Philosophieren XLIII
Wenn du mir etwas mitteilst, will ich dir gerne unterstellen, es sei etwas Sinnhaftes und Bedeutungsvolles, was du mir sagen und bedeuten willst – schließlich bist du keiner aus jener Gilde der Philosophen, bei denen man mit allem rechnen muss. Du sagst zu mir zum Beispiel: „Schau mal, das Gewitter hat sich verzogen und der Himmel ist blau.“
Gewiss wirst du den Satz unter den geeigneten und passenden Umständen äußern und nicht, wenn wir in einem Weinkeller unter geschlossen-düsterem Gewölbe hocken oder wenn der Himmel schwarz von Gewitterwolken ist. Ich unterstelle dir also auch, dass deine Wahrnehmungen gut funktionieren, wenn ich dir unterstelle, mir eine sinnvolle Mitteilung dieser Art gemacht oder ein richtiges Wahrnehmungsurteil gefällt zu haben.
Betrachten wir den Satz genauer und nehmen zunächst den Teil nach dem Komma unter die Lupe. Du siehst gleich, dass es sich eigentlich um zwei mittels der Konjunktion „und“ verbundene Einzelsätze handelt. Wir kürzen sie mit den Buchstaben p und q ab. Mit jedem Satz p und q hast du mir eine Tatsache mitgeteilt, einmal die Tatsache, dass sich das Gewitter verzogen hat, sodann die Tatsache, dass der Himmel blau ist. Wir nennen den Sprechakt, mit dem wir Tatsachen mitteilen, beurteilen oder kurz urteilen und das Ergebnis solcher Sprechakte schlicht und ergreifend ein Urteil. Urteile haben die interessante Eigenschaft, richtig oder unrichtig, wahr oder falsch sein zu können.
Wenn wir zwei Sätze mit den möglichen Wahrheitswerten wahr und falsch durch eine Kopula verbinden, kann der Fall eintreten, dass ein Satz wahr, ein anderer falsch, beide wahr oder beide falsch sind. Wenn es jetzt der Fall ist, dass der Himmel zwar blau ist, aber auch zuvor blau war und also sich kein Gewitter verzogen hat, ist der erste Satz falsch und der zweite wahr. Wenn es weder ein Gewitter gegeben hat und der Himmel durch die Abendröte rot erscheint, sind beide Sätze falsch. Es ist klar, dass die Summe beider Sätze in der Verknüpfung durch die Kopula nur wahr sein kann, wenn beide Teilsätze es sind, in allen anderen Fällen ist der Gesamtsatz falsch.
Nunmehr entdecken wir eine weitere Unterstellung, die wir vornehmen, wenn wir annehmen, du habest uns etwas Sinnvolles mitgeteilt: Wir unterstellen dir, dass du weißt oder zu wissen glaubst, kurz: davon überzeugt bist, dass deine Mitteilung richtig oder der von dir mitgeteilte Inhalt des Satzes wahr ist. Würden wir dir nämlich unterstellen, dass du davon überzeugt wärest, dass der Inhalt deiner Mitteilung, also einer der durch die Kopula verknüpften Teilsätze oder beide Teilsätze unwahr wären, müssten wir dir unterstellen, dass du uns nicht die Wahrheit sagen, sondern uns belügen wolltest. Auch wenn diese unschöne Unterstellung zuträfe, wäre der von dir geäußerte Satz sinn- und bedeutungsvoll, denn es wäre derselbe Satz wie der ursprüngliche Satz, den du geäußert hast, um uns eine Wahrheit mitzuteilen – und dieser galt uns ja als sinn- und bedeutungsvoller Satz.
