Philosophieren IV
Wer sagt wem was wie wann und wo? Auch Reden ist bekanntlich ein Tun, wenn auch eines der besonderen Art. Auch dem Sprecher unterstellen wir rechtens eine Absicht, die er mit seiner Äußerung verfolgt und zu verwirklichen sucht. Die Art und Weise seiner Äußerung muss zu der von ihm verfolgten Absicht passen. Willst du etwas von mir wissen, solltest du mir eine Frage stellen. Willst du, dass ich dich auf dem Weg begleite, solltest du mich darum bitten. Willst du mich von dem Kontakt mit dem dubiosen Typen fernhalten, solltest du mich vor ihm warnen. Wenn wir nach dem Sinn oder der Bedeutung einer Äußerung fragen, können wir zumeist korrekt antworten, indem wir die Art und Weise, den Modus, der Äußerung nennen: Frage, Bitte, Befehl, Warnung, Behauptung.
Was meint er damit? Nun, er hat eine Frage gestellt. Wir können den Äußerungstypus auch explizit machen, indem wir ihn einleitend wie einen Indikator benennen. Hältst du dein Gegenüber für etwas begriffsstutzig oder ist dir daran gelegen, das Gewicht deiner Äußerung zu betonen, sagst du: „Ich frage dich, kannst du angesichts dieses Treuebruchs noch von freundschaftlichen Gefühle mir gegenüber reden?“ „Ich behaupte, das ist nicht der Fall!“ „Ich warne dich, tu das nie wieder!“ „Ich bitte dich, nur dieses eine Mal pünktlich zu sein!“
Wer sagt wem was wie wann und wo? Die Tatsache, dass wir mit unserem Tun und Lassen, mit unserem Reden und Schweigen überhaupt Absichten der unterschiedlichsten Art verfolgen, wurzelt in den Tiefen unserer biologischen Ausstattung: Immer strebend uns zu bemühen, stets auf dem Quivive, aufmerksam, auf der Hut und wachsam zu sein, wenn es nottut (und das ist oft der Fall), sind wir als natürliche Lebewesen angehalten: um zu leben und uns am Leben zu halten, um am sozialen Leben teilzunehmen und unsere Funktionen und Rollen im Spielfeld des Handelns einigermaßen korrekt, ordentlich, angemessen oder zufriedenstellend zu erfüllen.
Wer sagt wem was wie wann und wo? Wer neu in eine Firma, einen Verein, eine kirchliche Gemeinde oder einen Tennisclub eintritt, wird gut daran tun, höflich, zuvorkommend und freundlich aufzutreten, um sich den anderen Mitgliedern auf angemessene Art zu gesellen und die Grenzen der eigenen Rolle abzutasten, die es bei Strafe unangenehmer Sanktionen, übler Nachreden, beschämender Aussonderung oder gar des schließlichen Ausschlusses aus der Gruppe nicht zu übertreten gilt. Um diese Absicht zu erreichen, wird der Novize nicht ständig das Maul aufreißen und wichtigtuerisch gestikulierend lautstark seinen Senf zu allem und jedem dazugeben, sondern einen höflichen Ton anschlagen, sich zurückhalten, wenn die Vorgesetzten, die Älteren und Erfahrenen das Wort führen und auf Fragen angemessen, reserviert, aber bestimmt, antworten. In der Rolle des Neulings, des Debütanten, des Anwärters, des Azubis, des Novizen dämpfst du den Ton und trittst eine Weile verhalten auf.
Die Äußerungen des Polizisten, des Richters und Staatsanwalts, des Gerichtsvollziehers, des Arztes, des Prüfers, des Beichtvaters wiegen schwerer als die des Temposünders, des Delinquenten, des Schuldners, des Kranken, des Fahrschülers, des reuigen Sünders. Äußerungen dieser Art, von Amts- und Respektspersonen vorgebracht, sind mit institutionellem Gewicht befrachtet: sie zu bekritteln und zu bemäkeln, gar sie zu ignorieren und zurückzuweisen, ist nicht ratsam. Denn Anweisungen, Befehle und Urteile zu ignorieren, die mit amtlicher und institutioneller Autorität bewehrt sind, hat für den Ignoranten unangenehme Disziplinierungsmaßnahmen oder empfindliche Einschränkungen, Zurechtweisungen und Strafen zur Folge.
Du kannst die Grade der Verbindlichkeit des Gesagten auf einer Skala abtragen, die vom Nullpunkt unverbindlichen Geschwätzes bis zum Gipfelpunkt von Äußerungen wie Befehlen, richterlichen Urteilen, amtliche Verlautbarungen, Verkündungen von Verfassungsartikeln und Gesetzen, Namensvergaben wie bei der Taufe oder Treue- und Vertragsversprechen wie beim Ehegelöbnis reicht: Mit Äußerungen dieses institutionellen Gewichts werden die Tatsachen und Strukturen der sozialen Welt erzeugt.
