Philosophieren XIV
All unsere Regungen sind natürliche Vorgänge. All unsere Empfindungen und Gefühle sind natürliche Regungen, sind Leistungen und Funktionen eines natürlichen Organismus. Dein Herz rast, dein Puls flattert, dein Atem ist flach: Du hast Angst. Das Herz geht langsam und gleichmäßig, dein Puls ist ruhig, dein Atem tief: Du fühlst dich sicher und wohl.
Die sensorischen Funktionen des Sehens, Hörens, Tastens und Riechens, die Empfindung für Wärme und Kälte, die Empfindung für Trockenheit und Nässe – sie eröffnen uns die Primärwelt unserer Sinne aus farbigen, leuchtenden, beschatteten Stoffen und Dingen, aus flüsternden, rufenden, leiernden, gellenden Stimmen, aus kratzenden, raschelnden, quietschenden, murmelnden Geräuschen. Wir erfühlen das weiche, kühle, saubere Kissen, das seidig strömende Wasser, schnuppern gerne nach dem Geruch von Kuchen und Schokolade, werden verführt und verlockt vom Duft der Astern, Rosen, Reseden des Gartens, spüren das heiße Züngeln der Flamme, die behaglich knisternden Scheite, das klitschnasse Fell des Hunds, die wohlige Trockenheit aufgewärmter Socken.
Die Gefühle sind den Empfindungen und sinnlichen Wahrnehmungen gleichsam sinnreich aufgepfropft und betten die Wahrnehmung in das Raster bedeutsamer Affekte ein. Die Gefühle wiederum tun ihren Dienst als Angeln an den Pforten der Bewegung: Du zuckst bang zusammen, wenn dich plötzlich eine Hand von hinten packt, ein schriller Ton lässt dich unwillkürlich den Kopf einziehen, das Gurgeln und Quellen von Wasser auf dem Moorweg lässt deine Schritte zagen und verhalten, der blendende Schnee erblühter Apfelbäume berauscht dich und zaubert dir ein Lächeln aufs Gesicht, ein Liebeslied auf die Lippen.
Das Kindergesicht wärmt dein Herz und besonnt dein Gemüt, die grüßend offene Hand, das Lächeln des Freundes beim Wiedersehen erfreuen und ermutigen dich, das finstere Gesicht des Nachbarn, sein böser Blick und sein Schnauben schüren dein Misstrauen, verursachen dir Unwohlsein und schlechte Träume. Gerne bleibst du bei der Frau mit dem Kinderwagen stehen, gerne triffst du dich wieder mit dem Freund, dem Nachbarn aber gehst du aus dem Weg. Sensation, Emotion und Motion, Empfindung, Gefühl und Bewegung bilden geschlossene Schaltkreise und Rückkopplungsschleifen, die unseren Lebensweg offen und licht halten, uns mit guten Orientierungen und angemessenen Handlungsimpulsen auf das hin versehen, was in unserer Umgebung los ist.
Du schrickst vor dem Schatten, dem Abgrund, dem Steinschlag zurück – das natürliche Gefühl des Schreckens und der Angst steht im Dienst der motorischen Reaktionen und Aktionen, die dich der Gefahr entkommen lassen, dich vor Verletzung und Tod schützen und bewahren. Du schüttelst dich vor Ekel und spuckst den Happen der Stulle mit der verdorbenen Fleischwurst aus. Du breitest Arme und Beine auf der Wiese aus, nachdem dich die Wanderung ermüdet hat. Das Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit schenkt dir Ruhe und den Raum, deinen stillen Beschäftigungen und Gedanken, deinen Hobbys oder der Pflege deiner Kontakte nachzugehen. Das Gefühl der Frische und des Tatendrangs führt uns an den Schreibtisch, auf das Feld und den Garten, in Wiese und Wald, zu Tanz und Gesang, vom Gefühl der Erschlaffung und Müdigkeit übermannt suchen wir uns den Rastplatz, das heimelige Bett, das sichere Nest.