Wolltest du den Satz „Schau mal, das Gewitter hat sich verzogen und der Himmel ist blau“ äußeren, um uns an der Nase herumzuführen und uns zu belügen, wäre vorausgesetzt, dass das Gegenteil oder die Negation der von dir mitgeteilten Sachverhalte in Wahrheit zuträfen, als Werteverteilung für die Teilsätze also „nicht p und q“ oder „p und nicht q“ oder „nicht p und nicht q“ beziehungsweise „nicht (p und q)“ in Frage käme. Das aber hieße, im Moment, da du den unwahren Satz äußertest, hätte es gar kein Gewitter gegeben und der Himmel wäre blau oder das Gewitter hätte sich verzogen und der Himmel wäre nicht blau oder weder hätte es ein Gewitter gegeben noch wäre der Himmel blau. Wir haben allerdings selbst Augen im Kopf und haben gesehen, dass es kein Gewitter gegeben hat und der Himmel blau strahlt, oder wir sehen, dass sich das Gewitter verzogen hat, aber der Himmel immer noch grau ist, oder wir sehen, dass es weder ein Gewitter gegeben hat und der Himmel sich in der Abenddämmerung rötet. Wir sehen also, dass was du behauptest nicht der Fall ist, und wissen augenblicks, dass du uns hast verballhornen wollen. Das Beispiel erweist en passant, dass Lügen allzu kurze Beine haben, wenn sie sich nicht unter gleichsam undurchsichtigen Umständen und Bedingungen verstecken können – jedenfalls schlecht funktionieren, wenn der Lügner und sein Gegenüber die gleichen Wahrnehmungs- und Urteilsbedingungen teilen.
Bleiben wir bei dem Normalfall einer trivialen Mitteilung von wahren Sätzen der genannten Art. Die Sätze „Das Gewitter hat sich verzogen und der Himmel ist blau“ können wir grammatisch in ein temporales oder ein kausales Gefüge transformieren, indem wir sagen: „Nachdem sich das Gewitter verzogen hat, ist der Himmel blau“ und „Weil sich das Gewitter verzogen hat, ist der Himmel blau“. Der Haupt- und Elementarsatz „Der Himmel ist blau“ spricht einem Gegenstand eine Farbe zu. Wir können diese Grundform des Urteils abkürzen mit der Formel Fx, womit wir dem Gegenstand x die Eigenschaft F zusprechen.
Die Fähigkeit oder das Vermögen, das du dadurch unter Beweis gestellt hast, dass du dem Gegenstand die richtige Eigenschaft zugeordnet hast, nennen wir Urteilsvermögen und Denkfähigkeit, denn natürlich ist urteilen zu können gleichwertig damit, denken zu können.
Wir nennen die Begriffe „blau, rot und schwarz“ Farbbegriffe und sagen, du habest dem Gegenstand den richtigen Farbbegriff zugewiesen. Somit gelangen wir auf die bündige Definition für die Tätigkeit des Urteilens oder Denkens: Urteilen oder denken heißt, einem Gegenstand einen Begriff zuordnen. Und richtig urteilen oder klar denken heißt, einem Gegenstand den richtigen Begriff zusprechen.
Wenn mir einer sagte: „Schau mal, das Gewitter hat sich verzogen und der Himmel ist eine Primzahl“, wäre ich ob dieses unerbetenen Hinweises mehr als konsterniert und würde meinem Gegenüber nicht unterstellen, er habe mit der Zuweisung dieser Eigenschaft von Zahlen knapp danebengelegen oder sich um ein Haar bei der Auswahl der Eigenschaft vergriffen. Ich müsste vielmehr annehmen, die Person wisse nicht, um was für eine Art von Begriffen oder um welche Kategorie es sich bei Begriffen wie den Primzahlen handelt. Ich würde nicht sagen, jener habe ein unrichtiges oder falsches Urteil gefällt, sondern würde sagen, er habe einen unsinnigen Satz geäußert und somit überhaupt kein Urteil getätigt.
