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Philosophieren XL

06.09.2013

Du siehst auf deine Armbanduhr, vergleichst ihren Zeigerstand mit dem Zeigerstand der digitalen Uhr neben dem Eingang der Apotheke und stellst fest, deine Uhr geht falsch. – Immer wenn du morgens aus dem Haus gehst, kommt dir pünktlich wie nach der Uhr dein Nachbar entgegen. – Du stellst fest, dass dein Taschenrechner bei jeder Eingabe von Zahlen und Funktionen denselben Wert anzeigt, und schließt daraus, dass die elektronische Mechanik des Rechners kaputt und unbrauchbar geworden sei. – Du bist als Tourist in der fremden Stadt unterwegs und fragst einen Einheimischen nach dem Weg zu der berühmten Kathedrale, er weist ihn dir mit der Hand, doch du gelangst bald in ein ödes Brachland.

Du bindest mit den Händen die Schlaufe am Schuh. Du rechnest die Multiplikation ohne Zuhilfenahme von Papier und Bleistift im Kopf aus. Warum ist es merkwürdig und befremdlich zu sagen: „Ich rechne die Rechenaufgabe nicht nur im Kopf, sondern mit dem Kopf aus“ oder „Ich rechne die Rechenaufgabe mit meinem Gehirn aus“? Was macht hier den Unterschied zwischen Hand und Gehirn?

Wenn deine Armbanduhr Bewusstsein hätte und du bemerkst mittels des Vergleichs mit der öffentlichen Uhr, dass sie falsch geht – könntest du ihr dann nicht die Absicht unterstellen, nicht die richtige Zeit anzeigen und dich hinters Licht führen zu wollen? Wenn du aber davon ausgehen könntest, dass deine Armbanduhr dir in Treue und unbedingt ergeben sei, wäre die Tatsache, dass sie die falsche Zeit anzeigt, nicht die Folge dessen, dass sie absichtsvoll einen Fehler begangen hätte, sondern wahrscheinlich die Folge der Tatsache, dass beispielsweise die Batterie ihren Geist aufgegeben und sie das Bewegen der Zeiger hätte aufgeben müssen.

Die Absicht hegen zu können, zu täuschen und sich zu verstellen, sowie die Disposition, Fehler zu begehen, gehörten demnach zu untrüglichen Zeichen dessen, was wir bewusstes und seiner selbst bewusstes Leben nennen, so wie wir es führen und sind.

Dein Nachbar kommt stets pünktlich zur selben Minute und Stunde dir entgegen – als wolle er dir mit diesem Verhalten sagen: „Siehst du, du kannst dich auf mich verlassen, ich bin immer pünktlich zur Stelle!“ – Warum kannst du nicht zu dir selbst des Morgens, wenn du wieder wie stets zur selben Zeit erwachst und gleichsam zu dir findest, sagen: „Siehst du, du kannst dich auf mich verlassen, ich bin immer pünktlich zur Stelle!“?

Dein Taschenrechner funktioniert nicht mehr, er spuckt bei jeder Eingabe denselben Wert aus. – Ist es dasselbe mit deinem Mund, wenn er plötzlich, gleichgültig was immer du eigentlich äußern möchtest und dir zu sagen vorgenommen hättest, denselben Satz oder dasselbe Wort artikulierte? – Ist es dasselbe mit deinem Kopf, wenn du mit einem Mal unter den Bann einer Zwangsidee gerietest und gezwungen wärst, denselben Gedanken immerfort zu wiederholen?

Der Einheimische hat dich düpierten Touristen in die falsche Richtung geschickt. Woher weißt du aber, dass er dich mit Absicht in die Irre geführt hat? Könnte er nicht der falschen Überzeugung sein, dass die Richtung, in die er dich wies, die richtige sei? Wie kannst du das herausfinden? Nun, wenn du beobachten könntest, dass derselbe Mann einen anderen Touristen, mit dem er sich augenscheinlich angefreundet hat, bei Nachfrage in dieselbe falsche Richtung weist.

Wir wissen nunmehr: Nur ein Lebewesen wie wir, dem wir unterstellen, wahre und falsche Überzeugungen zu haben sowie Absichten zu hegen, mittels der Äußerung von Sätzen und der Durchführung von Handlungen Ziele zu erlangen, gilt uns als seiner selbst bewusstes Lebewesen. Das Gehirn, mittels dessen wir wahre oder falsche Überzeugungen bilden, oder der Mund und die Sprechwerkzeuge, mittels derer wir Sätze artikulieren, und die Hand, mittels deren wir Handlungen ausführen, gelten uns für Teile oder Momente der Person oder personalen Ganzheit, die Überzeugungen hat, Sätze äußert und Handlungen vollführt, nicht aber für die Ganzheit selbst, so dass es falsch wäre zu sagen: „Dein Hirn glaubt, die Erde sei eine Scheibe“ und „Dein Mund hat mich nach der Uhrzeit gefragt“ oder „Deine Hand hat die Schlaufe zu fest gezurrt“.

