Philosophieren VI
Einzusehen und festzustellen, dass wir als biologische Spezies oder dass du als bewusst Erlebender einen singulären Ort unter singulären Bedingungen in einer so und nicht anders aufgebauten, aber auch ganz anders aufbaubaren kosmischen Umwelt lebst, fügt einer Einsicht und Feststellung wie „In diesem Viertel wohne ich“ oder „Wasser setzt sich aus den Elementen Helium und Sauerstoff zusammen“ oder „Berlin ist die Hauptstadt Deutschlands“ keinen ontologischen Mehrwert hinzu: Einsichten und Feststellungen dieser Art liegen gleichsam auf derselben Ebene, wie alle Einsichten und Feststellungen – sie stimmen oder eben nicht.
Mit Feststellungen solch allgemeiner Art wie der genannten verbindet sich leichthin ein Gefühl des Erhaben-Schauerlichen oder der Verlockung, in transzendentale Abgründe zu rutschen oder auf Gipfel metaphysischer Aussichten zu klettern. Aber dies ist eine Luftspiegelung, die gerne von geschickten Geistesgauklern als Instrument ihres Hintersinns missbraucht wird. In Wahrheit hat der Satz „Ich bewohne den Planeten Erde in einem Sonnensystem der Galaxie“ keinen tieferen Sinn als der Satz „Ich wohne in Frankfurt am Main“.
Umgekehrt kannst du den Satz „Ich wohne in Frankfurt am Main“ mit demselben Aura-Dunst des Tiefsinnigen und Rätselhaften umhüllen wie den Satz „Ich bewohne den Planeten Erde in einem Sonnensystem der Galaxie“.
Wenn du lange genug auf einfache Feststellungen der Art starrst wie „Ich bin jetzt hier, sitze leibhaft vor diesem Tisch, in diesem Zimmer, in dieser Stadt, in diesem Land, auf diesem Planten, in diesem Sonnensystem, in dieser Galaxie und bin mir all dessen bewusst“ kannst du in dir leichthin ein Gefühl des Schwindels erzeugen und mit diesem geraten all jene Sätze in ein Schillern und Flimmern.
Aber dass du dir dessen bewusst bist, was du sagst, diese Tatsache gehört für uns in den Bedeutungskern des Begriffs „sagen“. Wenn du schlafwandelnd zu mir sagst „Morgen breche ich auf nach China!“, würde ich angesichts deines somnambulen Zustandes den von dir gerade ausgesprochenen Satz als nicht echt und wahrhaft gemeint durchstreichen und nicht befürchten, dich übermorgen in der Transsibirischen Eisenbahn vermuten zu müssen – auch wenn dein dreimalkluger Psychoanalytiker sich mit der Zunge schnalzend auf diesen Satz stürzt, weil in seinem verrückten System unbewusst gesprochen werden kann. In unseren Kreisen, wo wir kleinen, gleichsam einmalklugen Leute uns mühsam und mit Bedacht in wachen Momenten durchs Leben schleppen, gilt: Dass wir dem Sprecher unterstellen, dass er sich absichtsvoll äußert, das heißt sich des Inhalts, des Adressaten und der absehbaren Wirkung seiner Sätze bewusst ist, gehört für uns zum Bedeutungskern des Begriffs „sagen“.
Als Antwort auf die Frage „Wo wohnst du?“ hören zu müssen „Ich wohne auf dem Planeten Erde“ oder gar „Ich wohne in der Galaxie“ oder auf die Frage „Was machst du gerade?“ hören zu müssen „Ich sitze vor meinem Tisch auf dem Planeten Erde“ oder gar „Ich sitze vor meinem Tisch in der Galaxie“ erscheint uns nicht nur nicht angemessen, sondern klingt geradezu verrückt in unseren auf mittlere Frequenzen des Sinns gestimmten Ohren. Du würdest dir deinen Teil denken und dich aus dem Gespräch flüchten. Ich würde sagen: „Nun spiel dich mal nicht so auf und komm auf den Teppich!“ oder: „Lass den Firlefanz und komm auf den Boden der Tatsachen zurück!“
Der Boden der Tatsachen ist natürlich eine Metapher. Sie zielt auf die Struktur und den Inhalt der Formel: „Wer sagt was wem wie wann und wo?“ Mit dieser Formel kommen wir klar, erfassen wir unsere Lage, ziehen die Grenze dessen, was wir gut, klar, angemessen sagen können und was nicht – wobei diese Grenze aus dem Teleskop vom Sirius aus betrachtet oder wie man so schön zu sagen pflegte „sub specie aeternitatis“ sich wie ein Aal schlängelnd fließt und weiterkriecht – allerdings in einem Tempo, das unsere gegenwärtigen Bemühungen um Genauigkeit und Angemessenheit des Ausdrucks nicht einschränkt und nicht zu beunruhigen braucht.
