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Okt 11 24

Im Schatten wandeln

Mein Ideal ist eine gewisse Kühle. Ein Tempel, der den Leidenschaften als Umgebung dient, ohne in sie hineinzureden.

Ludwig Wittgenstein

 

Der Kreuzgang spendet Wandelnden den Schatten,
wenn in der Mitte Wasser glitzernd kühlen.
Im Herd des Leidens ist noch Glut zu fühlen,
die dunkel seufzt, wenn Beter schon ermatten.

Die Fliesen zieren Knospen, Feuertiegel,
kalt klären sie die Sinne, die im Flirren
dem Meer entstiegner Lüfte sich verwirren,
doch brennt die Stirne unterm Aschensiegel.

Form dein Gedicht uns wie die Säulenhalle,
wo wir erhitzt vom Tag im Schatten wandeln.
Dein Reim sag, Dichter, was die Quelle lalle,

die du aus harter Erde ausgegraben.
Mag kein Geschwätz die Stille uns verschandeln,
die golden tropft wie Honig aus den Waben.

 

Okt 10 24

König ohne Land

Das Reich der Dichtung war ein Königtum,
der König aber trug statt einer Krone
von Eppich einen Kranz und rotem Mohne,
der Veilchen holdes Neigen war sein Ruhm.

Der Dichter war ein König ohne Land,
er ging durch der Erinnerung lichte Auen
und sah an Blumenwimpern Flocken tauen.
O Lied, versickernd wie der Tau im Sand.

Wie weiße Blüten still auf Teichen fließen,
schwamm seiner Insel schneegefüllte Schale,
die leise Verse langsam kreisen ließen.

Der Dämon tauchte in den Staub das Bild
der Hoheit, daß es grau wie Asche fahle,
die aus urinbespritzten Gluten quillt.

 

Okt 9 24

Die Gleichnisrede

Was ich erfinde, sind neue Gleichnisse.

Ludwig Wittgenstein

 

Das Gleichnis von der Leiter, die uns führt
empor auf streng verfugten Sinnes Sprossen.
Doch macht der Gegensinn uns nicht verdrossen,
daß einer schwebend nicht den Halt verliert.

Das Gleichnis von der Fliege, das uns meint,
gefangen wie in transparenten Wänden,
daß wir des Sinnes Lichtung eher fänden,
den Weg betretend, der uns dunkel scheint.

Am Ende auch das Gleichnis von den Flüssen,
die ihre Ufer formen und verbreitern,
zeigt uns, daß wir vom dunklen Grund nichts wissen.

Ob wir im Ozean des Schweigens münden,
im dürren Karste des Geredes scheitern,
kann keine Gleichnisrede uns ergründen.

 

Okt 9 24

Das wilde Brausen

Um wüst nicht auf den Plätzen loszubrüllen,
preßt du den Atem in den engen Trichter,
der zum Sonett sich wölbt, o Unzeit-Dichter.
Es kann der Muschelklang den Schmerz nicht stillen.

Um ihm ein wenig Schmelz und Glut zu leihen,
läßt deine spröden Lippen du vibrieren.
Wie bald die Töne in der Nacht gefrieren,
wie fahle Reime auf die Brache schneien.

Mag dich der Gischt am Katarakt belehren,
sein wildes Brausen, das gestaltlos bleibt,
es kennt kein Maß des Sinns, kein Wiederkehren

in einem rhythmisch zart gedehnten Bogen.
So rasch auf grauser Flut die Blüte treibt,
wird jäh der Grazie Anblick uns entzogen.

 

Okt 8 24

Wenn Schatten wehen

Wie wesenlos sie über alles wehen,
den Schmelz der Knospen, die im Frührot schauern,
den grauen Efeu an den Friedhofsmauern,
wie willig sie mit ihren Menschen gehen.

Doch manchmal scheinen sie, von allen Dingen
gelöst, wie zwischen Tag und Traum zu zittern,
ein goldnes Licht erblüht an Schattengittern,
und unser Herz will mit den Blüten schwingen.

So wehen aus den dämmerfahlen Schneisen
die Schatten längst entrückter Traumgestalten,
und unser Gram kann sie nicht von sich weisen.

Wie Schatten sind die Verse, blütenlose,
die um das Sinnbild flackern und erkalten,
den Schnee der Lilie und die Glut der Rose.

 

Okt 7 24

Löcher im Netz

Ist es also so, daß ich gewisse Autoritäten anerkennen muß, um überhaupt urteilen zu können?

Man könnte Einem, der gegen die zweifellosen Sätze Einwände machen wollte, einfach sagen „Ach, Unsinn!“. Also nicht ihm antworten, sondern ihn zurechtweisen.

Worauf kann ich mich verlassen?

Ich will eigentlich nur sagen, daß ein Sprachspiel nur möglich ist, wenn man sich auf etwas verläßt. (Ich habe nicht gesagt „auf etwas verlassen kann“.)

Ludwig Wittgenstein (Über Gewißheit, Nr. 493, 495, 508, 509)

Nimm an, der Spiegel sei konvex verbogen,
worin man einzig sich zu sehen pflegt –
nie würde der Verdacht in dir erregt,
dein wahres Bild blieb ewig dir entzogen.

Wär es an wenig Stellen leicht gerissen,
das Netz der Sprache, welches dir gespannt –
die Spinne Sinn hat flugs sie überrannt,
was durchgeschlüpft, sie wird es nicht vermissen.

Der Zweifel, der behaucht ihn lang genug,
macht, daß der klare Spiegel dir erblinde.
Und keine Spinne wird es neu dir weben,

hast du zerfetzt das Netz als eitlen Trug.
Schält Irrwitz von der Sprache Stamm die Rinde,
wird Blatt um Blatt der Sinn ins Dunkel schweben.

 

Okt 6 24

Im Wachen geträumt, im Traum erwacht

Wenn man aber mit dem Bedenken kommt: Wie, wenn ich plötzlich sozusagen aufwachte und sagte „Jetzt hab ich mir eingebildet, ich heiße L. W.!“ – wer sagt denn, daß ich nicht noch einmal aufwache und nun dies als sonderbare Einbildung erkläre, usf.

Ludwig Wittgenstein (Über Gewißheit, Nr. 642)

 

Der Schnee verhüllt mit feinem Tuch das Feld,
von Wolken, die wie Kissen auf sich bauschen,
dringt dir ins Ohr ein angenehmes Rauschen.
Dich dünkt, du wärst allein auf dieser Welt.

Nun zieht es jählings ab, das Tuch ein Wind,
und überwirklich blaut er nun, türkisen,
der Himmel, wie Marokkos blaue Fliesen.
Dir scheint, du warst zuvor vom Traumschnee blind.

Hat dich das Rauschen in den Schlaf gewiegt,
und hast im Traum die Welt im Schnee gesehen,
Schnee, der so weich auf weichen Lidern liegt?

Blies fort der Wind ihn und du bist erwacht?
So schließ die Augen wieder, fühl, es wehen
die Flocken hell in deiner hellen Nacht.

 

Okt 6 24

Aufs Wasser geschrieben

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Dummheit läßt sich nicht belehren, bestenfalls unschädlich machen.

Mitleid ist ein zu diffuses, zu gemischtes Gefühl, als daß man daraus eine klare Weltanschauung destillieren könnte.

Der Entwurzelte kann nicht blühen, nicht Früchte treiben.

Nur das mit Blut und Geist getaufte Wort wird wiedergeboren.

Die von bunter Vielfalt schwadronieren, tragen die graue Einheitsuniform der öffentlichen Meinung.

Die Unfruchtbaren bieten Zukunftsphantasien zu Ramschpreisen feil.