Gefühle wie Freude, Lust, Frische und Mut beflügeln uns und motivieren oder begleiten Bewegungen nach vorn in Raum und Zeit über die Schwelle der Wohnung und des Hauses, über die Grenze der Stadt und des Landes hinaus. Gefühle wie Angst, Ekel, Trauer und Niedergeschlagenheit lassen unser Aktionsfeld schrumpfen, stoßen uns in die enge, aber sichere Behausung der Wohnung und das wärmende Nest der Nahbeziehungen zu Eltern und Verwandten zurück.
Empfindungen erschließen uns die Umwelt und beleuchten unseren Weg, Gefühle sind die Wegmarken, die uns ins Licht, aber auch ins Dunkle und in die Irre führen können. Angst fühlen, wo keine Gefahr ist, hemmt und lähmt. Tatendrang, Mut und Übermut, wo der Weg scharf am Abgrund entlangführt, ist töricht und gefährlich. Dem Feind, der dunkle Drohungen raunt, aus Menschenliebe Menschenliebe unterstellen ist dumm und gefährlich. Dem Freund, der dir seine Neigung durch Rat und Tat bezeugt hat, zu unterstellen, er verberge wie der Fuchs im Schafspelz hinter seinem freundlichen Gesicht finstere und gehässige Motive, ist nicht nur unangemessen und verfehlt, sondern paranoid und ehrenrührig. Auf diese Weise brechen soziale Beziehungen nach und nach zusammen, Freundschaften gehen auseinander, Ehen scheitern.
Wenn wir bestimmten Wahrnehmungen nicht mehr die angemessenen Gefühlsregungen zuordnen, könnte das auf ein Durcheinander in unserem Gedächtnis deuten. Elementare Reaktionen wie das Zurückschrecken und der plötzliche Ekel laufen instinktiv ab und brauchen nicht durch das primäre Lernen der Konditionierung mit ihren sensorischen Auslösern verknüpft zu werden. Andere Reaktionen sind konditioniert und fußen auf der angemessenen Verknüpfung von sensorischem Auslöser und Handlung. Wenn es blitzt und donnert und du treibst dich auf freiem Felde herum, überkommt dich Furcht und du suchst dir ein bergendes Dach. Wenn früh Dunkelheit einbricht, heißt es für den Wanderer und den Bergsteiger, dem Gefühl der Unsicherheit und Ungeborgenheit mit dem Auffinden eines sicheren Unterschlupfs zu entraten.
Wenn du an paranoidem Misstrauen leidest, lösen die sensorischen Reize des Lächelns, der herzlichen Wärme, der guten Gaben von Kuchen und Plätzchen, die dir dein Freund mitbringt, weder die zugehörigen und angemessenen Gefühle der Freude, der Lust und der Sicherheit noch die entsprechenden Impulse zu Handlungen wie dich zärtlich zu nähern und Zärtlichkeit zu empfangen sowie Haltungen wie Vertrauen, Freundlichkeit und Gelassenheit aus. Andere, antagonistische Gefühle wie Unlust, Angst, Scham und Hass, andere, antagonistische Impulse zu Handlungen wie zu fliehen und dich zu verstecken sowie Haltungen wie argwöhnische Verstelllung, beißende Ironie und zynische Spottlust kommen dir in die Quere oder verwickeln sich mit den normalen Reaktionen zu einem unauflöslichen Knäuel ambivalenter Gefühle. Das mag durchaus daran liegen, dass du als Kind durch peinliche oder traumatisierende Erlebnisse auf eine ungute, schädliche und deinen Lebensweg mit großen Brocken verstellende Verknüpfung konditioniert worden bist. Ein böser Kerl hat dich mit süßem Lächeln und lieblichen Tönen zu sich gelockt, und dann geschah dir Übles.
Wir können falsche, schädliche und pathogene Verknüpfungen von sensorischen Stimuli und Gefühlen und Handlungsimpulsen durch ein geduldiges Verhaltenstraining rekonditionieren und mittels positiver Verstärkungen neue, gute, förderliche Verknüpfungen aufbauen. So lernst du allmählich, mühsam, trotz Rückschlägen, mittels immer neuer Aufbrüche und Annäherungen dem Menschen, der dir wohlwill, die Hand reichen, und dem Menschen, der dir übelwill, den Rücken zeigen.