Phänomen und Begriff
oder warum eine Theorie des Subjekts nicht Phänomenologie sein kann
Ein Beitrag zur Philosophie der Subjektivität
Wir können in einer etwas zugespitzten Wendung sagen: Der Mond, als semantischer Gegenstand betrachtet, leuchtet nicht. Der Mond leuchtet nur in einer Welt wie der unseren, in der wir Augen haben, mit denen wir von den Objekten abgelenkte Photonenstrahlen als Lichtpunkte auf der Retina abbilden – kurz in der Welt als Phänomen oder der phänomenalen Welt. In der Aussage: „Der Mond ist ein Massenpunkt, der die Erde auf einer elliptoiden Umlaufbahn gleichmäßig umkreist“, oder in der Aussage: „Der Mond ist der einzige Erdtrabant“, verliert das mit „Mond“ Gemeinte seinen phänomenalen Charakter, den es in Äußerungen hat wie: „Schau dort, der Mond!“
Erst in Sätzen wie: „Der Mond ist der einzige Erdtrabant“ wird aus dem Wort „Mond“ ein Name, dessen Gegenstand wir in einem Netzwerk von Begriffen verorten. Wenn der Mond gemäß dieser Aussage ein Planet ist, exemplifiziert er unter allen Objekten die spezifische Eigenschaft, ein Planet zu sein, das heißt, einem bestimmten kosmischen Körper wie der Erde oder der Sonne eindeutig als astronomischer Begleiter zugeordnet zu sein. In formaler Diktion lautet der Satz, wenn M für Mond, P für Planet und E für Erde steht:
Satz 1:
M ist P in Bezug auf E, und es gibt nur ein M, das P in Bezug auf E ist.
Nach diesem formalen Schema können wir beliebig viele Sätze bilden, indem wir für die gewählten Konstanten Variable einsetzen:
Satz 2:
X ist Y in Bezug auf Z, und es gibt nur ein Y in Bezug auf Z.
Setzen wir für X „Mosel“, für Y „Nebenfluß des Rheins“, für Z „Koblenz“ ein, erhalten wir die Aussage:
Satz 3:
Die Mosel ist ein Nebenfluß des Rheins (in Bezug auf) bei Koblenz.
Für den Namen Koblenz gilt die Definition:
Definition1:
Von allen Städten der Erde ist Koblenz die Stadt, die an der Mündung der Mosel in den Rhein liegt.
Eine andere Definition drückt die Lage der Stadt Koblenz als Schnittpunkt zweier geodätischer Linien auf der Erdsphäre aus, nämlich von Längengrad LK und Breitengrad BK:
Definition 2:
Von allen Städten der Erde ist Koblenz die Stadt, die am Schnittpunkt von LK und BK liegt.
Jemand, der weiß, welche Bedeutung die Begriffe „Stadt“ und „Längengrad“ und „Breitengrad“ als Orientierungslinien oder Koordinaten auf der Erdkugel haben, kann die Definition 2 verstehen, auch wenn ihm jede Spur eines phänomenalen Bewußtseins von dem realen Ort namens Koblenz abgeht.
Die Aussage „Die Mosel mündet in den Rhein“ ist eine Aussage mit einem propositionalen Gehalt der Form: „Es ist der Fall, daß die Mosel in den Rhein mündet“, oder der Form: „Es ist wahr, daß die Mosel in den Rhein mündet“, eine Form, die wir der Einfachheit halber auf die reine Aussage reduzieren oder kürzen können, ohne daß sich ihre Bedeutung und ihr Wahrheitsgehalt ändern. Wenn wir ihre Form explizit machen, wird augenscheinlich, daß solche Sätze einen Wahrheitsanspruch ausdrücken, den wir mit ihnen erheben, nämlich einen Anspruch auf die Wahrheit der Feststellung, daß etwas so ist, wie es ist, oder so ist, wie der Satz von ihm aussagt.
Diese Vorüberlegungen dienen zur Unterfütterung unserer Kernthese, daß wir die Subjektivität unseres Daseins nicht ausschließlich phänomenologisch durch Betrachtung und Analyse der Inhalte unseres phänomenalen Bewußtseins verstehen können. Denn wir haben nicht nur von solchen Phänomenen als einem Niederschlag sensorischer Reizungen in unserem zentralnervösen System auszugehen, sondern müssen die wesentliche Funktion menschlicher Subjektivität, in Aussagen über solche Phänomene Wahrheitsansprüche geltend zu machen, in Betracht ziehen.
Die Äußerung: „Ich sehe dort einen hellen Fleck in meinem Gesichtsraum“ ist von grundsätzlich anderer Struktur und Relevanz als die Aussage: „Ich sehe dort den Mond, den Erdtrabanten.“ Denn nur die letztere läßt sich wie folgt umformen:
Satz 4:
Ich sehe den Mond, und ich weiß, der Mond ist der Erdtrabant.
Da wir das Wissen als eine Form des Fürwahrhaltens oder Glaubens analysieren können, lautet die genauere Formulierung für unseren Satz:
Satz 5:
Ich sehe den Mond, und ich glaube (mit letzter Bestimmtheit), daß der Mond der Erdtrabant ist.
Die propositionale Form unserer Aussagen: „Ich glaube, daß a P ist“ oder kürzer „Ich glaube, daß …“ bringt demnach die originäre Verfassung unserer leiblich und sprachlich bezogenen Subjektivität zum Ausdruck.