Ob die Sonne um die Erde oder die Erde um die Sonne kreist, ist für das Heil der Seele ohne Belang.

Der undurchdringliche Nebel des Geschwätzes. – Man muß aus der Niederung, wo er sich verbreitet, auf dem alten Pilgerpfad des Schweigens emporklimmen, um ins Lichte und Weite blicken zu können.

Fäden des Sinns, die sich verknäuelt haben, einfach abzuschneiden ist keine hellsichtige Form der Hermeneutik.

Leben und Tod, Sinn und Unsinn, Ja und Nein sind absolute Unterschiede; deshalb können wir beispielsweise unser Leben nicht von außen betrachten und dem Unsinn mittels sophistischer Dialektik kein Quentchen Sinn abtrotzen; deshalb sollten wir jenen, dem unser halbherziges Ja galt, unsere Unentschlossenheit nicht mittels Zweideutigkeiten und Hinterhalte büßen lassen.

Die Faulen und die Lauen fliehen vor der Entscheidung. Oder warten ab, bis der Zufall oder die Laune des Schicksals sie ihnen abnimmt.

Die Einebnung der Polarität der Geschlechter kastriert den Mann und sterilisiert die Frau.

Der Zion von Jerusalem, die Akropolis von Athen, die Sieben Hügel Roms – diese spirituellen und kulturellen Gipfel wurden, welche Paradoxie, von den verweichlicht-zarten Händen geistiger Perversion und sittlicher Niedertracht eingeebnet.

Ihre Knie sind versteift, sie können sich vor keinem Höheren mehr beugen.

Autorität gilt für Anmaßung, Schönheit für eine Form von Beleidigung, Genie für eine raffiniert kaschierte Neurose.

Wer den Knoten des Gedankens aufgelöst hat, zieht sich hinter die Anonymität der Alltagsrede zurück; oder schweigt.

Die Blüte des dichterischen Worts – soll sie etwa auf dem brackigen Abwasserkanal dahintreiben?

Der ungeheure Druck, der den dunklen Kohlenstoff in leuchtende Diamanten verwandelt hat.

Der Druck auf der Seele des Dichters.

„Die Studierenden schliefen in einem großen Saal.“ – „Im Orchestergraben fand man nach der Premiere einen toten Musizierenden.“ Die Genderkretins wissen buchstäblich nicht mehr, was sie sagen.

Der Kult ist entleert, die Kirche zu einem Jahrmarkt des sozialen Ablaßhandels verkommen.

Strenggläubige können sich nicht um einen runden Tisch versammeln, auf dem das Wort in Krümel von Geschwätz zerbrochen wird.

Wir sprechen von Sitte und Unsitte, gelungener und mißlungener Form (der Rede, der Dichtung, der Kunst), von edel und gemein, von Mann und Frau – und warum? Weil es unsere Ahnen schon so zu tun pflegten; das genügt als Begründung.

Sie sind müde, erschöpft, von Erinnerungen zerquält oder dumpf und erinnerungslos; sie wollen keine eigentümliche Sprache und Kultur mehr haben, sie wollen nicht länger ein Volk, eine Nation sein. – Herder bezeichnete Völker und Nationen als Gedanken Gottes.

Mens sana in corpore sano. – Mens sana in corpore aegro. – Mens aegra in corpore sano.

Wir kennen den hellen, scharfsinnigen, geistvollen, witzigen Kopf auf einem schwachen, kränkelnden, verkrüppelten Leib (Pascal, Kierkegaard, Lichtenberg). – Gehört nicht selbst Nietzsche, der Sokrates um seiner Häßlichkeit willen verachtete, aufgrund seiner ewigen Migräne, seiner Gynophobie, ja seiner schließlichen Umnachtung in diese heroische Linie?

Wir sprechen von grausamen, blutrünstigen, barbarischen Taten; und doch ist das moralische Urteil nicht immer evident: Das Kulturvolk der Römer brachte den feinsinnigen Dichter der Bucolica hervor und ergötzte sich an den blutigen Spielen der Gladiatoren, der abertausend Kreuzigungen nicht zu gedenken, geschweige denn derjenigen, die zum Inbild des christlichen Abendlandes bestimmt war.

Der Geist kann nicht als Gefäß oder Apparat vorgestellt werden, in dem die Wahrnehmungen, Eindrücke, Empfindungen aufgefangen und verarbeitet werden, die wir haben. Wer sind dann wir, die in diesem Gefäß nicht vorkommen?

Der Naturalist, der Nihilist, der Zyniker, der über den Engel des Herrn, der den Hirten erschien, oder den Engel Rilkes die Nase rümpft, versteht den Geist nicht, der jene Schriften beseelt.

Der Ernüchterte ändert seine Meinung nicht, sondern gibt sie auf.

Jemandem vertrauen, der eine bessere Welt verspricht, heißt dem eigenen Verstand zu mißtrauen.

Ich sagen, ohne zu wissen, wer man ist.

Drei Propheten, Nietzsche, Wagner, George, die einen neuen Glauben verkünden wollten; doch die Flamme rußte, der Gral fand keinen Altar, das Neue Reich ging im Dritten unter.

Die Dummheit der neuen Chiliasten, die den Weltuntergang beschwören, aber nicht wahrhaben wollen, daß ihr Sein und Tun und Schwadronieren ihn allererst ausmacht, ja verkörpert.

Welch ein kultureller Niedergang bekundet sich in dem Umstand, daß die Urfassung der „Zauberflöte“ auf Geheiß der Sittenpolizei nicht mehr aufgeführt wird, weil darin ein gewisser Neger namens Monostatos seine Liebessehnsucht nach einer Schönen besingt, die er schön nennt, weil sie weiß ist, wie sich selbst häßlich, weil er schwarz ist.

Das fatale Erbe der Geschichtsphilosophie, die den Kairos, den erfüllten Augenblick, der die historische Kontinuität sprengt, durch den Glauben an den moralischen und technischen Fortschritt ersetzt. – „Fortschritt“ von der Guillotine zur Gaskammer.

„Gott ist tot!“ – „Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt!“ – Ausdruck hysterischer Gedanken. Auch wenn er nicht die Bohne an Gott glaubt, erlaubt sich der gute Sportler kein Foul, nicht einmal, wenn es unbemerkt bliebe. Die treue Seele hält ihr Versprechen, auch wenn sie nicht glaubt, sie werde von höherer Warte aus beobachtet und ihre Missetat ins Sündenregister eingetragen.

Würden all unsere Wünsche auf magische Weise unmittelbar erfüllt, lebten die meisten nicht mehr.

Unerfüllbare Wünsche, wie daß die durch den Tod getrennten Liebenden im Schattenreich einander wiederfinden, sind die Quellen der höheren Dichtung; magische Objekte – der unversiegliche Kelch, die unverwelkliche Rose, der Kristall gewordene Schmerz – ihre semantischen Idole.

Mit dem Hammer kann man einen Schädel zertrümmern, nicht aber den subtilen Innervationen und Verästelungen des Gedankens nachfühlen.

Von jenem, der mit dem Hammer philosophierte, blieben nichts als weithin verstreute Scherben, die bisweilen im Dunkel zu schimmern beginnen.

Unverdorbene Kinder jubeln, wenn in Humperdincks Märchenoper „Hänsel und Gretel“ die Hexe in den glühenden Ofen gestoßen und verbrannt wird und die beiden Gefangenen endlich frei und wieder vereint sind; moralin-verdorbene Zeitgeistpädagogen erheben Einspruch gegen diese unerträgliche Zumutung an Grausamkeit.

 

Okt 5 24

Der jäh angeschlagene Gong

Worte eines Dichters können uns durch und durch gehen.

