Philosophieren XXII
Du sagst, in deinen Ohren klinge jene Passage bei Mozart lieblich, und ich kann nicht umhin, deinen Eindruck zu bestätigen.
Wir können demnach Eindrücke, die sensorischen Reizungen eines spezifischen Sinnes, wie des Auges, des Ohrs, des Tast- und Geruchssinns, des Gleichgewichtssinnes sowie der Wärme- und Kälteempfindung, qualifizieren, indem wir ihnen Ausdrücke wie lieblich und rauh, weich und hart, dunkel und licht, grell und finster, schrill und dünn, dürr und überladen, pathetisch und schwülstig, seelenvoll und barbarisch anheften.
Einen Gutteil ästhetischer Geschmacksbildung haben wir uns tastend und erprobend dadurch angeeignet, dass wir die sinnlichen Ausdrücke für sinnliche Eindrücke als ästhetische Etiketten für unsere Eindrücke von Kunstwerken verwenden.
Der Witz der Sache kommt ans Licht, wenn du merkst, dass die Etiketten gleichsam quer über die Sinnesfelder wandern, sich kreuzen und wechselseitig vertreten: Du benennst oder etikettierst eine gehörte Tonfolge, also den sinnlichen Eindruck des Hörsinns, als weich oder hart, mit Ausdrücken für sinnliche Eindrücke des Tastsinns. Hier wohnst du der Geburt der Technik oder des Kunstgriffs bei, den man etwas umständlich und missverständlich Metaphorik nennt: Austausch und wechselseitige Repräsentation von Eindrucksetikettierungen.
Ausdrücke für sinnliche Eindrücke lernen wir von Kindesbeinen an, deshalb gehen sie so flott von den Lippen. Was ist einleuchtender als der Gebrauch des Ausdrucks „hart“ für den Eindruck, der dir schmerzlich bewusst wird, wenn du dir als Kind den Zeh an einem Stein gestoßen hattest? Was einleuchtender als der Gebrauch des Ausdrucks „weich“ für den wunderbaren Eindruck, der dich überkam, wenn du als Kind, vom Wandern und Spielen ermüdet, in die weichen Kissen sankest?
Ein dicker Brocken Evidenz beim Gebrauch von Ausdrücken für unsere sinnlichen Eindrücke ist gleichsam herübergerollt auf das Feld des Gebrauchs von Etiketten für unsere ästhetischen Eindrücke. Würde ich deinen Eindruck, jene Passage bei Mozart sei lieblich, bestreiten und dagegenhalten, sie sei geziert, manieriert oder gar gekünstelt, würdest du mich mit Recht an den langen Eselsohren ziehen und bis vor die Partitur schleppen und meinen Kopf ganz nah an die besagte, scheinbar umstrittene Stelle beugen, wo ich mit mildem Blick gleich gewahre, welche Ausdrucksbezeichnung der Meister notiert und vorgegeben hat: „amoroso“.
Ich hätte mich demzufolge mit meiner Etikettierung besagter Stelle geirrt und wäre gut beraten, meinen Eindruck und meine Eindrucksetikettierung zu revidieren. Der Gebrauch unserer Ausdrücke für sinnliche Eindrücke im engeren Sinne wie weich und hart, dunkel und hell scheint relativ stabil, wohlgeordnet und wenig revisionsbedürftig. Dagegen ist der Gebrauch unserer Ausdrücke für ästhetische Eindrücke einesteils einleuchtend und unbedenklich, so bei Ausdrücken wie piano und pianissimo oder forte und fortissimo, wo es um die unter normalen Bedingungen leicht identifizierbaren akustischen Eindrücke von Lautstären und auf ihnen aufruhenden Klangqualitäten geht. Anderenteils kann der Gebrauch von ästhetischen Etiketten anfällig für Irrtümer oder Fehlgriffe und insofern kritikwürdig und revisionsbedürftig sein, wie das Beispiel mit dem Ausdruck „lieblich“ oder „amoroso“ gezeigt hat.
Die verbreitete Meinung, phänomenale Bewusstseinszuständen – und sinnliche und ästhetische Ausdrücke bezeichnen ebensolche Zustände – seien sozusagen ein hortus conclusus und für „Außenstehende“ nicht zugänglich, erweist sich als Irrtum. Ich weiß ziemlich gut, was du meinst, wenn du mich darauf hinweist, dass dieses Kissen sich weich anfühlt und jene Passage bei Mozart lieblich klingt.
Die Kultur des ästhetischen Geschmacks bleibt nicht bei einfachen Querverbindungen und wechselseitigen Repräsentationen von Ausdrücken für ästhetische Eindrücke stehen. Über eine andere Tonfolge, mag sein aus Mozarts Requiem, sagst du vielleicht: „Das klingt in meinen Ohren wie eine weiche Dunkelheit, die alles Grelle, Schrille, Aufdringliche des Tages gnädig verhüllt. Zugleich scheint mir aus dem Inneren dieser Dunkelheit wie auf dem schwarzen, glattpolierten Marmor eines nächtlichen Sees ein Licht, ein Stern, ein Auge zu leuchten, das darauf hofft, mich zu berühren, mich zu sehen, das darauf hofft, von mir berührt, von mir gesehen zu werden.“ Ich bin geneigt zu sagen, dein Eindruck habe einen Einschlag ins Mystische.
