Skip to content

Philosophie und Grammatik VI

06.05.2019

Wer? Was?

„Wer ist da (das)?“ – „Wer ist alles gekommen?“ – „Was liegt dort auf der Matte?“ – „Was hast du mir da Schönes mitgebracht?“ – „Und was geschah dann?“ – „Was hat er gesagt?“

Wir fragen nach einem Gegenstand (Wortfrage) oder einem Sachverhalt (Satzfrage).

Die Wortfrage wird durch das Fragewort „Wer?“ klar markiert, dem Fragewort „Was?“ dagegen steht es nicht an der Stirn geschrieben, ob es sich um eine Wortfrage oder eine Satzfrage handelt.

Zur Verdeutlichung des Fragesinns und um den Unterschied zwischen Wort- und Satzfrage ans Licht zu heben, können wir die Fragesätze umformen; so erhalten wir:

„Wer ist dieser Mann (diese Frau) da?“ – „Welche Leute sind alle gekommen?“ – „Welches Tier liegt dort auf der Matte?“ – „Was für ein Geschenk (welche Blumen) hast du ihr mitgebracht?“ – „Wie ging es dann weiter?“ – „Welchen Satz hat er geäußert?“

Die Fragen enthüllen ihre Bedeutung, wenn wir sie im Umfeld ihrer möglichen und sinnvollen Anwendung betrachten. Der Anwendungskontext tritt jeweils in den erweiterten Fragen zutage; wir fragen nach Personen, wenn wir fragen „Welcher Mann, welche Frau, was für Leute“, wir geben die zugehörige Art an, wenn wir fragen „Was für ein Tier?“ oder „Was für Blumen?“ und erwarten „der Hund“, „die Katze“ oder „Rosen, Chrysanthemen, Lilien“ zur Antwort.

Was dann geschah, läßt sich nicht mit einem Wort sagen, und was er gesagt hat, muß mindestens ein Satz sein. Doch wir können auch Satzfragen bilden, die nur mit einem Wort, einem Ja oder Nein, zu beantworten sind wie: „Wohnt er noch bei seinen Eltern?“ Diese Frage signalisieren wir im Deutschen mittels der Umkehrung der Satzstellung, der Inversion, während der volle Fragemodus in anderen Sprachen wie dem Französischen deutlicher hervortritt: „Est-ce quʼil habite toujours chez ses parents?“

Wenn einer, von einem Geräusch aus dem Schlaf geschreckt, ausruft: „Wer da?“, verstehen wir, was er meint; immerhin, so können wir sagen, wer so fragt, erwartet eine Antwort – insofern impliziert die Frage, daß er nicht davon ausgeht, ein Tier habe das Geräusch verursacht.

Wir kennen das Spiel, das Kinder mögen, einen Freund zu überraschen und ihm von hinten mit beiden Händen die Augen zuzuhalten. „Wer ist das?“, mag der Überraschte fragen, wenn er nicht weiß, um welchen Schelm es sich wohl handeln mag. „Bist du’s?“, mag Peter ausrufen und seinen Freund Hans meinen, wenn er mit Hans verabredet ist.

Peter und Hans waren Spielkameraden und haben lange dieselbe Schulbank miteinander gedrückt. Die Zeitläufte haben sie sich aus den Augen verlieren lassen. Im vorgerückten Alter kommt es zu einer Wiederbegegnung; doch nicht nur die Spuren des Alters machen es Peter schwer, Hans wiederzuerkennen, Hansens Gesicht ist zudem infolge eines schweren Unfalls gezeichnet und entstellt. Die beiden erscheinen zum verabredeten Treffpunkt; da mag Peter fragen: „Bist du es?“

Wenn Peter mit der Frage einen Zweifel an der Identität seines Gegenübers äußern würde, könnte er leicht ausgeräumt werden: Hans erinnert seinen alten Freund an die gemeinsamen Tage der Kindheit und erwähnt diesen und jenen Bubenstreich, für den sie mit Stubenarrest büßen mußten, oder an Helga, die mit Peter kokettiert hat, aber dann doch mit Hans gegangen ist.

Doch nehmen wir an, Peter träumt davon, seinen alten Freund Hans wiederzusehen; doch er sieht im Traum so fremd, so anders aus, als er in der Jugendzeit war, geradezu entstellt, sodaß Peter ihn zweifelnd fragt: „Bist du es wirklich?“ Und Hans erzählt ihm zur Bestätigung von einem jener gemeinsam vollbrachten Bubenstreiche, für den sie mit Stubenarrest büßen mußten. – Würden wir sagen, dadurch sei Peters Frage nach der Identität der Traumgestalt ausgeräumt?