Die Uhr zeigt den falschen Zeigerstand an. Es ist sinnlos zu fragen, ob sie nicht auch den richtigen Zeigerstand hätte anzeigen können. Wenn du dagegen dich bei der Multiplikation vertust und ein falsches Ergebnis an die Tafel schreibst oder in die Rechnung einträgst, kann ich dich getrost fragen, ob du nicht das richtige Ergebnis hättest errechnen und aufschreiben können. Denn wenn du in der Lage bist, Fehler zu begehen und dich zu verrechnen, kann ich dir auch die Fähigkeit unterstellen, keinen Fehler zu machen und auf das richtige Ergebnis zu kommen.

Wenn du die Rechnung ausführst und es unterläuft dir ein Fehler, passieren doch in deinem Hirn zigtausend Dinge – wir sehen es ja auf dem Bildern der bildgebenden Hirn-Scan-Verfahren, wo Hirnaktivität stattfindet und wo nicht, wir haben gute Annahmen über die neuronale Repräsentanz der mentalen Aktivitäten, die wir mehr oder weniger bewusst ausführen, und sprechen vom Input und Output und der Informationsverarbeitung durch die neuronalen Netze und Schaltkreise unseres Gehirns. Warum sollten wir denn nicht annehmen, dass in einem solch komplexen Netzwerk wie dem des Gehirns ein Fehler auftreten könne?

Du kannst mit Kaffee und Tee, von anderen Stimulantien zu schweigen, deine Hirnaktivität auf Trab bringen, schneller rechnen und deine Aufmerksamkeit so weit steigern, dass du Fehler vermeidest, die dir im ermüdeten Zustand unterlaufen wären. Aber die Fehler, die du vermeidest, und die Fehler, die du begehst, sowie die richtigen Rechenergebnisse, auf die du Schritt für Schritt kommst, entstehen nicht aufgrund von Pannen und Systemausfällen beziehungsweise dank reibungsloser Funktionsabläufe der großen Maschine namens Hirn, sondern aufgrund eines Versehens wie einer falschen Annahme und irrtümlichen Anwendung von Formeln und Kalkülen beziehungsweise der richtigen Annahme und korrekten Anwendung von Formeln und Kalkülen – im ersten Falle hast du zum Beispiel einfach addiert, wo du hättest subtrahieren sollen, oder du hast die binomische Formel falsch angewandt.

Wenn dein Rechenapparat unterhalb der Kalotte eine Panne hat, verrechnest du dich natürlich genauso wie im Falle des Fehlers, den du begangen hast. Doch über die Panne bist du verdutzt, erschrocken oder verzweifelt und weißt dir keinen Rat – zur Not musst du als Schlaganfallpatient schnellstmöglich in die Notaufnahme der nächsten Klinik. Über den Fehler, den du nicht das erste Mal bei der Rechnung hingelegt hast, ärgerst du dich – doch kannst du dir mit einiger Mühe klarmachen und erklären, wie er zustande kam. Alsdann gibst du dir einen Stoß und beginnst die Rechnung erneut, mit heikler Aufmerksamkeit an der Stelle, wo es wieder einreißen könnte.

Außerdem pflegen wir dir keinen Vorwurf daraus zu machen und dich deswegen zu tadeln, weil du die Rechnung fatalerweise aufgrund eines plötzlichen Hirnschlags hast nicht korrekt ausführen können, sondern fehlerhaft stehen lassen musstest. Im Gegenteil, wir werden, solltest du uns nahestehen, Anteil an deinem Schicksal nehmen und dich bemitleiden. Dagegen pflegen wir zumindest den Schüler, der sich nicht ausreichend auf den Hosenboden gesetzt und die Aufgaben wiederholt hat, zu tadeln, weil er uns wieder mit demselben Fehler kommt. Dieses Mal gedenken wir ihn dafür zu strafen und ihn mit einer zusätzlichen Übungsaufgabe vom Spiel im sonnigen Nachmittag fernzuhalten. Pannen und Störungen kausaler Natur werden nicht zugerechnet, bedürfen keiner Rechtfertigung oder erklärenden Begründung. Fehler werden zugerechnet und können getadelt, ihr Vermeiden kann belobigt werden.

Wir sagen, der Schüler könne die Rechenaufgabe durchaus lösen, er sei zwar dazu in der Lage, aber nicht willens, es zu tun, es fehlten ihm der gute Wille und Antrieb. Auch dieses Verhalten pflegen wir zu tadeln, doch handelt es sich dabei nicht um einen zurechenbaren Fehler aufgrund mangelnder Übung oder mangelnden Fleißes, sondern um ein moralisches Versagen aufgrund einer Charakterschwäche, die ungenügende oder verfehlte Erziehung auf dem Gewissen haben mag.

Mentale Pannen haben Ursachen organisch-neurologischer Natur, die wir uns nicht recht erklären können und für die wir uns nicht zu verantworten oder zu rechtfertigen haben. Fehler gehen auf unser Konto, wir können ihre Entstehung meist gut nachvollziehen und rekonstruieren, vor allem aber müssen wir für sie geradestehen – seien es Rechenfehler oder moralische Vergehen. Unseren Fehlern sei Dank – sie zeigen uns: Wir sind nicht die Sklaven unserer Hirnaktivitäten, sondern unter den gemischten Bedingungen dieses sublunaren Daseins bewusste und unserer selbst bewusste Lebewesen, die Wahres von Falschem, Richtiges von Unrichtigem und Sinnvolles von Unsinnigem unterscheiden und mit Absicht tun oder lassen können, was immer wir tun oder lassen wollen.

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