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Philosophieren XIII

22.07.2013

Philosophieren heißt ruhig werden.

Philosophieren heißt Ruhe finden und all den künstlichen Aufregungen und Erregungen entkommen, die aus verfehlten Fragen, irregeleiteten Zwangsgedanken und zeit- und kraftzehrenden Scheinproblemen erwachsen.

Mit manchen Überlegungen gerätst du in eine Zwickmühle, hemmst und versperrst du den Weg deines Handelns, zergrübelst du deine Kraft in ineinander verbissenen Paradoxien. – „Wenn ich das schicke Sakko anziehe, hält sie mich für einen Snob. Wenn ich die zerschlissene Jeans trage, denkt sie vielleicht, ich sei ein Freak.“ – Hier kommst du leicht raus. Denn die Wenn-Sätze stellen keine vollständige und erschöpfende Alternative dar: Du bist nicht gezwungen, zwischen Sakko und Jeans zu wählen – zieh doch das grüne Shirt und die hellbraune Marken-Cordhose an!

Du gehst nach dem Regen den umlaubten Pfad durch die Gärten und gelangst unversehens an eine große Pfütze, die du mit einem Schritt nicht nehmen kannst. Also wendest du dich ein paar Schritte zurück, nimmst Anlauf und überwindest die Hürde. Du machst weiter deinen Weg, indem du auf diese Weise scheinbar den Rückweg antrittst. Du kommst ebenfalls weiter, wenn es dir gelingt, Hindernisse mittels Umwegen zu umgehen.

Du bist mal wieder spät dran und musst zur Arbeit. Wenn du die frühe Bahn noch erreichen willst, musst du dich sputen und hetzen. Wenn du dich abhetzt, könnten dein Herz und dein Kreislauf verrückt spielen, so wie kürzlich. Und wenn das passiert, kannst du die Fahrt zur Arbeit ganz vergessen. Wenn du dich indes in aller Ruhe und Gelassenheit fertig machst und die nächste Bahn nimmst, kommst du garantiert zu spät – und das nicht zum ersten Mal in diesem Monat. Dir könnte daraufhin eine Abmahnung drohen. – Nun, aus dieser Zwickmühle schlüpfst du ins Freie, indem du eine Güterabwägung anstellst: Es liegen jeweils hier das Gut Gesundheit, dort das Gut Arbeitsplatz in den Waagschalen. Da aber Gesundheit das primäre Gut ist, da du als kranker Mensch deiner Arbeit nicht mehr nachgehen kannst, neigt sich die Waage auf der Seite „Gesundheit“. Also bleibst du ruhig und nimmst in aller Gelassenheit das Risiko einer Abmahnung in Kauf. Solltest du abgemahnt werden, böte dir dies die Chance, über einen neuen Arbeitsplatz nachzudenken, an dem du immer frühzeitig erscheinst, weil er deinen Fähigkeiten und Neigungen besser entspricht oder wo dich freundlichere Kollegen begrüßen.

Du fürchtest dein Gesicht und dein Ansehen zu verlieren, wenn du vor den Blicken deiner Mitschüler, deiner Lehrer, der Prüfungskommission, deiner Freunde, deines Partners eine bestimmte Leistung nicht erbringst oder in nur eingeschränktem Maße erbringst, bestimmten Ansprüchen nicht genügst oder nur in eingeschränktem Maße nachkommst. – Anstatt dich über längere Zeit vergeblich abzustrampeln, ohne deine Ziele zu erreichen, weil du ihnen am Rande deiner Kräfte und Möglichkeiten hinterherhechelst, solltest du überlegen: Ein Ziel, das zu erreichen oder in befriedigendem Maße zu erreichen deine Kräfte und Fähigkeiten nicht ausreichen, solltest du nicht länger zum Mittelpunkt deiner Absichten machen. Also wechselst du die Schule oder das Studium und erlangst bessere Noten und die ersehnte Anerkennung. Wenn dir deine Freunde oder dein Partner das von dir gewünschte Maß an Aufmerksamkeit, Nähe und Zuwendung entziehen, weil du ihren Ansprüchen und Erwartungen nicht genügst, streiche ihre Namen und Adressen aus deinem Telefon- und Adressbuch! Suche dir Freunde und Partner, bei denen Erwartung und Erfüllung, Anspruch und Zuspruch ins Gleichgewicht gelangen.