Der Traum, können wir sagen, ist kein adäquater Anwendungskontext für Fragen wie „Bist du es?“ oder „Wer ist da?“ Ja, er ist überhaupt kein Ort, Fragen zu stellen, auf die wir Antworten erwarten dürften, deren Sinn einer Überprüfung standhielte.

Hans hat zum Treffen mit Peter alte Fotos mitgebracht, die beide im Kreise anderer Schulkameraden und mit dem ehemaligen Klassenlehrer zeigen. Würden freilich solche Bilder Peter im Traum vor Augen kommen, wären sie wie Bilder, die beim ersten Tageslicht verblassen, und ihr Zeugniswert entspräche dem Wert von selbst gemalten Phantasiegeldscheinen, die an der Supermarktkasse nicht angenommen würden.

Für im Traum gesehene Bilder kennen wir keine öffentliche Instanz, wo sie als Beweismittel eingebracht und geltend gemacht werden könnten.

Wäre Peter ein Protagonist in einem Theaterstück, in dem er in der Dämmerung von einem Geräusch aufgeschreckt wird, und auf seine bange Frage „Wer ist da?“ würde der Schauspieler, der seinen Freund Hans spielt, antworten „Ich bin’s!“, könnten wir nicht fragen, ob Peter durch Hansens Antwort nicht getäuscht werden könnte, und der Schauspieler, der Peter spielt, könnte sich nicht fragen, ob sein Kollege, der Hans darstellt, ein anderer sein könnte; das hieße ja, ihm zu unterstellen, er hätte sich im Stück geirrt.

In fiktionalen Kontexten wie einer Erzählung oder einem Theaterstück verlieren Fragen wie „Wer ist da?“ oder „Wie heißt du?“ ihren normalen Sinn, denn die Äußerungen, die als ihre Beantwortung laut werden, können ähnlich wie in Träumen nicht angezweifelt werden. Fiktionale Kontexte berauben, könnten wir sagen, solche Fragen ihres alltagssprachlichen Gewichts, das ihnen die Forderung nach Wahrhaftigkeit oder die Wahrheitsbedingung verleihen.

Natürlich könnte es sich um eine Verwechslungskomödie handeln, in der Peter nach langer Zeit seinem Jugendfreund Hans wiederzubegegnen glaubt, doch ohne es zunächst zu bemerken, trifft er nicht auf Hans, sondern auf dessen Zwillingsbruder Karl, der sich als Hans ausgibt, um ihn an der Nase herumzuführen oder ihm ein Geheimnis zu entlocken. Doch Peter kommt ihm auf die Schliche, denn wie die greise Magd bei Homer den alt gewordenen Odysseus an seiner Narbe am Fuß erkennt, die er schon als Kind hatte, erkennt Peter Karl an seiner Stimme, als er auf seinen Wunsch ein Lied zum besten gibt, das nur er, Karl, mit solcher Klarheit und solchem Ausdruck damals gesungen hat, als sie in ihrer Jugend zu dritt auf Wanderschaft waren.

Freilich, die Komödie ist ein Spiel, und die gespielte Erinnerung (Peters an Karls Singstimme) ist, wie wir sagen, keine wahre Erinnerung, und die vorgetäuschte Identität (Karls in der Maske von Hans) ist im fiktionalen Kontext eine doppelte Täuschung und hebt sich somit gleichsam auf. Denn der Schauspieler, der Peter spielt, weiß ja, daß Karl, der im Stück so tut, als sei er Hans, in Wahrheit nicht Karl ist, sondern sein Schauspielkollege, der Karl spielt, und wenn er weiß, daß er nicht Karl ist, kann der vermeintliche Karl ihn auch nicht darin täuschen, nicht Karl, sondern Hans zu sein.

Wir kennen das Theater auf dem Theater aus Shakespeare, Tieck oder Ionesco. Wir können das Spiegel-Spiel also noch weiter treiben und annehmen, es handele sich um eine romantisch-dialektische Verwechslungskomödie, in der Schauspieler Schauspieler spielen, die aus ihren Rollen fallen und die Masken wechseln; dann spielt der Schauspieler, der Karl spielt, gegenüber dem Schauspieler, der Peter spielt, die Rolle von Hans, und Karl weiß, daß Peter weiß, daß er ihm nur die Maske seines Jugendfreundes vorhält. Wenn nun der vermeintliche Hans auf Peters Wunsch das Lied aus der Jugendzeit anstimmt, könnte Peter nicht vorgeben, an der Klarheit und dem Ausdruck seines Vortrags die Stimme seines Freundes Hans zu erkennen; denn die jetzt erkennbare Stimme ist ja, wie im doppelbödigen Spiel ausgemacht, nur mehr die Stimme des Schauspielers, der den Schauspieler spielt, der in der Maske von Hans auftritt.

