Philosophieren als Diätetik
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Es gibt keine Pflicht, bestimmte Worte, Wendungen, Phrasen herunterzuschlucken, was alle reden, nachzuplappern und wiederzukäuen, was alle meinen, sich einzuverleiben und selbst zu glauben.
Worte, die wie abgewetzte Fetische ominös blinken.
Warum sollte man einem glauben, der im Brustton der Überzeugung verkündet, was er nicht versteht?
Vertreter gewisser Eliten, die das Wort für Geld und den Geist fürs Prestige unter das Volk bringen, sind entweder nicht grobsinnig genug, um nicht zu wissen, daß sie mit gepanschtem Wein handeln, oder nicht feinsinnig genug, um nicht zu glauben, was auf dem Etikett steht.
Die einen sind bösartige Lügner, die anderen aus grobem Holz geschnitzte Phantasten.
Die Entrüstung, wenn sie bemerken, da glaubt einer nicht an den Schwindel ihrer Etikettierung, nicht an IHRE Menschheit, IHRE Gleichheit, IHRE Würde.
Nicht ALLE können ALLES sagen.
Wenn nicht alle alles sagen können, gibt es einige, die über vieles nichts zu sagen wissen – auch wenn sie den Mund noch so voll nehmen.
Der Geiger kennt den Griff aus dem FF, der Laie sieht, hört und vertraut.
Das echte Urteil beruht auf dem Charisma des Richters, nicht der Autorität des Gesetzes.
Wir wohnen in einem Haus, dessen Grundriß wir nicht kennen.
Jeder erzählt dir eine andere Geschichte über das, was er aus dem Fenster blickend sah.
Doch alle schließen das Fenster, wenn es stürmt oder hineinschneit.
Nicht ALLE können ALLES ausdrücken oder darstellen oder schreiben.
Der Pöbel nur wähnt, ein jeder sei berechtigt, alles zu sagen, alles auszudrücken, alles zu schreiben.
Das überaus Seltsame an dem Haus, in dem wir wohnen, liegt in der Tatsache verborgen, daß sein Grundriß sich in langen Zeitstrecken allmählich verschiebt und verändert.
Du bist in einer Höhle eingeschlafen und wie im Märchen erwachst du in einem Palast.
Oder du bist wie in einer Gothic Novel in einem Palast eingeschlafen und erwachst in einer Höhle.
Wir teilen das Farbspektrum grobkörnig in die Reihe der Grundfarben auf, dann werden wir akribischer, genauer, subtiler oder verspielter und sagen „grünlichgelb“, „froschgrün“, „flamingopink“, „purpurrot“, „algengrün“, „blaß wie der Mond“, „rubinrot“, „lapislazuliblau“ – sehen wir besser oder reden wir mit geübterer Zunge?
Dichten gleicht dem Denken, insofern beide sich in neuen Bildern, Vergleichen, Analogien versuchen, um hinter eine verborgene Sache zu kommen oder um die Ecke zu schauen.
„Grün“ – nun, wir habenʼs vom Walde, vom Gras. Und dann Rilke: „Sinngrün“.
Tiefe Grübelei und Schwermut – sie fressen kein Gras und kein Grün. Trakl: „Die blaue Nacht ist sanft auf unsren Stirnen aufgegangen.“
Das Haus, in dem wir wohnen, es braucht festen Grund, ein Dach, eine Tür, die man Freunden und Gästen aufschließen und vor zudringlichem Gelichter und üblen Gesellen verriegeln kann, es braucht Fenster, Licht einzulassen und nach draußen zu schauen. Hat es einen Garten? Ist es eine Hütte, ein Mietshaus, eine Villa, ein Schloß? Welchem Baustil ordnen wir es zu?
Das Haus, in dem wir wohnen: die Sprache.
Ist sein Grundriß die Grammatik?
Die Wörter der Sprachen gleichen dem Geld, das in unterschiedlichsten Währungen auftritt, und ein Dollar kann gegen einen Euro gewechselt werden.
Nicht so die Grammatik, wir können die grammatische Struktur des Japanischen nicht auf die grammatische Struktur einer indogermanischen Sprache isomorph abbilden.
Vergleichen wir die Sprache mit einem Baum, sind die Wörter wie die Blätter oder Früchte, die Grammatik wie die Wurzeln, der Stamm oder die Zweige.
Als Wittgenstein die Ideen des Tractatus grundlegend revidierte, verglich er sich mit einem Baum, dem man alle Äste abgehauen hat.