Ludwig Wittgenstein (Zettel, Nr. 155)

 

Es trifft der Ton, der milde oder schroffe –
ein Gong wird das Bewußtsein angeschlagen.
Erschüttert kann es nur von Schmerzen sagen,
dem feinen Riß im traumgewebten Stoffe.

Wie eine Scheibe, die des Nachts gefroren,
von kristallinem Flor ward überblendet,
hat das Gedicht den hellen Kelch gespendet,
aus einem zarten Keim der Nacht geboren.

Und keiner weiß, wozu sie uns geschenkt,
die Keime, die zu lichtem Nichts erblühen.
Doch scheint erwacht, dem sie sich eingesenkt,

wenn Stengel durch die Haut des Schlafes dringen
und rings die surrealen Knospen glühen.
Laß, Dichter, sie im Hauch des Liedes schwingen!

 

Okt 5 24

Zuflucht im Verlies

Der Himmel floß wie Dotter weich herab,
er hing noch zitternd auf der Kirchturmspitze,
die Krähe kam, daß sie’s zerhacke, ritze,
des Ungesagten nährend zartes Lab.

Das man zerkocht zu Phrasenbrei, das Wort
trat schäumend vor die gleisnerischen Lippen.
Die Engel flatterten, den Tau zu nippen,
doch riß der Sturm den Kelch des Liedes fort.

Such dir im Schlafe, Dichter, ein Verlies,
dort grabe Korridore, tiefe Gänge,
zu münden in ein dunkles Paradies.

Hier findest du kein Wort, das nicht versehrt,
doch drunten schenken noch die Nachtgesänge,
was grellen Tages Wirrwarr dir verwehrt.

 

Okt 4 24

Der Pfad der Liebenden

So wollen, Liebe, wir wie Schatten gleiten
still über weiche Gräser, taubenetzte,
vergessen, was das scheue Herz verletzte,
wenn unterm Mond sich bleiche Blüten breiten.

Wir lassen von den Worten, die uns blieben,
den Duft nur gelten, trunkner Lippen Beben,
von Strahlen, die aus Dämmerlauben schweben,
die Male, die sie auf die Stirn uns schrieben.

Willst, Dichter, du nach Liebenden noch sehen,
in ihren Atem deinen Vers zu tauchen,
mußt weit du, weiter als ein Pilger gehen,

der seinen Born voll Schaum des Lichtes findet.
Sie träumen, wo Violen Dunkles hauchen
und seufzend Seele sich um Seele windet.

 

Okt 4 24

Verfehltes Treffen

Wo sich wirklich zwei Prinzipien treffen, die sich nicht miteinander aussöhnen, da erklärt jeder den Andern für einen Narren und Ketzer.

Ludwig Wittgenstein (Über Gewißheit, Nr. 611)

 

Herr Niemand geht auf asphaltiertem Grund,
von kalten Strömen wird sein Herz gesteuert,
daß es kein Übermaß an Sinn befeuert,
der graue Knebel Angst stopft ihm den Mund.

Der Dichter streunt am Uferschilf entlang,
zu schauen, ob im Wasser Blüten glimmen,
er wünscht sich, bis sie dunkeln, mitzuschwimmen,
das wunde Herz betäube Vogelsang.

Was könnten diese beiden sich denn sagen?
Der eine hört Gefasel eines Narren,
nur Töne, die das Glas des Sinns beschlagen.

Der andre hält die Blume Lied vergebens
vor Augen, die ins Blütenlose starren.
Sie fliehen sich, die Linien des Lebens.

 

Okt 3 24

Mäandern

Wenn ich für mich denke ohne ein Buch schreiben zu wollen, so springe ich um das Thema herum; das ist die einzige mir natürliche Denkweise. In einer Reihe gezwungen fortzudenken ist mir eine Qual. Soll ich es nun überhaupt probieren? Ich verschwende unsägliche Mühe auf ein Anordnen der Gedanken, das vielleicht gar keinen Wert hat.

Ludwig Wittgenstein

 

Der Faden war zu dünn, zu heikel: Ich,
die Bilder, Zeichen, Träume aufzureihen.
Wir hatten auch kein Sieb, den Mix zu seihen,
bis alles Trübe vom Geklärten wich.

Und lockte uns erblühter Worte Feld,
trug Flattern blind von einem Duft zum andern.
Wie Ströme, die sich teilen und mäandern,
war uns zu sagen, was ins Offne quellt.

Bevor wir in die Nacht, den Ursprung, münden,
mag sich Gestirn in unserm Liede spiegeln.
Würd es sich auch zum goldnen Ringe ründen,

wir müßten ihn am End vom Finger streifen.
Wir wollen nicht im Schrein des Buchs versiegeln,
was nur in blauer Luft zum Lied kann reifen.

 

Okt 2 24

Überm Abgrund schweben

Du mußt bedenken, daß das Sprachspiel sozusagen etwas Unvorhersehbares ist. Ich meine: Es ist nicht begründet. Nicht vernünftig (oder unvernünftig).

Es steht da – wie unser Leben.

Ludwig Wittgenstein (Über Gewißheit, Nr. 559)

 

Wie Kinder, die den glatten Kieselstein
auf Wellen schleudern, daß er schimmernd springe,
sehn wir erregt, ob uns das Spiel gelinge,
das Wort erglänzt im dunklen, stummen Sein.

Wie eine Knospe auf dem Wasser schwebt,
die Sonne weckt sie, Nacht wird sie verschließen,
woher sie kommt, wohin die Wasser fließen,
sie weiß es nicht, weiß nicht, wozu sie lebt.

So schweben überm Abgrund wir dahin.
Was zarte Wurzeln aus dem Dunkel saugen,
nährt heller Blüten ephemeren Sinn.

Nur Rauschen bleibt, was wir von ferne hören,
trübt Mondes Milch das zarte Glas der Augen.
Mag es wie einer Muschel Klang betören.

 

Okt 1 24

Das inkarnierte Wort

Die Philosophen, die glauben, daß man im Denken die Erfahrung gleichsam ausdehnen kann, sollten daran denken, daß man durchs Telefon die Rede, aber nicht die Masern übertragen kann.

Ich kann doch nicht in den Gedanken, durch Worte, eine Voraussicht erschleichen von etwas, was ich nicht kenne.

(Nihil est in intellectu …)

Als könnte ich in den Gedanken gleichsam von hinten herum kommen und einen Blick von etwas erhaschen, was von vorn zu sehen unmöglich ist.

Ludwig Wittgenstein (Zettel, Nr. 256, 262)

 

Im Feingefühl der Hand, der wachen Haut,
wird uns erhellt, was sonst im Dunkel bliebe.
Taub wär der Geist, wenn er sich wund nicht riebe
am Rätselwort, wie Schnee, der niemals taut.

Wahr wird das Wort, wenn es sich inkarniert.
So muß es auch den Leidensweg beschreiten.
Es kann dem Geiste Nahrung nur bereiten,
wenn es befruchtet wird und Frucht gebiert.

Mit einer Krücke kann ein Greis wohl gehen,
nicht weit, daß er am Abend kehre heim.
Doch lernt das blinde Wort nicht wieder sehen,

ward einmal ihm die Netzhaut abgezogen.
Der Ring des Liedes ist aus Gold, ein Reim,
den heißer Sinn zum Kreise sich gebogen.

 

Okt 1 24

Das verstoßene Wort

Den Kindern hält die arge Welt im Lot
das Singen, Klatschen, Tanzen, Ringelreihen.
Mich schleudert hin und her der Woge Schreien.
ich bin die Gischt, der Schaum, das lecke Boot.

Ins Gruppenphoto hab ich nicht gepaßt,
schief stand ich da wie gegen Sturmes Rasen.
Und reckten keck empor sie ihre Nasen,
hab ich mir ratlos an die Stirn gefaßt.