Wir sagen: Weder kann der Himmel eine Primzahl noch eine Primzahl blau sein. Welche Eigenschaft unserer begrifflichen Struktur verbirgt sich hinter der Bestimmung „kann nicht“? Nun, es handelt sich hier nicht um eine empirische Grenze und Schwierigkeit, die durch den Einsatz kluger und gewitzter Mittel behoben werden könnte. Es handelt sich vielmehr um die gleichsam überempirische, apriorische Grenze unserer Sprache. So und nicht anders reden wir nun einmal, anders lassen sich die Dinge von uns und bei uns hierzulande und hienieden nicht sagen.
Wir sind demnach aufgefordert jenen, der den absurden Satz geäußert hat, zu korrigieren und auf seinen Kategorienfehler aufmerksam zu machen. Wenn er sich philosophisch versteift und darauf beharrt, für ihn selbst ergebe der uns unsinnig erscheinende Satz durchaus Sinn, weil er für sich die Sprachregel eingeführt habe, dass metereologische Gegenstände die Eigenschaft, Primzahlen zu sein, haben können, müssen wir ihn rügen und mit der Tatsache konfrontieren, dass wir zwar reden dürfen, wie uns der Schnabel gewachsen ist, nicht aber so, dass kein anderer Schnabel darauf kommen könnte, so etwas zu sagen. Die Grenze des Sagbaren ist eine soziale Grenze: Der Verkehr, in dem wir uns sprechend verständigen, wird durch Verkehrszeichen geregelt und verläuft auf Bahnen und Wegen, die vor dir schon Abertausende abgeschritten haben. Jedenfalls sind die sprachlichen Regeln, nach denen der Verkehr hierzulande und hienieden abläuft, nicht der privaten Willkür eines solipsistischen Sprachheimwerkers anheimgestellt.
Wir können also nur sagen, was andere auch sagen könnten. Um sprechen und denken zu können, muss ich voraussetzen, dass mindestens ein anderer schon gesprochen und gedacht hat. Ich wäre nicht in der Lage, als einsamer Robinson einen Gedanken zu fassen: Einen Gedanken zu haben setzt voraus, ihn in einem Satz äußern zu können und die Äußerung des Satzes der realen oder virtuellen Beurteilung mindestens eines anderen anheimzustellen.
Soll das heißen, unser Reden und das, was wir mit Wörtern tun, würden gleichsam von einer unsichtbaren grammatisch-logischen Kontrollinstanz reglementiert und unsere sprachliche und gedankliche Freiheit und schöpferische Ausdrucksmacht würden für immer in eine apriorische Zange genommen? Ganz und gar nicht: Die Grenzen der Sprache fließen, wenn auch gewöhnlich sehr langsam und unmerklich. Denn sie werden nicht willkürlich von Dudenredakteuren und logisch-propädeutischen Oberlehrern mit dem Lineal gezogen, sondern haben überhaupt keine zentrale Steuerungseinheit. Die Grenzen fließen mit den unsichtbaren und unserer Aufmerksamkeit entgleitenden leisen Verschiebungen oder lauten Erschütterungen der kollektiven Praxis unseres durch Regeln geleiteten Sprechens.
Wir wissen allerdings nicht und können nicht wissen, welcher Erschütterungen es bedürfte, die unser sprachliches Regelwerk dermaßen durchschütteln und -rütteln würden, sodass dermaleinst der uns heute unsinnig erscheinende Satz „Der Himmel ist eine Primzahl“ als sinnvoll akzeptiert werden würde.
Im Übrigen könnte unser Satz „Schau mal, das Gewitter hat sich verzogen und der Himmel ist blau“, unter geeigneten Umständen geäußert, auch etwas anderes bedeuten als eine Mitteilung über das Wetter und die Farbe des Himmels. Schreiben wir ihn mit Ausrufezeichen: „Schau mal, das Gewitter hat sich verzogen und der Himmel ist blau!“ Dann willst du mich mit dieser Äußerung vielleicht auffordern, mit dir die stickigen Seminar- oder Büroräume endlich zu verlassen und das Freie zu suchen.