Wir bemerken hier, daß unsere Aussagen Ausschnitte aus einem an den Rändern verschwimmenden oder unbegrenzten Begriffsnetz herausgreifen. Den netzartigen Zusammenhang unserer Begriffe können wir als logische Form der Implikation von Aussagen darstellen:
Satz 6:
Wenn wir glauben, daß der Mond der Planet ist, der die Erde umkreist, und glauben, daß die Erde der Planet ist, der die Sonne umkreist, glauben wir folglich auch, daß der Mond die Sonne umkreist.
Wir können das Begriffsnetz an den Rändern immer weiter auswerfen und kommen dann auf weitere implizierte Sätze wie:
Satz 7:
Wenn wir glauben, daß der Mond der Planet ist, der die Erde umkreist, und glauben, daß die Erde der Planet ist, der die Sonne umkreist, und glauben, daß die Sonne mitsamt ihren Planeten das Zentrum unserer Galaxie umkreist, glauben wir auch, daß der Mond das Zentrum unserer Galaxie umkreist.
Wir konstatieren, daß wir als lebendige Subjekte nicht in einer Welt isolierter Wahrnehmungsgegenstände und unbezüglicher Erlebniseindrücke existieren, sondern in einer Welt begrifflich vernetzter Fakten und Ereignisse, die sich nicht der einfachen Wahrnehmung und Beobachtung erschließen, sondern Funktionen nicht unseres phänomenalen Bewußtseins, sondern unserer sprachlich fundierten Intentionalität sind.
Die Wahrnehmung des Phänomens Mond wird als echtes Moment des Faktums, daß der Mond der Erdtrabant ist, oder des Ereignisses, daß der Mond als einziger Planet um die Erde kreist, begriffen, wenn wir dem phänomenalen Bewußtseinsinhalt „Mond“ mittels Anwendung unserer intentionalen Kraft die Bedeutung des Begriffs „Planet“ zuweisen. Die Wahrnehmung des Phänomens des Zusammenflusses zweier Flüsse wird als echtes Moment des Faktums, daß Koblenz der Ort ist, an dem die Mosel in den Rhein mündet, oder des Ereignisses, daß die Mosel bei Koblenz in den Rhein mündet, begriffen, wenn wir dem phänomenalen Bewußtseinsinhalt „Ort der Mündung eines Flusses in einen anderen“ mittels Anwendung unserer intentionalen Kraft die Bedeutung des Begriffes „Stadt, wo die Mosel in den Rhein mündet“ geben.
Wesentlich für die Bestimmung der Welt, in der wir als sprachliche Subjekte leben, ist die Identität der Begriffe, die wir auf unsere Erfahrung anwenden. In den Ausdrücken „die Stadt, wo die Mosel in den Rhein mündet“ und „die Stadt, die am Schnittpunkt von LK und BK liegt“ müssen die Bedeutungen für den Begriff „Stadt“ identisch sein, wenn wir für ihn „Koblenz“ einsetzen.
Wir können auch sagen: Die eindeutigen Definitionen unserer Begriffe gewährleisten die Erfüllung der Identitätsbedingungen unserer Aussagen.
Dagegen sind die phänomenalen Inhalte unseres Bewußtseins begrifflich unterbelichtet und unterliegen daher keinen strengen Identitätskriterien. Das visuelle Bild, da ich jetzt von der Mündung der Mosel in den Rhein habe, unterscheidet sich von dem visuellen Bild, das ich gestern von dem gleichen Phänomen hatte, und dieses wiederum von dem Erinnerungsbild, das ich mir gemacht habe, als ich als Jugendlicher am Deutschen Eck saß. Vor diesem Verschwimmen der Identitätsgrenzen ist der semantische Gegenstand der Aussage: „Koblenz ist die Stadt, wo die Mosel in den Rhein mündet“ ein für allemal gefeit.
Eine entscheidende Frage in Hinsicht auf unser subjektives Dasein betrifft die Phänomenologie unserer leiblichen Wahrnehmung. Die Grenzen unseres Bewußtseins scheinen auch die Grenzen unserer leiblichen Wahrnehmung zu sein, denn der Schmerz, den ich in der rechten Hand spüre, ist nur mein Schmerz und nicht deiner.
Doch unterscheiden sich unsere Leibwahrnehmungen von allen anderen Wahrnehmungen eben dadurch, daß sie begrifflichen Identitätsbedingungen unterliegen: Die Hand, die ich hier sehe, ist kein Phänomen wie dasjenige, das ich sehe, wenn ich deine Hand dort sehe, sondern aufgrund der Selbstempfindung begrifflich als Teil meiner Person gegeben.
Ich kann meine Hand nicht mit deiner Hand verwechseln (es sei denn für außerordentliche Momente in ausgetüftelten Spiegelfechtereien), so wie ich das Erinnerungsbild von Peter mit dem Erinnerungsbild von Paul verwechseln kann. Daraus schließen wir:
Satz 8:
Die Grenzen des phänomenalen Bewußtseins sind nicht die Grenzen der Leibwahrnehmung. Die Wahrnehmungen unserer körperlichen Qualitäten sind integraler Teil der Subjektivität unseres Daseins als einer selbsterschlossenen Person.
Wohl sitzen wir gleichsam auf den phänomenalen Inhalten unseres Bewußtseins wie auf Inseln fest – doch auf Inseln, von denen wir mittels Leuchtsignalen Botschaften einander zusenden können. Diese Botschaften sind nichts anderes als unsere verbalen und nonverbalen Mitteilungen propositionaler Struktur. Wenn du die Stadt nicht kennst, der ich jüngst wieder einmal einen Besuch abgestattet habe, genügt es, dir mitgebrachte Fotos oder Filmsequenzen auf dem Smartphone mit der Erläuterung zu zeigen: „Dies ist Koblenz, die Stadt, wo die Mosel in den Rhein mündet.“