Wenn sie auf weicher Seufzer Welle gleiten,
die sich in fernem Uferschilf versprüht,
weckt mich aus dumpfem Schlaf ein leises Wimmern.

Es ist das Wort, das ich verstieß vor Zeiten,
da es zu hell im dunklen Vers geblüht.
Das welke nehm ich auf, das blasse Schimmern.

 

Sep 30 24

Löcher im Netz

Ist es also so, daß ich gewisse Autoritäten anerkennen muß, um überhaupt urteilen zu können?

Man könnte Einem, der gegen die zweifellosen Sätze Einwände machen wollte, einfach sagen „Ach, Unsinn!“. Also nicht ihm antworten, sondern ihn zurechtweisen.

Worauf kann ich mich verlassen?

Ich will eigentlich nur sagen, daß ein Sprachspiel nur möglich ist, wenn man sich auf etwas verläßt. (Ich habe nicht gesagt „auf etwas verlassen kann“.)

Ludwig Wittgenstein (Über Gewißheit, Nr. 493, 495, 508, 509)

 

Nimm an, der Spiegel sei konvex verbogen,
worin man einzig sich zu sehen pflegt –
nie würde der Verdacht in dir erregt,
dein wahres Bild blieb ewig dir entzogen.

Wär es an wenig Stellen leicht gerissen,
das Netz der Sprache, welches dir gespannt –
die Spinne Sinn hat flugs sie überrannt,
was durchgeschlüpft, sie wird es nicht vermissen.

Der Zweifel, der behaucht ihn lang genug,
macht, daß der klare Spiegel dir erblinde.
Und keine Spinne wird es neu dir weben,

hast du zerfetzt das Netz als eitlen Trug.
Schält Irrwitz von der Sprache Stamm die Rinde,
wird Blatt um Blatt der Sinn ins Dunkel schweben.

 

Sep 29 24

Sieh nicht nach vorn

Blickst du zurück, verliert sich deine Spur.
Die Halme, die dein banger Schritt gebogen,
hat hoher Strahl zu sich emporgezogen.
Du bist ein Windstrich, schmal, auf weiter Flur.

Und gehst du nicht allein, ergreif das Glück,
wenn warme Hände sich in deine schmiegen,
dich Worte, zart gehaucht, in Träume wiegen.
Einmal verscheucht, kehrt Anmut nicht zurück.

Sieh nicht nach vorn, denn dort erschauern schon
vorm Abendrot die müd geweinten Blüten.
Häuf, wenn es dunkelt, Sonnenmoos zum Bette.

Verblaßt der Mond, die weiße Knospe Mohn,
schau trunkner Liebe Stern, den bald verglühten.
Kein Fittich schwingt, der uns vorm Abgrund rette.

 

Sep 29 24

Gewundene Pfade

What’s ragged should be left ragged.

(Was zerzaust ist, soll man nicht glätten.)

Ludwig Wittgenstein

 

Man rutscht auf allzu glatt gewachsten Dielen,
und ohne Reibung haften keine Worte.
Ins Offne gehen wir aus enger Pforte,
wo Knospen zittern über zarten Stielen.

Die Rätselsätze schlängeln sich wie Pfade
um Monolithen, die im Frühlicht blauen,
im Dämmer scheinen sie wie Schnee zu tauen.
Gewundene Pfade werden nicht mehr grade.

Den Sinn, zerzaust wie ungepflegte Haare,
kann glatt kein goldner Kamm uns striegeln.
Wir bringen ihn, ein Inbild unsres Seins,

nicht unverkürzt ins transparente Wahre,
womit Gewitzte ihren Gang besiegeln.
Auch Wandrer Hermes ist ein Gott des Scheins.

 

Sep 28 24

Der Weg des Denkens

Ich will den Menschen hier als Tier betrachten; als ein primitives Wesen. Dem man zwar Instinkt, aber nicht Raisonnement zutraut. Als ein Wesen in einem primitiven Zustande. Denn welche Logik für ein primitives Verständigungsmittel genügt, deren brauchen wir uns auch nicht zu schämen. Die Sprache ist nicht aus einem Raisonnement hervorgegangen.

„So muß man also wissen, daß die Gegenstände existieren, deren Namen man durch eine hinweisende Erklärung einem Kind beibringt?“ – Warum muß man’s wissen? Ist es nicht genug, daß Erfahrung später nicht das Gegenteil erweise?
Warum soll denn das Sprachspiel auf Wissen beruhen?

Ludwig Wittgenstein (Über Gewißheit, Nr. 475, 477)

 

Uns führt der Weg des Denkens nicht ins Licht,
worin die Wesen klar umrissen scheinen.
Kein innres Auge strahlt, sie wahr zu meinen,
und Schatten wandern über ihr Gesicht.

Wir haben uns das Wort nicht ausgedacht,
ein Stab ward es zu regem Gang empfangen.
Doch die mit ihm zum Gipfelschnee gelangen,
verstummen angesichts der hohen Pracht.

Der Weg des Denkens führt zu keinem Ende.
Wie Atemholen, flach manchmal, dann tief,
hat er kein Ziel, wo man die Lösung fände.

Kann Platons Sonne auch nicht mehr erhellen,
was aus dem Abgrund uns ins Dasein rief,
noch schimmern in der Nacht Gesanges Quellen.

 

Sep 28 24

Wesen ohne Halt

Die Blätter, Blüten zittern, lassen los,
sie mochten länger in der Sonne bleiben,
nun taumeln sie, im Dunst des Herbsts zu treiben.
Wie ist die Hoffnung leicht, die Schwermut groß.

Sie haben sich, wie Wesen ohne Halt,
dem rauhen Spiel des Herbstwinds rasch ergeben,
die ausgerauscht, verhaucht ein stilles Leben,
verloren, was sie hielt, die Wohlgestalt.

Gehst einsam, Dichter, du durch dürre Auen,
wie suchst umsonst die Blicke du, die feuchten,
von Veilchen, die wie Reime nächtlich blauen.

Erloschen sind die Quellen, sind verstummt,
die unter Dämmerlauben silbern leuchten.
Ein Seufzen dunkelt, wo das Licht gesummt.

 

Sep 27 24

Die große Jahrmarktslotterie

Wie, wenn etwas wirklich Unerhörtes geschähe? Wenn ich etwa sähe, wie Häuser sich nach und nach und ohne offenbare Ursache in Dampf verwandelten; wenn das Vieh auf der Wiese auf den Köpfen stünde, lachte und verständliche Worte redete; wenn Bäume sich nach und nach in Menschen und Menschen in Bäume verwandelten. Hatte ich nun recht, als ich vor allen diesen Geschehnissen sagte ›Ich weiß, daß das ein Haus ist‹ etc., oder einfach ›Das ist ein Haus‹ etc.?

Ludwig Wittgenstein (Über Gewißheit, Nr. 513)

Die Ros ist ohn warum; sie blühet, weil sie blühet,
Sie acht nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet.

Angelus Silesius

 

Bei dieser großen Jahrmarktslotterie
sind alle angepriesenen Lose Nieten.
Als wären Gaukler, die sie an uns bieten,
wir aber Opfer einer Sinnmanie.

Wer „Heureka!“ hier plötzlich schreit,
hat sich nur selber oder uns betrogen.
Ins Nichts zerrinnt nach kurzem Schein der Bogen,
wir bleiben, was wir sind, dem Tod geweiht.

Betrogen sind, die Sinn im Ursprung suchen,
Betrüger, die ihn aus dem Ärmel ziehen,
er bröckelt schon, wenn sie den Preis verbuchen.