So gelangen wir von der simplen Zuweisung sinnlicher Ausdrücke zu sinnlichen Eindrücken über die Querverbindung von Ausdrücken über verschiedene Sinnesfelder hinweg zu komplexen, manchmal widersprüchlich anmutenden Überlappungen, Verdichtungen und Kreuzungen unserer Etiketten für ästhetische Eindrücke wie weich und dunkel, nah und fern, dunkel und licht.
Aber solch seltsame, abgehobene Etiketten wie pathetisch und schwülstig oder gar seelenvoll und barbarisch, wie kannst du diese noch mit sinnlichen Eindrücken gleichsam einlösen und abgelten?
Schwulst nennen wir ein hohles, verlogenes, falsches Pathos. Die Lymphe des Ausdrucksverlangens ist gleichsam bis zum Platzen angeschwollen – doch darin befindet sich nichts als trübes, süßliches Wasser. Einer redet geschwollen daher, wenn er die eigene Geistesblöße mit dem üppigen Velours oder der knisternden Seide hochtrabender oder betulicher Phrasen verdecken will. Dann erkundigt er sich bei dem Azubi im Supermarkt nach Frühstückscerealien statt nach schlichten Brötchen. So nehmen wir vom sinnlichen Eindruck geschwollener und aufgeplatzter Haut und aufgedunsenen Fleisches den spezifischen Anteil des Unschönen und Ungesunden und leimen uns daraus ein ästhetisches Etikett.
Pathos nennen wir den echten, unverfälschten Ausdruck schweren, aber erduldet-hingenommenen körperlichen und seelischen Leidens. Echtes Pathos ist nicht so leicht zu haben wie Schwulst. Du kannst aber gut den Ausdruck des Pathos auf den sinnlichen Eindruck von einem Menschen zurückleiten, dessen Antlitz von geduldiger Hingabe und hoher Erwartung leuchtet, dessen Lippen sanft erbeben, dessen Stirn in Falten gelegt ist, dessen Augenlider verschattet und dessen Blicke in eine unbestimmbare Ferne gerichtet sind – dorthin, wohin sein Schicksal oder seine Berufung ihn zieht, dorthin, woher sein Retter ihm zu nahen dünkt.
Wenn aber ein ausdrucks- und eindrucksarmer Möchtergernkünstler Krach schlägt, krakeelt und aus vollen Rohren ballert, um sich endlich auch einmal Gehör zu verschaffen, wenn sein Machwerk grelle Lichter reiht, schrille Töne häuft, dank Schmutzflecken, Blutlachen und Urinecken ungut riecht, unter Tränenströmen und anderen Gefühlsergüssen unterzugehen droht, wenn solch ein Flick- und Schundwerk dich mit giftigen Stacheln und stechenden Dornen gesuchter Rätsel und okkulter Bezüge reizt und ritzt, wenn dieses Feuerwerk, dieser Jahrmarkt, dieser Budenzauber der Gefühlsnötigung und gewaltsamer Eindruckschinderei deine Sinne verstört, zugleich blendet und benebelt, aufreizt und lähmt, deinen Geist zugleich foltert und verblödet, dann stempelt das Etikett „barbarisch“ die Sache rechtens ab. Aber nenne auch getrost barbarisch, wenn ein Möchtegernkünstler dich im Gegenteil mittels Aussageverweigerung und Sinnzerstörung, mit Paradoxien und Absurditäten verblüffen, leimen, hinters Licht führen will, wenn er tollwütig das Netz mühsam geflochtenen Sprachsinns zerschlitzt und zerreißt, wenn er die Einheitssoße und Kollektivtunke eines modischen Jargons, eines urinwarmen Lyrismus über alle Grenzen und Ordnungen von Genres und Gattungen, Textsorten und Redesituationen hinweg vergießt und ausschüttet.
Wenn dir nach einem schweren Gang, einem mühsamen Werktag, einem großen seelischen Kampf einer naht und legt dir die Hand auf die Schulter oder auf das Haupt, und die Hand ruht nachdrücklich auf dir und du fühlst, die Wärme eines Zuspruchs, einer Hingabe, einer Liebe fließt über zu dir – wenn auf solche Weise ein Vers, eine Melodie dir nahegeht, dich anhaucht, dir durch ein Erinnern an ein einst geahntes Schönes eine Träne entpresst und sie sogleich mit dem Finger mütterlicher Lossprechung abwischt – nenne du solchen Eindruck, wie du willst, ich nenne ihn seelenvoll.