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Philosophie und Grammatik X

21.05.2019

Zeitstufen und Aktionsarten

Der Langsame überholt den Schnellen.

Um sagen zu können: „Es ist mir klar“ und „Ich weiß“, müssen wir zumeist auch sagen können: „Ich habe es kennengelernt“ oder: „Ich habe es bemerkt.“

Wir haben uns einen Überblick verschafft und sagen: „Jetzt sehe ich es!“ – Ariadne gab Theseus den Faden und so fand er aus dem Labyrinth, auf daß er sagen konnte: „Ich habe ins Freie gefunden“ oder: „Jetzt weiß ich den Weg!“

Der Übergang vom Indikativ Perfekt zum Indikativ Präsenz zeigt uns hierbei den zeitlichen Rahmen oder die temporale Szene an, in der wir uns schon immer bewegen.

Wir finden uns jeweils an einer Wegmarke oder an der Markierung eines Weges, dessen Bahn wir mehr oder weniger lang oder weit zurückverfolgen können, es ist ja unser mehr oder weniger verworrener, immer wieder unterbrochener und neu begonnener Lebensweg.

„Bis hierher und so weit sind wir gelangt“, können wir sagen; dabei ist „hier“ sowohl ein Ort wie ein porös geränderter oder an den Rändern gleichsam durchlöcherter Augenblick schwankender und inkonsistenter Gegenwart. Unter „lang“ und „weit“ verstehen wir immer zugleich eine räumlich wie eine zeitlich diffuse Erstreckung.

Erst kommt der Ort, an dem wir uns vorfinden und mit den Dingen und miteinander umgehen; so wenn wir mittels einer Brücke einen Übergang über einen Fluß vom einen zum anderen Ufer schlagen; erst die Brücke gibt uns den Ort, von dem aus wir das eine oder andere Ufer als diesseitig oder als jenseitig betrachten. Hernach finden und konstruieren wir als Handwerker, Ingenieure und Architekten unter Anlegung starrer Maßstäbe wie Topos, Tempus und Logos gleichsam den nackten rein dimensionalen Raum, den wir methodisch zerlegen und mehr oder weniger exakt vermessen.

Doch weder den Zeitpunkt noch den Ort, an dem wir uns jeweils aufhalten, an den wir zufällig gelangen oder von dem wir ausgehen wollen, betrachten wir zunächst und zumeist als einen apriorisch meßbaren geometrischen, topologischen oder temporalen Punkt.

„Jetzt“ gibt keinen wohldefinierten Zeitpunkt an, sondern eine Aktions- und Ereigniskoordinate, wie folgende Beispiele zeigen:

Jetzt können wir gehen.
Es ist jetzt nicht die Zeit der Trauer.
Jetzt war es zu spät, einer Begegnung mit ihr auszuweichen.

„Hier“ gibt keinen wohldefinierten Ort an, sondern eine Aktions- und Ereigniskoordinate, wie folgende Beispiele zeigen:

Hier war die Stelle, wo sie auf ihn warten sollten.
Hier geht es nicht weiter.
Hier wurde ihm plötzlich leicht ums Herz.

Das Feld der temporalen Bedeutsamkeit ist nicht apriori durch die Zeitstufen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft strukturiert, sondern von Aktionsarten und ihren Handlungs- und Ereigniskoordinaten durchkreuzt, die wir beliebig auf jene Zeitstufen hinstellen können, wie folgende Beispiele zeigen:

Er hat sich erhoben. = Er steht.
Er hatte sich erhoben. = Er stand.
Er ist gestorben. = Er ist tot.
Er war gestorben. = Er war tot.

Wir unterscheiden inchoative (anfangende), durative (währende), punktuelle und perfektive Aktionsarten; diese modalen Aktions- und Ereignisarten verwenden wir unabhängig von den jeweiligen Zeitstufen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wie folgende Beispiele zeigen:

Vergangenheit:

Inchoativ: Ich brach nach Hause auf.
Durativ: Ich war auf dem Heimweg.
Punktuell: Ich kehrte heim.
Perfektiv: Ich war heimgekehrt. = Ich war zu Hause.

Gegenwart:

Inchoativ: Ich breche nach Hause auf.
Durativ: Ich bin auf dem Heimweg.
Punktuell: Ich kehre heim.
Perfektiv: Ich bin heimgekehrt. = Ich bin zu Hause.

Zukunft:

Inchoativ: Ich werde nach Hause aufbrechen.
Durativ: Ich werde auf dem Heimweg sein.
Punktuell: Ich werde heimkehren.
Perfektiv: Ich werde heimgekehrt sein. = Ich werde zu Hause sein.

Mit allem, was wir sagen, beziehen wir uns auf einen zeitlichen Rahmen und auf den Handlungs- und Ereignismodus der Geschehnisse und Abläufe, die wir in ihn einordnen.