Wir können den fiktionalen Kontext demnach in einer Weise verdichten und überbieten, daß die Frage „Wer bist du?“ gleichsam entweder keine Resonanz mehr findet oder wie ein sich in unendlicher Ferne verlierendes Echo verhallt. Denn was bedeutete die Antwort „Ich“ aus dem Mund des Schauspielers, der einen Schauspieler spielt, der vorgibt Hans zu sein, aber Hans als Maske des Schauspielers Karl?

Würden wir unser Leben als Theaterstück auffassen, in dem jeder wüßte, der andere spiele die Rolle, die der eigenen spiegelbildlich zugeordnet wäre, die Rolle von Mann und Frau, Eltern und Kindern, Liebendem und Geliebter, Lehrer und Schülern, und diese Rollen hafteten gleichsam nur leicht wie Masken auf den Gesichtern, die jederzeit abgenommen und durch andere ersetzt werden könnten, gäbe es keine unbedingte Verpflichtung, auf die Frage „Wer bist du?“ zu antworten, dein Mann, dein Vater, dein Geliebter, dein Lehrer. Die sittliche Ordnung, die eindeutige Antworten auf die Frage „Wer?“ erheischt, wenn gefragt wird „Wer ist unser Freund, wer ist unser Feind?“, „Wer hat ein gültiges Ticket und wer ist ein blinder Passagier?“,  „Wer hat den Betrug, Diebstahl, den Mord begangen?“ oder „Wer hat das Versprechen, den Treuebund, den Vertrag gebrochen?“, wäre dahin. So verwandelte sich die Welt in ein barockes Pandämonium und einen modrigen Garten der Lüste, in dem die süßesten Früchte noch jene wären, die Vergessen schenkten.

Im Märchen kann es geschehen, daß die schöne Prinzessin in eine Nachtigall verzaubert wird, und der traurige Jüngling, der sie liebt, sitzt unter dem Baum und lauscht ihrem Gesang; ja, im Gesang des Vogels glaubt er die süße Stimme der Geliebten zu erkennen. Und wenn der Vogel von Zweig zu Zweig hüpft, von Strauch zu Strauch fliegt, mag der Jüngling bang ausrufen: „Wo bist du?“, und er hört sie antworten: „Hier bin ich, hier!“

Auf die Frage „Wer von diesen ist dein Freund Hans?“ zeigt Peter mit dem Finger auf dem alten Foto die Stelle, wo Hans umringt von den Schulkameraden abgebildet ist. Ist Hans das Bild des Körpers dieses kleinen Jungen? – Nein, müßten wir sagen, Hans ist die Person, die damals in jene Schule ging, wo das Foto gemacht wurde, und heute da und dort lebt. Doch auch auf jenen Hans, der da und dort lebt, können wir nur zeigen, wenn er aus dem Haus tritt und über die Straße geht. Ist Hans nicht der Körper dieses alten Mannes? – Nein, müßten wir sagen, denn wenn wir auf Hans, der die Straße entlanggeht, mit dem Finger zeigen, meinen wir nicht den materiellen Gegenstand, auf den unser Finger zufällig weist, nicht seinen Kopf, seine Brust, seinen Leib, sondern Hans. Ist Hans also ein immaterieller Gegenstand, eine Art ätherische Substanz, die gleichsam in seinem Körper eingeschlossen ist und ihm das Leben dessen verleiht, den wir Hans nennen? – Nein, müßten wir sagen, Hans ist nicht ein Gespenst, das in seinem Körper gefangen ist und wie die Seelen bei Homer einem Wölkchen gleich aus dem klaffenden Mund entweichen könnte, wenn er stirbt; nein, wenn Hans gestorben wäre, dächten wir an ihn, wie er leibte und lebte.

Was geschieht dem Jüngling im Märchen, wenn er in der Dämmerung unter dem Baum einschläft, wo er der süßen Stimme der verzauberten Prinzessin gelauscht hat, und er erwacht in der Nacht und rings ertönen die Gesänge vieler Nachtigallen, wie soll er die Stimme der einen noch erkennen? Ach, das kann er nicht. Rettung ist, wenn er sich des Zauberworts erinnert und es ausspricht, und so die Nachtigall sich wieder in die Gestalt der Angebeteten verwandelt.

 

Comments are closed.

Top