Du hörst, wie im Hof der Automotor anspringt, wie eine Tür zuschlägt. Der Mann, der den Motor anlässt, hat nicht die Absicht, dir mittels des Motorengeräusches mitzuteilen, dass er jetzt im Begriff ist, wegzufahren. Er verfolgt mit dem von ihm indirekt erzeugten Geräusch überhaupt keine Absicht. Die alte Frau vom Nachbarhaus, die die Haustür hinter sich zuschlägt, hat nicht die Absicht, dir mitzuteilen, dass sie jetzt im Begriff ist, in ihre Wohnung zurückzukehren. Die Frau verfolgt mit dem von ihr direkt erzeugten Geräusch überhaupt keine Absicht oder eine Absicht, die nicht dir gilt, sondern ihren Mitbewohnern, nämlich sich als die penetrante und impertinente Person in Erinnerung zu rufen, die die Türen immer zu laut ins Schloss fallen lässt. Geräusche dieser Art können dir etwas mitteilen, dich über ein Geschehen deiner Umwelt ins Bild setzen: Aha, der Nachbar fährt weg. Ach so, die impertinente Alte von Gegenüber kommt zurück.
Vögel zwitschern. Die Tiere erzeugen die zwitschernden Klänge nicht in der Absicht, dir etwas mitzuteilen. Ob sie die Klänge mit der Absicht hervorbringen, einander etwas mitzuteilen, könnte man allenfalls fragen. Dennoch kann Vogelgezwitscher dir Informationen über die Umwelt und dich selbst übermittel: dass es früher Morgen ist oder dass du heiterer Stimmung bist, weil du das Zwitschern mit der Erinnerung an eine schöne Ferienwanderung verknüpfst.
Das Telefon klingelt. Du hebst ab, und der von dir erwartete Anrufer meldet sich mit Namen. Das Klingeln des Telefons ist ein vom Anrufer mit der Absicht erzeugtes Geräusch, dich aufzufordern, den Hörer abzunehmen und mit ihm zu sprechen.
Du steigst mit einem Freund einen steilen Berghang hoch. Plötzlich ruft er: „Achtung, Steinschlag!“ Du weichst unwillkürlich zur Seite und schaust nach oben, wo du herabfallende Steine zu erblicken erwartest. Gefragt, was dein Freund dir mitgeteilt hat, wirst du korrekt antworten, er habe dir eine Warnung ausgesprochen und zur Verdeutlichung und Akzentuierung der Tatsache, dass er dich warnte, den Sprechakt des Warnens als solchen mit dem Ausruf „Achtung!“ explizit gemacht. Er hätte auch bloß ausrufen können „Steinschlag!“, und mit genügend Impetus hervorgebracht, hätte diese Warnung bei dir dieselbe Reaktion ausgelöst.
Für einen der deutschen Sprache nicht Mächtigen ist der Ausruf „Achtung, Steinschlag!“ ein bloßes Geräusch, dem Naturlaut des Vogelrufes ähnlich: Es sagt ihm nichts, bleibt unverständlich und bedeutungslos. Welche Eigenschaften machen den Ausruf für uns verständlich und bedeutungsvoll? Nichts an der Lautung „Stein“ verweist auf einen Stein. Gäbe es eine natürliche Verbindung zwischen der Lautung „Stein“ und der Bedeutung Stein, könnte „pierre“ im Französischen nicht dasselbe bedeuten. Wir haben die Verbindung zwischen dem Laut und dem Begriff erlernt, immer wieder den Laut im selben Wahrnehmungsumfeld bilden gehört und dann selbst gebildet. So wenn wir als Kinder mit Steinen gespielt, mit Steinen geworfen, mit Steinen Häuser und Türme gebaut haben. Laut und Begriff und ihre Verknüpfung liegen ab einem bestimmten Zeitpunkt im Gedächtnis zur jederzeitigen Abrufung bereit. Doch die Verbindung ist nicht sehr fest gespannt, sondern gleichsam elastisch. Wir müssen nicht in jedem Falle genau angeben können, ob es sich hier um einen großen Kieselstein oder doch um ein exotisches Ei handelt.
Wir benötigen keine Vorstellungen, Bilder oder Repräsentationen für das von den Wörtern Gemeinte, als hingen in der Galerie des Gedächtnisses die Bilder der Dinge, jeweils mit den Etiketten ihrer Namen versehen. Welche Vorstellung, welches Bild benötigst du, um den Ausruf „Achtung!“ zu kapieren?