Freilich, der Stamm und die Wurzeln blieben übrig.
Wir können durch Pfropfen eines Edelreises ein wildes Gewächs veredeln.
Wesentlich dabei: Die edle Blüte behauptet sich und nährt sich redlich am alten Stamm, ohne etwas vom Eigensten daranzugeben.
Nicht freilich können wir das Reis einer Rebe auf den Zweig einer wilden Rose pfropfen.
Wir können die Grammatik des Chinesischen nicht auf den Stamm des Indogermanischen pfropfen.
Was alles auf der Wasserfläche treibt, während die Tiefe des Sees gleichsam schläft.
Gehören die Formen des dichterischen Ausdrucks wie die unterschiedlichen Metren und Gedichtarten zur Oberfläche oder grammatischen Tiefe?
Hölderlin erfand einen Pindar scheinbar abgeschauten triadischen Neubau der deutschen Hymne. In welche Tiefe des Formbewußtsein senkte sie sich ab? Schläft sie noch in jenem Dunkel?
Wir können freilich keine odischen Maße auf die schlichten der Volksliedstrophe pfropfen, wenn nicht ein Monstrum zutage treten soll.
Nun wohl, die Degenerierten präferieren Monstren und Mißgebilde, die aus unreinen Mischungen stammen.
Die Edlen mögenʼs ungepanscht und unvermischt.
Es gibt kulturelle Epochen und Kulturen, in denen das Edle an Wuchs, Form, Geschmack und Ausdruck vorzüglich gedeiht, wie die Klassik unter Perikles, die Renaissance in Italien und Frankreich oder die Ein-Mann-Kultur Goethes.
Der vulgäre Massengeschmack panscht eine Lösung, die schon fade und wässrig war, mit scharfen und widerwärtigen Essenzen, um überhaupt noch etwas zu schmecken.
Was war früher: die Möglichkeit denken oder das Mögliche mittels der grammatischen Funktion des Konjunktivs darstellen?
Es gibt Grundrisse von Häusern, die ihren Bewohnern ein uns kaum nachfühlbares Fluidum des Daseins gewähren, wie das römische Atrium, welches das Haus nach innen öffnet und das Vergnügen eines Idylls in urbanem Umfeld gewährt.
Sind die Tempora und Modi des Verbs von jener basalen Ordnung für den sprachlichen Ausdruck wie die Klassifikation der Grundfarben für unsere visuelle Wahrnehmung?
Das Geräusch und der Ton der Tonskala, das Brabbeln des Kleinkinds und das distinkte Wort.
Wir unterscheiden den Ton, wenn wir seinen Nachfolger kennen oder um die Dominante, Subdominate oder Oktave wissen.
Wir unterscheiden ein Wort nur auf dem Hintergrund einer sinnvollen Reihe von Wörtern.
Grün gehört in die Reihe mit Blau, Rot und Gelb, Cumulus in die Reihe mit Cirrus, Stratus, Nimbus.
Wie können Zwischentöne und Nuancen nur auf dem Hintergrund der Grundtöne bilden.
Was sollen wir sagen, wenn sich Wolken chaotisch auflösen?
Symptome schlechter Verdauung, Symptome unreifen Denkens.
Der alles wahllos in sich hineinschlingt.
Der Überfeinerte, der nach scharf Gewürztem giert, oder der Überfressene, dem nichts munden mag und alles zuwider ist.
Der Gourmet des Denkens und der asketische Vegetarier.
Beckett hatte den Körper und das Gesicht seiner Sprache.
Dem etwas quer im Magen liegt, der unwirsche und griesgrämige Kritiker.
Manche Schreiber, denen man einen Magenbitter kredenzen würde, ließen erleichtert ab vom Schreiben.
Symptom schlechter geistiger Verdauung: der Hang zum Problematischen, das es zu bewältigen gilt.
Die sich schuldig fühlen, als hätten sie Menschenfleisch gegessen.
Kannibalen des schlechten Gewissens.
Wer die Dinge mit den Augen verschlingt, sieht kaum etwas.
Philosophieren als Diätetik. Nietzsche. Wittgenstein.
Leuten nicht die Hand geben, die (nicht nur physisch) schlecht riechen.
Sie riechen ja schlecht, weil sie faule Kost zu sich nahmen oder etwas, was sie nicht verdauen können.
Qualitäten der Dichtung, deren Valeurs, Stimmungen, Farben von der Sucht oder sexuellen Obsession ihrer Autoren geprägt sind (Baudelaire, Verlaine, Trakl).