Betrachten wir folgenden Bericht:

An den Tropfen der Scheibe gewahrten wir, daß es regnete, also griffen wir nach unseren Schirmen und gingen dann am Ufer entlang.

Der Bericht gibt uns keine genaue Angabe über den Zeitpunkt des Geschehens, es ist irgendwann in der näheren oder ferneren Vergangenheit angesiedelt; genauere zeitliche Einordnungen müssen wir meist nachtragen, indem wir einen Zeithorizont aufreißen. So wenn wir heute von einer Begebenheit der letzten Woche berichten.

Der kurze Bericht gibt uns aber konkrete Hinweise auf die Aktionsarten: Wir gewahrten (punktuell), daß es regnete (durativ), griffen nach den Schirmen (punktuell) und gingen dann spazieren (durativ). Im Lateinischen und Altgriechischen könnten wir den Wechsel der Aktionsarten durch den Wechsel der Tempora (Perfekt und Imperfekt beziehungsweise Aorist und Imperfekt) ausdrücken.

Betrachten wir den Wechsel der inchoativen und durativen Aktionsarten an folgenden Beispielen:

Die Vögel beginnen zu zwitschern. – Die Vögel zwitschern.
Er verstummte. – Er schwieg.
Er erschrak. – Er fürchtete sich.
Er hat das Haus erworben. – Er ist Eigentümer des Hauses.
Sie bricht in Tränen aus. – Sie weint.
Er hat sich erhoben. – Er steht.
Er erinnerte sich an das Bild. – Das Bild schwebte ihm vor Augen.

Mittels der Betrachtung der verschiedenen Aktionsarten innerhalb unterschiedlicher Zeitstufen können wir das metaphysische Bild, das unsere Erlebnisse ins Innere eines mentalen Gefängnisses, des sogenannten Geistes, abkapselt und verschließt, leichter überwinden.

So wird beispielsweise klar, daß wir in gewöhnlicher Rede nicht ohne weiteres die Äußerung „Ich träume“ in einen sinnvollen Kontext einbringen können, wenn wir nicht gerade auf ironische Weise unser großes Erstaunen über eine unverhoffte Begebenheit bekunden wollen. Ansonsten sind wir gehalten, das Erzähltempus zu verwenden und zu sagen: „Ich träumte letzte Nacht“ oder: „Mir träumte letzte Woche.“ Wir sollten nicht wie Descartes eine Traumbühne aufschlagen, die jedes zeitlichen Rahmens ermangelt, und so der radikalen Skepsis den Boden bereiten.

Wir können den Gedanken auch so münzen: Alle sprachlichen Wendungen zum Ausdruck unseres Wahrnehmens und Erlebens haben – schon lange vor und unabhängig von uns – ihre Geschichte oder sind auf mannigfache Weise in Sprachgeschichten verwickelt und verstrickt. Wir können die Worte nicht erkenntniskritisch von ihrem historischen Flecken, Tinkturen und Einschlüssen reinigen, ohne ihren Sinn daranzugeben.

Oder anders gesagt: Die korrekte Verwendung aller sprachlichen Ausdrücke, auch der Ausdrücke für unser Wahrnehmen und Erleben, bedarf einer angemessenen Technik, die wir beispielsweise in der Rhetorik oder Stilistik auffinden. Denn wir können Träume so oder so erzählen, wie eine Zeitungsnotiz, eine Kurzgeschichte, eine Novelle oder ein Märchen, so wie es viele andere vor uns, berühmte wie Herodot oder Artemidor oder weniger berühmte wie ich und du, schon getan haben.

Wenn einer im Zimmer steht (durativ), muß er das Zimmer betreten haben (inchoativ). So auch mit unseren geistigen Erlebnissen: Wenn wir dessen innewerden, daß wir existieren und da sind, so ist gleichursprünglich die Welt mit all den Dingen und uns wichtigen nah und ferner stehenden Personen als jenes Feld der Bedeutsamkeit gleichsam mitgegeben oder heraufbeschworen, das wir durchschritten und durchquert haben, um an den Ort zu gelangen, wo wir uns jetzt unserer innewerdend befinden.

Wir sind mit dem Feld der Bedeutsamkeit, könnten wir sagen, schon von je, ohne uns darüber explizit Klarheit und Rechenschaft gegeben zu haben, in Kontakt und auf vertraulich-intimer Tuchfühlung: Wir müssen nicht ständig und bang nach den Nahtstellen suchen, an denen unsere Vorstellungen und Gedanken, Erinnerungen, Absichten und Erwartungen mit dem, was wir Wirklichkeit nennen, einklinken und einrasten. Wir schwimmen gleichsam wie leichte Blätter auf den mehr oder weniger stark und schwach strömenden Wassern der Wahrheit, auch wenn sie uns ins Unbekannte tragen, und nur wenn wir bang und unsicher um uns blicken, befällt uns die Furcht unterzugehen.

