jeweiligen Entfernungspositionen auf der vertikalen und horizontalen Achse der sozialen Beziehungen einen Maßstab für die Über- und Unterordnung und die inkludierende Nähe oder exkludierende Ferne der Institutionen an die Hand, in denen wir Mitglieder sind.
Sofern und solange du atmest, bist du Teil der Menge oder Ganzheit der atmenden Lebewesen. Diese Ganzheit umfasst alle Lebewesen, die über Lungen oder Kiemen ihren Sauerstoffgehalt im Blut regulieren. Weil du atmest, bist du Teilnehmer oder Teilhaber dieser Menge. Die Menge derjenigen, die mittels der eingeatmeten Luft für die Verständigung geeignete und bedeutsame Laute artikulieren können, sind eine kleine Untermenge der ersten Menge. Als Teilnehmer oder Teilhaber der Menge der Sprecher einer syntaktisch strukturierten und semantisch unterfütterten Sprache bilden sie das Ganze der Menschheit. Die Menge derjenigen, die durch direkte Abstammung ein natürliches Verwandtschaftsverhältnis zueinander haben, ist eine Schnittmenge aller Mengen von Arten, die eben diese Eigenschaft aufweisen. Die genannten Mengen oder Ganzheiten sind natürliche Arten, die Teilnahme und Teilhabe an ihnen wird nicht durch Konventionen wie die formalisierte oder informelle Aufnahme eines Individuums in eine Menge oder Ganzheit dieser Art geregelt.
Anders bei Institutionen. Sie sind Mengen und Ganzheiten, an denen teilzunehmen und teilzuhaben es der Erfüllung konventionell festgelegter Bedingungen der Aufnahme oder der Inklusion und des Ausschlusses oder der Exklusion bedarf. Wenn du unsere Sprache nicht verstehst und nicht sprichst, kannst du ins Innere und in die Arcana unserer Kult- oder religiösen oder kulturellen Gemeinschaft nicht vordringen. Wenn dir die Bedeutung und die Funktion der Symbole, Siegel, Wappen, Riten und Zeremonien, derer wir uns bei unseren Abmachungen, Mitteilungen und Zusammenkünften bedienen, um die Identität unserer Gruppe zu bekräftigen, fremd sind, kannst du unser Mitglied nicht sein. Wenn du die Lieder, Legenden, Mythen oder Märchen, an denen wir uns bei unseren Zusammenkünften ergötzen und die unser Gemeinschaftsgefühl heben, nicht von Kindesbeinen an erlernt oder später eifrig eingeübt hast, wirst du die Gefühle, Einstellungen und Vorstellungen, die wir teilen und die wir uns beständig neu erwecken und mitteilen, nicht verstehen und beherzigen können.
Wenn du dich indes aufrichtig und lebhaft zu unserer Gemeinschaft und ihren Werten hingezogen fühlst und mit Hilfe eines Freundes fleißig unsere Sprache erlernt und unsere Zeichen, Geschichten und Zeremonien dir eifrig eingeprägt hast, wenn du endlich bei den Befragungen und Aufnahmeprüfungen, deren wir dich unterziehen, um die Echtheit und Breite deiner neuen Kenntnisse auszuloten, mit Bravour bestanden und hinreichend unter Beweis gestellt hast, dass du ein würdiger Adept unserer Gemeinschaft geworden bist, sind wir geneigt, dich als Mitglied in unserer Mitte aufzunehmen.
Solltest du indes dich auf heimtückische und arglistige Weise in unsere Mitte eingeschlichen haben, um unsere Interna, unsere Arcana oder Geschäftsgeheimnisse auszukundschaften und verstohlen nach außen zu tragen und sie Unbefugten und Uneingeweihten oder unseren Feinden auszuplaudern oder solchen Elementen Stoff und Anregungen für despektierliche, verleumderische oder blasphemische Entstellungen unsere Ansichten und Symbole zu liefern, oder wenn du dich in der tückischen Absicht uns genähert hast, eines unserer Mitglieder durch üble Insinuationen und Verleumdungen unserer Gruppe abspenstig zu machen und unserer Mitte zu entfremden, wenn wir dich eines oder einiger von diesen Vergehen oder aller zusammen mittels gerichtlicher Verfahren der Überprüfung und Beurteilung überführen konnten, sind wir rechtens gewillt und gehalten, dich aus unserer Mitte auszuschließen und für immer zu entfernen sowie die weltlichen Gerichte für eine weitere Strafermittlung anzurufen, soweit eine solche in Frage kommt.
Die Institutionen überlagern und umfassen einander in hierarchischer Folge oder in überlappender Weise: Du bist ein Angehöriger der deutschen Nation und damit Einwohner eines Bundeslandes und eines Ortes in Deutschland. Wenn du als Gläubiger der römisch-katholischen Kirche angehörst und verheiratet bist, bist du getauft, gefirmt und mit dem Ehesakrament betraut. Wenn du als katholischer Militärpfarrer deinem seelsorgerischen und pastoralen Auftrag nachgehst, bist du deinen Kameraden, deiner Heeresabteilung und der obersten Militärbehörde auf der Hardthöhe verpflichtet. Zugleich musst du die hierarchische Abstufung auf säkularer Ebene mit der hierarchischen Abstufung auf kirchlicher Ebene, bei der du deinem Militärbischof und deinem Orts-Bischof verpflichtet bist, zum Ausgleich bringen. Sollte es zu einem Konflikt zwischen den hierarchischen Linien kommen, weil du ein Vergehen begangen hast, das das Militärgericht zwar als moralisch bedenklich, strafrechtlich aber als geringfügig einschätzte, als dass es beruflich nachteilige Folgen für dich nach sich zöge, die letzte von dir angerufene Instanz in Rom allerdings die Sache anders einschätzte und dir eine Strafe zumäße, die mit der Versetzung von deiner bisherigen Position oder gar dem Ausschluss aus dem Priesterkollegium einherginge, gälte für dich: Roma locuta causa finita.