Steh ungerührt am Rand, bezeug es Dichter,
was du geschaut: Vorm eignen Schatten fliehen,
die selbst sich Leuchten dünken, kleine Lichter.

 

Sep 26 24

Der Grund hat keinen Grund

Die Schwierigkeit ist, die Grundlosigkeit unseres Glaubens einzusehen.

Am Grunde des begründeten Glaubens liegt der unbegründete Glaube.

Wenn ich will, daß die Türe sich drehe, müssen die Angeln feststehen.

Ludwig Wittgenstein (Über Gewißheit, Nr. 166, 253, 343)

 

Der Grund, worauf wir stehn, hat keinen Grund,
doch trägt er uns, wenn wir ihn nicht befragen.
Daß nicht das Mark der Sprache sie zernagen,
verstopft das Rätsel bald der Schwätzer Mund.

Uns trägt ein Strom, wir wissen nicht woher,
nicht, ob er bald versickert oder mündet,
ob sich des Lebens Linie einmal ründet,
das Boot voll goldner Fracht ist oder leer.

Du kannst die Blüte Vers nur sachte betten
auf weicher Wasser unentwegtes Fließen,
sie, Dichter, nicht vor dem Verblassen retten.

Du hoffst, an fernen Ufern blieben stehen,
die ihren süßen Schimmer noch genießen
und mit dem Bild der Anmut heimwärts gehen.

 

Sep 26 24

Das dunkle Haus

Die Wände haben alles aufgesogen,
Gebete, Flüche, Seufzer, die erstarben,
die feinen Risse sind wie alte Narben,
vom Wehen- und vom Todeskrampf gezogen.

Und nachts wirst du von Träumen überfallen,
in denen Kinder ängstlich vor dir flehen,
mit ihnen aus dem dunklen Haus zu gehen
ins süße Licht, das Lied der Nachtigallen.

Es fehlt dem Haus, das du bewohnst, der Segen,
und was vor Zeiten hier gedacht, erlitten,
dringt wie ein Moderduft dir noch entgegen

aus jeder Ritze, jeder Vorhangfalte –
vergebens, Rosenwasser auszuschütten.
Der Schrei nach Liebe war’s, der hier verhallte.

 

Sep 25 24

Die eigne Stimme fremd

Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen.

Ludwig Wittgenstein

 

Er wittert schon, der Hund, was wir kaum fühlen,
er spitzt die Ohren, pocht das Herz zu laut.
Die junger Sehnsucht Blattgerank zerwühlen,
mit solchen Stürmen ist er nicht vertraut.

Die Worte mit den sanft geschwungnen Schleifen,
die einst halb offnen Munds dir Liebe schrieb,
nun kannst du ihren Sinn nicht mehr begreifen,
als ob die Blüten Wüstenwind zerrieb.

Bisweilen klingt die eigne Stimme fremd
wie Rufe, die aus Brunnen widerhallen,
wird klarer Sinn von Rätseln überschwemmt.

Wenn Worte, nachts gehaucht von Lippen, weichen,
bei Tag dich ritzen wie mit scharfen Krallen,
scheint, die du liebst, Mänaden fast zu gleichen.

 

Sep 25 24

Was bleibt

Ich gehe durch die herbstliche Allee
und höre, wie im Sturm die Zweige stöhnen.
Ich konnte mich des Sommers kaum entwöhnen,
doch liegt auf meinem Herzen schon der Schnee.

Ich sitze auf dem moosbedeckten Stein
und sehe, wie im Tal die Wellen grauen.
Und denke jäh ich an den Blick, den blauen,
erlischt er schon, ein gleisnerischer Schein.

Ich liege wach in einem dunklen Zimmer
und fühle, wie die Nacht das Bild zerstückt,
das Spiegelbild, in tausend blinde Schimmer.

Von all den Reimen, leuchtend schönen Blumen,
die ich auf heimatlicher Au gepflückt,
bleibt nur ein schwarzes Häuflein stummer Krumen.

 

Sep 24 24

Vom grauen Star der Theorie genesen

Ich verstehe sie nicht, aber ihr Ton beglückt mich.

Ludwig Wittgenstein (über die Gedichte von Georg Trakl)

 

Was uns beglückt, wir müssen’s nicht verstehen.
Reißt Bruckner uns auch hoch, in welch ein Blau,
weiß niemand, und es wird uns wunders flau,
als würden wir auf schroffen Graten gehen.

Sie fliehen hin, die Linien des Lebens,
sagt uns der Seher, der am Fenster stand,
doch sind sie nicht wie Falten einer Hand –
die Rätselschrift, wir deuten sie vergebens.

Der Denker hat die Richtung umgekehrt,
hat kreuz und quer, von rechts nach links gelesen,
bis sich der Sinn der Worte so vermehrt,

daß sie in zarte Büschel ihm zerfielen.
Vom grauen Star der Theorie genesen,
kannst, Dichter, du frei mit den Zeichen spielen.

 

Sep 24 24

Der Verse milde Sonnen

Gleichgültig, wer um wen mag kreisen,
doch nicht, wer wem die Sonne ist, die wärmt,
wer, wenn sie untergeht, sich sehnt und härmt,
ihr, bis sie wieder scheine, nach will reisen.

Daß auch der Strahl, dem sich erwachte Rosen
entgegenrecken, herrlich aufgetan,
sich daran freue, scheint ein frommer Wahn,
er, Sohn der Weltennacht, der blütenlosen.

Daß, Dichter, deiner Verse milde Sonnen,
wenn unsre Herzen sie aus Träumen, grauen,
und sanft erwecken uns aus stummen Qualen,

sich selber fühlen wie an Edens Bronnen
verzückte Augen, feucht vom Glanz, dem blauen,
und wenn wir blühen, inniger noch strahlen.

 

Sep 23 24

Schatten, die vorüberziehen

Wir lassen sie vorüberziehen, Schatten,
und die sie werfen, Wolken – fragen nicht,
wie lang es währt, das trügerische Licht,
bis es im Laub des Dämmers mag ermatten.

Wir wollen nicht mehr nach der Quelle sehen,
die heiß entquillt ins dichterische Wort,
uns reißt der Strom, ein kaltes Rauschen, fort
in Meere, wo die Bilder untergehen.

Laß, Dichter, laß die blassen Blüten treiben,
auf des Erinnerns weichen Wellen schwanken,
sie können wie die Liebe ja nicht bleiben.

Wie sich die Knospen unterm Mond verschließen,
die an der Verse zartem Gitter ranken.
Wie jäh die Tropfen in das Dunkel fließen.

 

Sep 22 24

Das entschlafene Wort

Es hat das Wort, dem Aug der Liebe gleich,
im Schnee des Monds die Lider bang geschlossen.
Der Glanz der Träne ist im Schlaf geflossen,
da ihm geträumt von Südens Gartenreich.

Schlaf, schlafe, Flocken taumeln blind herab,
schon schimmern hell aus dunklen Laubes Beben
die Flügel eines Engels, der ergeben
die Stille hütet am vergessnen Grab.

Es taut der Schnee, der auf das Grab gefallen,
das Abendrot durchglüht ein junges Laub.
Im Lied zerfließt das Herz der Nachtigallen,

doch nicht, daß sie das Dichterwort erweckten,
als wär entschlafen es im Silberstaub,
aus dem sich kahler Stoppeln Finger reckten.

 

Sep 21 24

Die Heimkehr des Worts

Das Bewußtsein in des Andern Gesicht. Schau ins Gesicht des Andern, und sieh das Bewußtsein in ihm und einen bestimmten Bewußtseinston. Du siehst auf ihm, in ihm, Freude, Gleichgültigkeit, Interesse, Rührung, Dumpfheit u.s.f. Das Licht im Gesicht des Andern.