Starkes Denken ist Ordnen, Säubern, Tilgen.
Doch wäre es töricht, Mauer für Mauer des Hauses abzutragen, um herauszufinden, welches die tragenden sind.
Fegen, kehren, ausräumen, um einen Überblick zu bekommen, ein wenig Klarheit. Indes nur vorläufig, denn ist man mit dem Hinterzimmer im Reinen, haben sich in der Küche schon wieder Staub und Kehricht angesammelt.
Freilich, wenn im Nebenraum eine tote Katze liegt und der Kadaver allmählich zu stinken beginnt …
Die Grundlage der künstlerischen Ordnung ist die Wiederkehr eines ähnlichen Musters, die mehr oder weniger freie, stärker oder schwächer abgewandelte Variation.
Jede künstlerische Ordnung ist mit der Aura eines originären Ausdruckgehalts behaftet, wie die dorische, korinthische und ionische Säulenordnung, die sapphische Ode und die pindarische Hymne, die Villanelle und das Sonett, der iambische Spottvers und die Elegie.
Der moralische Wert ist unter die Menschen so ungleich verteilt wie die Fähigkeit zum originellen künstlerischen Ausdruck.
Doch stehen beide bisweilen, befremdliche Abgründe eröffnend, in umgekehrtem Verhältnis zueinander.
Wer immer noch etwas zu sagen hat, wie Leute, die nach einem üppigen Mahl Schluckauf bekommen.
Zu viel Licht überblendet den klaren Gedanken.
Der Gehalt großer Dichtung – Schatten des Baumes, der im Lauf des Tages wandert.
Die hohe Hürde moralischer Heuchelei und Unredlichkeit nehmen nur einsame Riesen – oder die drüben leuchtende Felder frischen Blühens gewahrten, unbekümmert schillernde Falter und mit einem Stachel bewehrte Bienen.
Die Knollen des tiefen Gedankens sprießen im Zwielicht.
Wenn der Wind an den Läden rüttelt und Ziegel vom Dach reißt, wenn Schlossen und Hagelkörner an Simse und Scheiben klatschen und platzen, wenn in Gewitter und Sturm die Grundvesten erbeben, fühlen wir die Gewalt der Mächte, denen unser Haus ausgesetzt ist.
Aber wir sind es selbst, sind Verkörperungen der Urmacht, die wir Leben nennen.
Wie, wenn wir vom Einkaufen heimkehren und uns vorstellen, die Wohnung sei ausgeplündert, verwüstet, alle Dinge des Alltags umgestürzt, Papiere, Bücher, Bilder zerrissen, zerfetzt, verbrannt.
Wir können nicht mehr neu beginnen. Wir können uns nicht mehr an alles erinnern.
Wenn wir ganz still sind, hören wir die Gegenstimme der Erde, die sich in einem leisen Zittern und Rieseln der Fundamente des Hauses kundgibt.
Wir können das Haus der Sprache weder verlassen noch aus einem seiner Fenster schauen. Dies zeigt uns unerbittlich die Grenze aller Bilder, die wir uns von uns selbst und unserer Situation machen, ihren letzthinnigen Nonsense.
Lesen wir nach Jahr und Tag Tagebuchnotizen über unsere jugendlichen Wirren und erotischen und sonstigen Verstrickungen, finden wir diesen ganzen Wust recht abgeschmackt oder langweilig.
Dagegen dünken uns die dazwischengestreuten simplen Bemerkungen in simplen Worten über simple Alltäglichkeiten wie Regen, Schnee und Tauwetter, das Herumtollen des Hundes, das Reifen der Äpfel und Birnen im Garten, den lustig-exotischen Klang neapolitanischer Lieder aus dem Radio im verschneiten Dämmerlicht eines langen Winternachmittags voller Sinn und von bleibendem Gehalt.
Das scheinbare Triviale hat noch ärmlichen Glanz im dämmerigen Winkel unserer Erinnerung, die Funken und Irrlichter scheinbar außergewöhnlicher Ereignisse und Gefühlswallungen sind zerstoben und für immer ausgelöscht.
Freilich, in einem anderen dämmerigen Winkel unserer Erinnerung flackert eine Kerze vor einem Bild.
Das Bild ist das Zeugnis einer Begegnung mit einer charismatischen Gestalt, vor der wir geistig die Knie gebeugt haben.
Indes, es geschieht, daß einer die Kerze zu nah an die Ikone rückt, und sie fängt Feuer.
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