Am Rande sei vermerkt, dass die Frageformel „Wer sagt wem was wie wann und wo?“ auch aufschlussreich für den Bereich des sakralen und poetischen Sprechens ist. Dem mit dem Charisma von Berufung und Auserwählung begabten Menschen wie Buddha oder Jesus wird in ihren Äußerungen die Autorität des Heiligen verliehen, die ihre Sprüche, Segnungen, Verfluchungen und Gleichnisse unantastbar macht. Dem mit dem Charisma von Einweihung und Genialität begabten Menschen wie Goethe oder Bashô wird in ihren Äußerungen die Autorität der Meisterschaft verliehen, der ihre überlieferten Werke zu erleuchteten Vorbildern macht.
„Ich erwarte dich hier morgen um die gleiche Zeit.“ Die Anwendung unserer Begriffe für Akteure, Handlungsarten mit ihren Zeitstufen und Zeitmodi, direkte und indirekte Objekte, Zeitpunkte oder Zeitstrecken und Orte ist im lebensweltlichen Umgang nicht streng formal und definitiv geregelt. Die Vagheit der Spielräume verengt sich unter Hinzuziehung der Koordinaten der Umgebung: Wenn wir jetzt in einem Park wandeln oder am Ausgang des Parks stehen, erwarte ich dich morgen an anderen Stellen, als wenn wir uns an der Tür meiner Wohnung verabschieden. Das implizit Mitgemeinte bei der Verwendung von Sätzen mit vagen Zeit- und Ortsadverbien kann explizit gemacht und durch Erläuterungen präzisiert werden. Dieses Verfahren ist geboten, wenn Missverständnisse und Unklarheiten zu befürchten sind.
Wird die Aussage „Ich erwarte Sie hier morgen um die gleiche Zeit“ von einem Staatsanwalt oder Untersuchungsrichter verlautbart, wird ihr qua Amtsautorität des Sprechers die Eigenschaft einer Anordnung verliehen, die zu ignorieren Sanktionen wie Strafgeld oder Untersuchungshaft nach sich ziehen könnte. Das implizit Mitgemeinte muss nicht erläuternd präzisiert werden. Das richterliche Urteil letzter Instanz ist kein frommer Wunsch, keine laue Empfehlung, sondern eine Entscheidung mit der Autorität des nicht mehr einklagbaren Vollzugs.
Die Bedeutung von Äußerungen ist demnach sowohl abhängig vom Modus des Äußerungstyps als auch von Funktion und Befugnis des Sprechers sowie dem institutionellen Handlungsrahmen, in dem sie verlautbart werden. „Ich liebe dich“, zwischen den Kissen gehaucht, kann leicht und unverbindlich, ja trügerisch und betrügerisch über die Lippen kommen oder auch mit folgen- und tatenlos bleibendem romantischen Ton. Das Paar, das sich vor der kirchlichen oder amtlichen Autorität das Eheversprechen gibt, verpflanzt mit dem Jawort sein weiteres gemeinsames Leben in den Rahmen der Institution Ehe, die es mit gegenseitigen Erwartungen zu handeln und zu reagieren, mit gegenseitigen Rechten und Pflichten bis zur Versorgung und Pflege ausstattet. Wenn reden nichts kostet, trudeln die Worte wie leichte Blätter auf dem Sturzbach der Ereignisse. Reden, das nichts kostet, ist darum meist wertlos, luxurierendes Faseln.
Institutionen wie die Taufe oder die Ehe, bei denen mittels Worten soziale Tatsachen und langwährende Lebensumwelten geschaffen werden, haben so lange Bestand, wie es Menschen gibt, die an ihre Existenz glauben. Die Macht und Kraft des Glaubens verleiht ihnen institutionelles Gewicht, das gleichsam den Kahn mit genügend schwerer Fracht ausstattet, die ihn in den Wogen des Lebens tiefere, sichere Bahn finden lässt. Dass mittels der Einsegnungsworte „Hoc est enim corpus meum, hic est enim calix sanguinis mei“ im liturgischen Rahmen der Eucharistie Brot und Wein in Leib und Blut Christi verwandelt werden, wird aufgrund des Charismas und der Amtswürde des in der Nachfolge Petri handelnden Priesters und der Autorität der als heilig geglaubten Kirche glaubend angenommen.
Beschimpfungen aus losem Mundwerk treffen den gelassenen Menschen, der gerade befördert wurde und zu dem Beleidiger in keinem Nahverhältnis steht, ganz am Rande. Dem in die magischen Zwänge des Voodoo-Kultes Verstrickten kann die als sakrosankt geglaubte Verfluchung durch die Autorität des Priesters den Tod bedeuten.