Schaust du in dich, um den Grimm in seinem Gesicht zu erkennen? Er ist dort so deutlich wie in deiner eigenen Brust.

(Und was will man nun sagen? Daß das Gesicht des Andern mich zur Nachahmung anregt, und daß ich also kleine Bewegungen und Muskelspannungen im eigenen empfinde und die Summe dieser meine? Unsinn. Unsinn, – denn du machst Annahmen statt bloß zu beschreiben. Wem hier Erklärungen im Kopf spuken, der vernachlässigt es, sich auf die wichtigsten Tatsachen zu besinnen.)

Das Bewußtsein ist so deutlich in seinem Gesicht und Benehmen, wie in mir selbst.

Ludwig Wittgenstein (Zettel, Nr. 220, 221)

 

Bewußtsein sehen wir – nicht im Gehirne,
es leuchtet auf in jemandes Gesicht,
des Lächelns sanftes, Staunens jähes Licht,
es glimmt um eine geistbehauchte Stirne.

Daß einer trauert, kannst du nicht erschließen,
vielleicht trägt er aus Pflichtgefühl das Band,
du siehst es aber, zittert seine Hand,
hält er das Bild, und stille Tränen fließen.

Den Abgrund zwischen Leib und Geist vermeiden,
die im Gesicht den Seelenausdruck lesen,
den Kern nicht von der äußern Hülle scheiden.

Es kehrt das Wort, das dichterische, heim,
das deutungslos im Schattenland gewesen.
Im Laub des Sinnes glüht die Frucht, der Reim.

 

Sep 21 24

Erloschen sind die Flammen

Am unorganischen Maschinentakt
verkrüppeln Rhythmen, stocken Melodien,
die Flüssen gleich zu fernen Meeren ziehen.
Wie ward der Anmut holder Vers zerhackt.

Begradigt ist der Pfad und asphaltiert,
der sich elegisch durch das Ried geschwungen,
wo du einst, Liebe, vor dich hin gesungen.
Wie öd der Mond auf tote Bleche stiert.

Erloschen sind die Flammen in dem Herde,
die uns die Wärme dunklen Fühlens gaben.
O Blick der Güte, lächelnde Gebärde,

da, Dichter, du das Brot des Worts, das reine,
uns ausgeteilt, daß Müde sich erlaben.
Wie unterm Aschenruß es ward zum Steine.

 

Sep 20 24

Der Götze der Vulgären

Des Demos Macht, o Götze der Vulgären,
im Wahn, sie seien gleichen Rangs geboren,
ging aller Sinn für Höheres verloren.
Wie sie nach warmem Urschleim sich verzehren.

Sie frösteln schon, wenn ihnen kühle Lüfte
die Botschaft von den Lichtkristallen bringen,
die um den Grat der Einsamkeiten schwingen.
Sie würgen unterm Odem reiner Düfte.

Ihr Geist vom Grau unschöpferischer Massen
schminkt grell sich mit der Welterrettungslüge
vom Heil des Volkes im Gemisch der Rassen,

vom Gras, das sprießt, wenn sie die Lilien knicken.
Damit das Wort sich ihrem Wahne füge,
sollst, Dichter, du den Kot mit Blüten schmücken.

 

Sep 20 24

Ratlos vor der Kröte

Ein Quaken gluckst aus Bäuchen, lüstern-fetten,
der volle Mond droht, feucht und angeschwollen,
demnächst zu platzen, rosa Wölkchen rollen
heran, ihn vor dem Suizid zu retten.

Doch unten bläht sich der Gesang noch breiter,
bis endlich sie ins Wasser klatscht, die Kröte,
ihr nach, daß man die Kühnheit überböte,
die zweite, dritte, vierte und so weiter.

Da siehst du endlich eins am andern schleimen,
stets hockt der Schmalhans auf der Dick-Madame.
„Mußt, Dichter, du es denn auf Liebe reimen,

wenn sommernachts aufs Silberkleid der Weiden
am Teichrand spritzt des braunen Triebes Schlamm?“
„Wie sie in diesem Zwielicht unterscheiden?“

 

Sep 19 24

Mit fremden Stimmen

Wenn Einer sagt „Ich habe einen Körper“, so kann man ihn fragen „Und wer spricht hier mit diesem Munde?“

Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit (Nr. 244)

 

Daß eine Seele spricht, die fern geweilt
bei Göttern, und dies nun vergessen habe,
im Menschenleib zu hausen wie im Grabe,
hat Orpheus ichblind Platon mitgeteilt.

Doch ist, wer spricht, nicht eine Puppe nur,
die zappelt an gereizten Nervenbahnen,
kein Wiedergänger der verblichnen Ahnen,
schlafwandelnd an der Gene langer Schnur.

Und manchmal, Dichter, brennt auf deiner Zunge
ein Feuer, das mit fremden Stimmen singt,
es fließt der Atem aus azurner Lunge,

der Verse in das Dunkel sprüht, Kometen,
daß wir nicht wissen, wer die Botschaft bringt,
der Mund der Muse oder des Poeten.

 

Sep 18 24

Edler Wein und fader Fusel

Daß zwischen Wort und Wort ein Rätsel gärt,
der Dichter, zwielichtbang, er darf es sagen.
Die es mit Lärm und grellem Strahl verjagen,
verstümmeln sich die Wurzel, die sie nährt.

Die Rebe grünt, wo graue Öde war,
im Laubendämmer glühen Traubensonnen.
Gold ist in einen irdnen Krug geronnen,
das Erdennacht und Himmelslicht gebar.

Der Sinn der Worte ward von uns empfangen,
ein edler Wein, gekeltert von den Vätern,
der ihre Zunge löste und sie sangen.

Gepantschter Fusel schmeckt nur fad und seicht.
Dionysos rächt sich an den Verrätern,
die Zungen lallen und der Rhythmus schleicht.

 

Sep 17 24

Das Fenster Sprache

Aber mein Weltbild habe ich nicht, weil ich mich von seiner Richtigkeit überzeugt habe; auch nicht, weil ich von seiner Richtigkeit überzeugt bin. Sondern es ist der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide.

Die Sätze, die dies Weltbild beschreiben, könnten zu einer Art Mythologie gehören. Und ihre Rolle ist ähnlich der von Spielregeln, und das Spiel kann man auch rein praktisch, ohne ausgesprochene Regeln, lernen.

Die Mythologie kann wieder in Fluß geraten, das Flußbett der Gedanken sich verschieben. Aber ich unterscheide zwischen der Bewegung des Wassers im Flußbett und der Verschiebung dieses; obwohl es eine scharfe Trennung der beiden nicht gibt.

Wer keiner Tatsache gewiß ist, der kann auch des Sinnes seiner Worte nicht gewiß sein.

Wer an allem zweifeln wollte, der würde auch nicht bis zum Zweifel kommen. Das Spiel des Zweifelns selbst setzt schon die Gewißheit voraus.

Wenn mich ein Blinder fragte „Hast du zwei Hände?“, so würde ich mich nicht durch Hinschauen davon vergewissern. Ja, ich weiß nicht, ob ich meinen Augen trauen sollte, wenn ich überhaupt dran zweifelte. Ja, warum soll ich nicht meine Augen damit prüfen, daß ich schaue, ob ich beide Hände sehe? Was ist wodurch zu prüfen?! (Wer entscheidet darüber, was feststeht?)

Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit (Nr. 94, 95, 97, 114, 115, 125)

 

Der Tag bricht an, ich sag, die Blumen sind
viel farbenreicher als beim Kerzenscheine.
Doch fragst du mich, was ich mit Farbe meine,
vermute ich, du seist bedeutungsblind.