Die Tatsache, dass wir mittels bedeutungsloser Geräusche, hervorgebracht mittels Nase, Lippen, Gaumen und Lungen, uns auf Begriffe und Bedeutungen beziehen, hat eine strukturelle Ähnlichkeit mit der Tatsache, dass wir mit einem rein physischen, bedeutungsfreien Objekt, unserer Hand, jemandem etwas bedeuten, etwas zeigen können, und scheint genauso merkwürdig zu sein wie die Tatsache, dass wir aufgrund der guten Leistungen unseres begriffs- und bedeutungsfrei vor sich hinrechnenden neuronalen Netzwerks die Umwelt und etliches an uns selbst bewusst erleben und unendlich viele bedeutungsvolle Sätze hervorzubringen und zu verstehen imstande sind.
Hier müssen wir uns wieder vor den Luftspiegelungen hüten und die Gaukler des Hintersinns maßregeln. Schließlich kann unser bewusstes Erleben und unsere Fähigkeit zu semantischen Höchstleistungen nicht anders als kausal erklärt werden, nämlich hervorgebracht von unserem neuronalen Netzwerk. Die hier gerne hochgekitzelte steile Behauptung, man stoße halt auf letzte Grenzen der Erkenntnis und prinzipiell unlösbare Fragen, geht auf ein Missverständnis dessen zurück, was wir wohlweislich mit dem Begriff „Fragen“ meinen. Fragen tauchen auf, wenn das Spielfeld des Handelns sich unvermutet verengt. Die auftauchende Frage gleicht dem plötzlich den Weg versperrenden Hindernis – die Antwort lautet: Bleibe stets konstruktiv und warte, bis sich die Woge gelegt und der Nebel sich verzogen hat, oder untersuche die Umgebung und mach einen Umweg. Ein unübersteigliches, „absolutes“ Hindernis auf dem Weg des Fragens und Forschens kann es genauso wenig geben wie einen endgültigen, „absoluten“ Um- und Ausweg für alle künftigen oder möglichen Hindernisse, der damit jedes weitere Fragen überflüssig machen würde.
Rede nicht mehr von „Bewusstsein“ – und die Spannung lässt nach, aber auch der Kitzel. Bewusstsein ist ja kein Gegenstand in der Welt wie dieses Fässchen Salz vor uns auf dem Frühstückstisch, den du auffinden, beobachten, zerlegen und wieder zusammensetzen könntest. Vielmehr sind die Akte, die wir bewusst vollziehen, und unter diesen der Akt des Sagens, die Voraussetzung dafür, dass wir die Welt in gegenständliche und nichtgegenständliche Entitäten einteilen. Wir, die wir reden, sind nichtgegenständliche Entitäten, feierlich, aber unscharf Subjekt oder Selbstbewusstsein genannt, wir greifen mit den auf Objekte referierenden Begriffen unserer Sprache auf mögliche und wirkliche Objekte im Wahrnehmungsfeld oder in den theoretischen Begriffsnetzen zu. Daran ist so viel und so wenig ungewöhnlich wie an dem Satz: „Bitte, reiche mir doch das Salz herüber!“
Sind wegen der Tatsache, dass die Einteilung der Welt in Gegenstände die bewährte Leistung unseres absichtsvollen Sprechens voraussetzt, die Gegenstände oder, diese in den Sack der Welt gepackt, die ganze Welt nichts als Illusion, Einbildung, transzendentale Träumerei, Flammenschrift an der Wand des Unbewussten? Mitnichten. Denke an das berühmte Bild vom Fischernetz: Je nach Größe der Maschen fängst du die großen Barsche oder die kleinen Sardinen. Und die stillen deinen realen Hunger. Netze müssen ausgebessert, eingerissene Maschen geflickt und erneuert werden. So auch die Sprache und das Netzwerk unserer auf Gegenstände referierenden Begriffe. Wie fein ist das Sprachnetz der Botaniker, der Entomologen, der Geologen, der Zoologen, der Neurologen, der Archäologen – und ohne Unterlass sind die globalen wissenschaftlichen Netzwerker damit beschäftigt, neue Funde zu taufen, Begriffe neu zu untergliedern, Begriffshierarchien umzubauen. Und wenn am Nachbartisch zwei Gauner in Gaunersprache über den nächsten Coup reden, versuche herauszufinden, worüber sie reden, welches Gebäude, welche Bank, welche Devisen sie meinen!
Uns genügen Netze, mit denen wir Barsche und Sardinen einfangen können. Das übrige überlassen wir getrost den Wissenschaftlern mit ihren Quarks und ihrem fluktuierenden Ur-Vakuum, die mit immer feineren Messverfahren das menschliche Auge beschämen und immer entlegenere, immer winzigere Objekte einfangen – und den Dichtern, die so manchen bunten Vogel mit den subtilen Pfeilen Apolls abgeschossen haben.