Wir halten fest: Die grammatischen Zeitstufen geben uns keinen absoluten zeitlichen Rahmen vor, sondern eine zeitliche Bühne, der wir nach Gusto und Bedarf eine mehr oder weniger tiefe und schattenreiche Perspektive geben können; dagegen ist die Verwendung der Aktions- und Ereigniskoordinaten innerhalb des gewählten Zeitrahmens festgezurrt und absolut.

Schauen wir uns noch folgende Sätze an:

Der Weise läßt seine Narrenkappe zu Hause.
Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer.
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.
Kleider machen Leute.

Der Mond ist der einzige Erdtrabant.
Keiner weiß, wieviel Uhr es in dem Schwarzen Loch im Zentrum unserer Galaxie ist.
Wenn Peter größer ist als Hans und Hans größer ist als Martin, ist Peter größer als Martin.
Wenn Peter Hans ähnlich sieht und Hans Martin, sieht Peter Martin (nicht) ähnlich.

Diese Sätze scheinen keine erkennbare Aktionsart aufzuweisen, die uns über den Beginn, die Dauer, die Aktualität oder die Vollendung der bezeichneten Handlung oder Beziehung aufklärt. Auch die jeweiligen zeitlichen Kontexte sind nicht transparent.

Bei den sprichwörtlichen Aussagen können wir das Verb durch einen Ausdruck wie „gewöhnlich“ oder „pflegen“ ergänzen, indem wir beispielsweise sagen: „Eine Schwalbe macht gewöhnlich noch keinen Sommer“ oder: „Der Apfel pflegt nicht weit vom Stamm zu fallen.“ Solche Sätze nennen wir gnomisch, sie drücken eine weisheitliche Sentenz aus, die „immer“ gilt, das heißt, solange anwendbar ist, wie es Sommer und Schwalben, Äpfel und Leute gibt, deren Herkunft wir ihnen leicht ansehen. Das Griechische verwendet in solchen Sätzen den gnomischen Aorist, der zum Ausdruck von Handlungen und Ereignissen ohne spezifischen Zeitrahmen dient.

Aber wie ist es um die gesetzesartig-logischen Aussagen bestellt? Sie scheinen apriori sowohl ohne Kennzeichnung der Aktionsart als auch ohne einen spezifischen Zeitrahmen auszukommen. Doch der Satz, daß der Mond der einzige Erdtrabant ist, ist gleichbedeutend mit der Definition, wonach wir den Erdtrabanten als Mond bezeichnen. Beim Indikativ Präsens der Definition handelt es sich um eine „Schein-Zeit“, will sagen, sie gilt für den operationalen Kontext, in dem wir sie verwenden. Im Übrigen gilt der Satz in dem von unserem Sonnensystem determinierten zeitlichen und gesetzesmäßigen Rahmen, in einem anders aufgebauten System könnte es auch mehrere Erdtrabanten oder keinen geben.

Daß wir nicht wissen, wieviel Uhr es in dem Schwarzen Loch im Zentrum unserer Galaxie ist, ist eine Scheinaussage, denn in Hinsicht auf eine Umgebung, die keine Zeitmessung erlaubt, kann man nicht nach der Uhrzeit fragen.

Die Namen in der Größer-als-Relation können wir durch Buchstaben ersetzen und somit die ganze Aussage formalisieren; Formeln aber haben den Verwendungskontext, den wir frei wählen. Wenn wir die Namen in der Relation indes mit Daten über lebende Personen etikettieren, so haben wir einen Zeitrahmen, nämlich den ihrer Biographien.

Wir haben keine allgemein gültigen Regeln für die Anwendung der Ähnlichkeitsrelation; denn es gilt:

Wenn Peter Hans hinsichtlich der Nase ähnlich sieht und Hans Martin hinsichtlich der Nase, sieht Peter Martin hinsichtlich der Nase ähnlich.

Doch es gilt auch:

Wenn Peter Hans hinsichtlich der Nase ähnlich sieht und Hans Martin hinsichtlich der Augen, folgt daraus nicht, daß und inwiefern Peter Martin ähnlich sieht; Peter könnte Martin sowohl hinsichtlich von Nase und Augen als auch hinsichtlich von Mund oder Haaren ähnlich sehen.

Die Wahrnehmung von Ähnlichkeit ist eine wichtige Form unserer Orientierung im Alltag; sie betrifft auch die Handlungen und Ereignisse, die wir mittels der genannten Aktionsarten zum sprachlichen Ausdruck bringen. Hier sind insbesondere die Vergleiche einschlägig, die wir Metaphern nennen; so sagen wir etwa:

Er schlich einher wie ein Fuchs.
Er hat sich wie ein Pfau gespreizt.
Sie gackerte immerfort.
Sie benahm sich gegen ihre Kleinen wie eine Glucke.
Ihr Gang war anmutig wie der einer Gazelle.

„Der Langsame überholt den Schnellen.“ – Der Schnelle: der das Nahe oder was vor Augen liegt überspringt; der Langsame: der bedachtsam seines Weges geht und das Seine vollbringt.

 

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