Du magst wohl schreien, dies sei deine Hand,
hab ich sie eingequetscht dir aus Versehen.
„Reich mir die Hand!“ heißt nicht, erst nachzusehen,
ob sie vorhanden, ist man bei Verstand.

Du kannst zugleich nicht beides überprüfen,
den Maßstab und was du dran mißt, die Dinge,
sonst taumelst du im Zwielicht leerer Tiefen.

Wir müssen mit Bedacht die Angeln eichen,
damit das alte Fenster auf sich schwinge
und uns die milden Strahlen noch erreichen.

 

Sep 17 24

Grille in der Herbstnacht

Es scheint wie Schluchzen nur, halb schon im Schlaf,
steigt flehend an und bricht in sich zusammen.
So züngeln eines kurzen Lebens Flammen
und flackern, wenn ein feuchter Hauch sie traf.

Wie anders war es in der Sommernacht,
da ihre Flügel aneinanderschlugen,
des Daseins hellen Ruf ins Dunkel trugen,
als rühme sie der Schöpfung hohe Pracht.

Wie bang im Nachttau kleine Kerzen zittern,
die Angedenken vor das Mal gerückt,
wo unterm Moos die Namen schon verwittern.

Auch dir scheint, Dichter, Schluchzen nur geblieben.
Ward Mundes Blume, die uns einst entzückt,
vom Ächzen schwarzen Windes denn zerrieben?

 

Sep 16 24

Die ausgerissenen Fäden

Tradition ist nichts, was Einer lernen kann, ist nicht ein Faden, den einer aufnehmen kann, wenn es ihm gefällt; so wenig, wie es möglich ist, sich die eigenen Ahnen auszusuchen.
Wer eine Tradition nicht hat und sie haben möchte, der ist wie ein unglücklich Verliebter.

Ludwig Wittgenstein

 

Du kannst die eigne Sprache nicht erfinden,
die mütterlich im Wiegenliede floß.
Sie ist der Erde und des Himmels Sproß,
der sich am Stab des Geists empor muß winden.

Die Quelle, halb verschüttet, schluchzt vergebens
nach ihrem Bruder, dem berühmten Strom.
Der Schmerz im Glied, das fehlt, scheint ein Phantom,
doch er bezeugt das volle Maß des Lebens.

Verwirrte wähnen sich der Sprache Herren
und reißen Fäden aus dem edlen Teppich,
bis sich die schönen Muster wild verzerren.

Flicht scheu nur, Dichter, Purpur von Exoten
zum heimatlichen Kranz von Lauch und Eppich,
beschäme blasse Wangen nicht mit roten.

 

Sep 15 24

Das helle Lied

Dem Kinde gleich, verirrt im dunklen Wald,
den eignen Namen hat es schon vergessen,
ist unser Geist von einem Schaum zerfressen,
gequollen aus der Tiefe, schwarz und kalt.

Wie eine Maus, die aus dem Dickicht kroch,
schon fiept sie leise in der Eule Krallen,
ward unser Herz vom Dämon überfallen,
der sich verbarg in einer Wunde Loch.

Daß uns doch, Dichter, orphisch-rettend töne
dein helles Lied, wenn wir im Finstern gehen,
das kranke Herz sich mit dem Geist versöhne,

die Kreatur sich berge noch, die bange,
dem stummen Schmerze süße Namen wehen.
Daß sich der Dämon füge dem Gesange.

 

Sep 14 24

Sonett des Unglücklichen

Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen.

Ludwig Wittgenstein

 

Im hellen Licht verfolgen mich die Schatten,
und in der Nacht bohrt sich der Mond ein Loch
durch all die Decken, wo ich mich verkroch.
Mein Tag ist Nacht, mein Schlaf im Traum ermatten.

Die Worte, die mir gelten, sind wie Mücken,
sie zittern schon im Netz, das sich gewebt
die Spinne Angst, sie eilt, wenn es erbebt,
das warme Herz des Sinnes zu zerstücken.

Kannst, Dichter, du nicht einen Trank mir spenden,
den aus dem Gold der Trauben du gepreßt,
gepflückt von deiner Muse holden Händen,

den Wein, der mir die Flammen löscht, die dunkeln,
im Rausch mich Liebesblicke fühlen läßt,
wo Sterne aus dem kalten Abgrund funkeln?

 

Sep 13 24

Verbirg dich

Gemeine Seele, freigelassen, rast,
ist’s eine Meute, hörst du voll Entsetzen
sie heulend bald ein scheues Leben hetzen,
das demutstumm auf Gottes Au gegrast.

Hat Schlauheit sich dem niedern Trieb geweiht,
wird sie mit Öl und Gas ihn stimulieren,
im leeren Rausch der Kraft sich zu verlieren,
wenn unter ihm der heiße Motor schreit.

Verbirg dich, Dichter, gut in Laubes Schatten,
die klaren Versen, nährt sie Tau, entsprießen.
Die Rasenden, sie werden bald ermatten,

in Wüsten stottern tot sich die Maschinen,
wenn deine weichen Wasser weiterfließen
und deine Reime summen, goldne Bienen.

 

Sep 12 24

Daß nie der Schmerz erwacht

Wir sahen fern den Strom im Abend blassen.
Wie Wolkenkissen auf sich bauschten, weiche,
war uns, als ob der junge Mond erbleiche
vorm Kreuz des Wingerts, der längst aufgelassen.

Wir hörten bang die Süße späten Sanges
in Efeudämmerung herniedertropfen.
Uns war, als würden müde Pilger klopfen
ans Tor des schon verfallnen Wandelganges.

Und als der kalte Schwamm der Finsternis
die Bilder ausgewischt, die uns erwärmten,
quoll nur noch Seufzen aus dem tiefen Riß,

der durch das mürbe Mark der Sprache lief.
Daß wir mit Liedern nicht um Blüten schwärmten,
daß nie der Schmerz erwacht, weil Liebe rief.

 

Sep 11 24

Die Haut der Sprache juckt

Die Philosophie hat keinen Fortschritt gemacht? – Wenn Einer kratzt, wo es ihn juckt, muß ein Fortschritt zu sehen sein? Ist es sonst kein echtes Kratzen, oder kein echtes Jucken? Und kann nicht diese Reaktion auf die Reizung lange Zeit so weitergehen, ehe ein Mittel gegen das Jucken gefunden wird?

Ludwig Wittgenstein

 

Es ist die Haut der Sprache, was da juckt,
als würde ihre Poren Talg verstopfen,
und Wort um Wort gerinnt zu trüben Pfropfen,
bis lichter Sinn vom Unsinn ward verschluckt.

Es gibt kein Mittel, das die Reizung hemmt,
und wenn wir kratzen, wird es nur noch schlimmer.
Der Seele bleibt nur kindliches Gewimmer,
fühlt sie im Leib, dem eigenen, sich fremd.

Die vielgerühmten Therapien trogen,
man machte unser Selbstempfinden taub
und hat die kranke Haut dann abgezogen.

Kannst, Dichter, du noch einen Ausweg zeigen?
„Gib hin dich wie dem Wind das weiche Laub
dem Rauschen über abgrundtiefem Schweigen.“

 

Sep 11 24

Der Kleingeist

Eine Zeit mißversteht die andere; und eine kleine Zeit mißversteht alle andern in ihrer eigenen häßlichen Weise.

Ludwig Wittgenstein

 

Den Argwohn wurmt am Stolz der Indigenen,
die lächelt und im Haar gar Blüten trägt,
wie kleines Dasein große Seelen prägt,
die sich im Zweifelsfall an Rosen lehnen.

Den Kleingeist muß ein blonder Held empören,
der um ein kurzes, hohes Leben bat.
Der Siechende spuckt auf das Inkarnat
der Götter, die mit feuchtem Glanz betören.