Nichts ist weniger ohne Sinn und Funktion als die Tatsache, dass wir weite Strecken unseres Lebens uns unserer Zustände, Erlebnisinhalte und Absichten bewusst sind. Nichts ist weniger sinnlos als die Tatsache, dass wir uns täglich und stündlich Gedanken machen über unsere Lage, unsere Möglichkeiten, unsere Grenzen sowie die eigenen Ziele und Absichten und die Ziele und Absichten der anderen.

„Wenn ich jetzt dies tue, bewirke ich dann jenes.“ „Wenn ich jetzt dies tue, erreiche ich irgendwann jenes.“ „Wenn ich jetzt dies unterlassen, laufe ich Gefahr, jenes zu verpassen oder zu verlieren.“ Mit solchen Fragemustern und Musterfragen kommen wir weiter. „Wenn ich jetzt eine Pause an der Raststätte einlege, kann ich mich vom Stress etwas erholen und vermindere das Unfallrisiko.“ „Wenn ich diesen Job annehme, habe ich für die nächste Zukunft ausgesorgt.“

Weil du Gedanken dieser Art bilden kannst, darfst du es dir leisten, ohne Fesseln des Instinkts – gleichsam frei – herumzulaufen. Denn du kannst dir bewusst machen, vorstellen, imaginieren, was passieren würde, wenn du dieses tust oder jenes lässt. Zwar wird dir schwindlig, wenn du zu hoch steigst, aber leider nicht, wenn du zu hoch mit faulen Derivaten spekulierst, auf lahme Gäule wettest oder blind auf den falschen Partner, Freund, Kompagnon setzt. „Wenn ich in der Gesellschafterversammlung einen Antrag auf Aufnahme eines neuen Kredits stelle, könnte mir mein Geschäftspartner das Misstrauen aussprechen.“ Mittels des konditionalen Satzgefüges machen wir uns alternativer Abläufe in Ereignisreihen und Handlungsketten bewusst, die uns die Entscheidung für das risikoärmste oder risikoärmere, das erfolgversprechendste oder eher erfolgversprechende Handeln ermöglichen oder erleichtern.

Leute und insbesondere Philosophen, die fragen, weshalb sich „die Natur“ eine so kostspielige, aufwendige „Investition“ wie das menschliche „Bewusstsein“ leiste, stellen mit dieser Frage und Fragen dieser Art unter Beweis, dass es sich bei ihrem Bewusstsein in der Tat um einen überflüssigen Luxus handelt. Natürlich werden in der Natur keine Investitionen getätigt, das zu tun ist allein Menschen im Rahmen zivilisierter Institutionen wie Geld, Banken und Märkten möglich.

Philosophieren heißt ruhig werden und beunruhigende, aber irregeleite Fragen auflösen. – „Alles hat seine Zeit, alles hat einen Anfang in der Zeit – und die Zeit selbst?“ Hier beißt sich die Katze in den Schwanz, die Schlange verschlingt sich selbst, und dem verirrten Frager gelingt es nicht, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf seiner selbstgegorenen Aporien zu ziehen.

Wie es zu unserem Begriff der Person gehört, verkörpert zu sein, und zu unserem Begriff des Körpers, Raum einzunehmen, so gehört es zu unserem Begriff der Zeit, Anfangspunkt, Verlauf und Endpunkt eines Ereignisses oder einer Handlung zu bezeichnen. Der Begriff der Person ist keine Person, der Begriff des Körpers ist kein Körper und der Begriff der Zeit hat keinen Anfangspunkt, keinen Verlauf und keinen Endpunkt.

„Was machte Gott, bevor er die Welt schuf?“ „Die Ruten, mit denen er am Jüngsten Gericht die Leute züchtigen wird, die solche Fragen stellen!“

Unlösbar scheinende Fragen sind falsch gestellte Fragen. Unlösbar scheinende Probleme sind Scheinprobleme.

Es gibt immer ein mehr oder weniger offener, mehr oder weniger lichter Horizont möglicher Antworten, wahrscheinlicher Alternativen. Wenn der Horizont sich wie aufeinander gepresste Lippen endgültigen Schweigens verengt, wenn am Horizont die ewige Nacht aufzieht – lass das Ruder deines schwanken Lebenskahnes fahren dahin, lehne dich weit zurück und nähre deine Blicke zum letzten Mal mit dem Licht der langsam verlöschenden Sterne, verströme Dankbarkeit noch mit deinem letzten Atemzug.

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