Den Haß auf Größe wirst du immer finden
bei Gnomen. Abscheu vor dem Schöpferlicht
wird Monstren zeugen unter geistig Blinden.

Die Parasiten, die am Erbe nagen,
bereiten sich ihr eigenes Gericht.
Kein Epos wird den Untergang beklagen.

 

Sep 10 24

Der gelöste Knoten

Je genauer wir die tatsächliche Sprache betrachten, desto stärker wird der Widerstreit zwischen ihr und unsrer Forderung. (Die Kristallreinheit der Logik hatte sich mir ja nicht ergeben; sondern sie war eine Forderung.) Der Widerstreit wird unerträglich; die Forderung droht nun zu etwas Leerem zu werden. – Wir sind aufs Glatteis geraten, wo die Reibung fehlt, also die Bedingungen in gewissem Sinne ideal sind, aber wir eben deshalb auch nicht gehen können. Wir wollen gehen; dann brauchen wir die Reibung. Zurück auf den rauhen Boden!

Das Vorurteil der Kristallreinheit kann nur so beseitigt werden, daß wir unsere ganze Betrachtung drehen.

Warum ist die Philosophie so kompliziert? Sie sollte doch ganz einfach sein. – Die Philosophie löst die Knoten in unserem Denken auf, die wir unsinnigerweise hineingemacht haben; dazu muss sie aber ebenso komplizierte Bewegungen machen, wie diese Knoten sind. Obwohl also das Resultat der Philosophie einfach ist, kann es nicht ihre Methode sein, dazu zu gelangen. 

Die Komplexität der Philosophie ist nicht die ihrer Materie, sondern die unseres verknoteten Verstandes.

Ludwig Wittgenstein

 

Das Licht hat sich an Säulen aufgestaut.
Die Schatten, die sie werfen, aber wandern.
Des Lebens grüne Lieder, sie mäandern,
wenn kristalliner Sinn in Reimen taut.

Behutsam hat den Knoten aufgelöst,
worin des Lichtes Fäden sich verschlungen,
ein leiser Sang, im Abendrot gesungen,
vom dunklen Duft der Rosen eingeflößt.

Die sich an Krücken des Begriffes schleppen,
vernehmen einen Ruf: „Laßt sie nur fahren!“
Sie schreiten barfuß auf bemoosten Treppen

zur freien Aussicht von den Rebenhängen.
Sie sagen, was sie sehn, mit Worten, klaren,
und keins verirrt sich noch in Rätselgängen.

 

Sep 10 24

Die Saat des Abendlandes

Wenn das Christentum die Wahrheit ist, dann ist alle Philosophie darüber falsch.

Kultur ist eine Ordensregel. Oder setzt doch eine Ordensregel voraus.

Ludwig Wittgenstein

 

Das Kloster war die Saat des Abendlandes,
die Heiligung des Tages im Gebet,
damit des Herzens Unruh werde stet,
des Lebens Uhr sei Rieseln goldnen Sandes.

Die gleichen Hände sollen Unkraut rupfen,
damit die Saat der Hoffnung neu ergrünt,
daß Demut einem hohen Lichte dient,
die Chiffren auf die keuschen Blätter tupfen.

Doch jene Stille, trunkner Seele Krug,
hat wilden Schreis Barbarenfaust zertrümmert.
Wo der Gesang gab süßen Tranks genug,

hat man die Quelle mit Asphalt gefüllt.
Die jungfräulichen Lilien sind verkümmert,
brach liegt der Garten, fernen Edens Bild.

 

Sep 9 24

Der große Strom

Dieses Buch ist für solche geschrieben, die seinem Geist freundlich gegenüberstehen. Dieser Geist ist ein anderer als der des großen Stromes der europäischen und amerikanischen Zivilisation, in dem wir alle stehen. Dieser äußert sich in einem Fortschritt, in einem Bauen immer größerer und komplizierterer Strukturen, jener andere in einem Streben nach Klarheit und Durchsichtigkeit welcher Strukturen immer. Dieser will die Welt durch ihre Peripherie – in ihrer Mannigfaltigkeit – erfassen, jener in ihrem Zentrum – ihrem Wesen. Daher reiht dieser ein Gebilde an das andere, steigt quasi von Stufe zu Stufe immer weiter, während jener dort bleibt, wo er ist, und immer dasselbe erfassen will. (Philosophische Bemerkungen, Vorwort)

Ludwig Wittgenstein

 

Unruhe strebt vom Zentrum in die Weite.
Es nimmt am Grenzenlosen blindlings Maß,
wer eigner Herkunft Bild und Grund vergaß,
als ob zum Katarakt die Argo gleite.

Sie reißen Wurzeln aus gleich den Titanen,
errichten Türme bis zum Himmelszelt,
und dem Zement, auf daß er ewig hält,
vermengen sie die Knochen ihrer Ahnen.

Du aber sitzt am großen Strom, zu schauen,
wie trübe wird, voll Schlamm die träge Flut,
daß Sonnentages Bilder rasch ergrauen.

Auch Goethes Mond kann dich nicht mehr erweichen,
im Lied zu sagen, hier zu sein war gut,
siehst, Dichter, du im Strom sie treiben: Leichen.

 

Sep 8 24

Sprachspiel

In einer Konversation: Einer wirft einen Ball; der Andre weiß nicht: soll er ihn zurückwerfen, oder einem Dritten zuwerfen, oder liegenlassen, oder aufheben und in die Tasche stecken, etc.

Wie ist es, wenn Leute nicht den gleichen Sinn für Humor haben? Sie reagieren nicht richtig auf einander. Es ist, als wäre es unter gewissen Menschen Sitte, einem Andern einen Ball zuzuwerfen, welcher ihn auffangen und zurückwerfen soll; aber gewisse Leute würfen ihn nicht zurück, sondern steckten ihn in die Tasche.

Ludwig Wittgenstein

 

Das Wort, den Ball gilt’s nicht zu apportieren,
wie es der Hund, treu und beflissen, tut.
Das Spiel der Sprache sprüht, verlischt wie Glut.
Den Ball, den einer warf, wird er verlieren,

wenn ihn der andre nicht zurück mag geben:
Der wirft ihn einer holden Schönen zu.
Der Erste geht, läßt Liebende in Ruh,
die Wurf um Wurf einander höher heben.

Du kannst nicht jedem Spieler gleich vertrauen.
Die Arglist wirft den Ball, den sie gefangen,
ins Dickicht, wo ihn niemand wiederfindet.

Von dem am Helikon die Musen sangen,
den Ball mag dreist ein Epigone klauen,
daß er aus mattem Vers ein Truglicht schindet.

 

Sep 8 24

Gedämpften Tons

Für den Menschen ist das Ewige, Wichtige, oft durch einen undurchdringlichen Schleier verdeckt. Er weiß: da drunten ist etwas, aber er sieht es nicht. Der Schleier reflektiert das Tageslicht.

Ludwig Wittgenstein

 

Das Pathos edler Phrasen wirkte hohl,
als würde plötzlich eine Wunde nässen,
die unter dem Verband man fast vergessen,
und alles, was nicht heilt, wär nun frivol.

Des Lichtes Fäden scheinen blind verstrickt
in einen Knäuel, der nicht zu entwirren,
und, wie Insekten in ein Spinnweb, schwirren
die Worte in den Schleier, der erstickt.

So dämpfe, wenn es dämmert, deinen Ton,
damit die tiefen Seufzer aufwärts quillen,
die, Dichter, dir vertraut, des Orpheus Sohn.

An Reimen, die wie blaue Falter glommen,
mag ihren Durst die alte Spinne stillen,
freu dich des kleinen Käfers, der entkommen.

 



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