Die Sprachbildner
Wer sprach zuerst das Wort, Mann oder Frau,
das mehr war als vor Schmerz aufstöhnen,
als seufzen, wenn Erschöpfte sich versöhnen?
Sinn, der den Satz gebar: „Sieh, Himmel blau!“
Riet sie zum Aufbruch, daß die kleine Schar
in grünerm Fruchtland könne froher wohnen?
Beschwor er Mächte, die sie gnädig schonen?
Sinn schmilzt in Sinn, ein Spruchreif, golden-wahr.
Sprachbildner, Polen des Magneten gleich,
wenn zarte Muster bilden Eisenspäne.
Ein Sprachtuch webten sie mit Bildern reich,
fürs Töten Äxte und für Anmut Schwäne,
Gestirn für Ruhm und voller Mond für Stille.
Doch blieb das Zentrum schwarz: die Ich-Pupille.
Zwiegespräch mit der Sonne
„Ja, sitz hier still. Ist dein Gesicht auch fahl,
das Herz ergraut, verschorft die Haut der Seele,
ward blind die Inschrift der Gedächtnisstele,
vergiß dein selbst, küßt dich mein sanfter Strahl.
Mag’s dämmern schon, es dringt durchs Schattenlaub,
was überglitzerte die Kindheitsflüsse,
was dir gerötet hat den Samt der Küsse,
wisch dir nur vom Gemüt den eitlen Staub.“
„Es ist zu spät, ich warte auf die Nacht.
Sobald der Hoffnung Glanz wird erdwärts sinken
und Schwermut hüllt ins schwarze Tuch mich sacht,
will ich den Tau aus Mondes Schale trinken.
Dein Strahlen feiern Blumen, die nicht bluten,
mir hat’s den Geist gegerbt wie Flammenruten.“
Ein Hündchen träumt
Es reckt die Ohren gleich, wenn hell die Stiege
von seines Herrchens lieben Schritten tönt.
Das seidne Fell, vom Sonnenstrahl verschönt,
sagt einem Mädchen, deine Wange schmiege.
Es fand wohl Heimat, warm bei Napf und Kissen,
doch fühlt’s, kein Teppich atmet Thymian.
Ein Sprung geht wie in zartem Porzellan
durchs Herz ihm, Wildnis immer fern zu wissen.
Wüst wedelt es, beißt in die Leine, bellt,
heiß hastet es dem Balle nach, dem roten,
äugt treu, wenn er dem Herrn zu Füßen fällt.
Nachts träumt’s, als riefen ihm die toten
Vorfahren, Hüter einst der Rentierherde:
„Schön war das Wandern auf der freien Erde.“
Ein Mäuslein träumt
Es war ein Mäuslein, das nur immer kuschte,
wenn es da droben, wild im Blätterdunkel,
sah einer Eule lauerndes Gefunkel,
ins Erdloch vorm fatalen Schwirren huschte.
Da träumte oft es von der Ahnin Mären,
die sie, es lag in ihrem Schoß, gesäuselt,
vom Reich, wo Katze nicht, nicht Eule mäuselt,
wo ohne Bangen Tanz und Fiepen wären.
Dort müßten sie nicht dunkle Gänge wühlen,
nicht winters harren aus bei Span und Spelt.
Des offnen Himmels blauen Blick zu fühlen,
ein Garten Eden wär die Mäusewelt.
Doch aus dem Traum, wo Friedenslüfte hauchen,
reißt scharfer Tatze Scharren es und Fauchen.
Sonett von der Angorakatze
An ihres Auges lichten Bernsteingittern
verglüht dein Schatten und zerrinnt dein Bild.
Nie siehst du, daß ein leiser Tau entquillt,
nie süßer Schwermut weiche Träne zittern.
Wie Kissen leichten Schlummers sind die Ballen,
wenn träumerisch sie ihre Pfoten leckt,
wie Dornen, holden Büscheln Schnees entreckt,
die in das Herz der Unschuld stechen, Krallen.
Wenn scheues Dasein sich ins Dunkel wühlt,
vergebens, und es fiept gespenstisch-schrill,
ist es die Maus, mit der sie grausam spielt.
Satt liegt, gepreßten Lids sie, lämmerstill,
und surrt entrückt, wenn zarte Mädchen kraulen.
Nachts aber hörst du sie bacchantisch jaulen.
Dichterisch gesinnt
Die Wurzel reicht ins Dunkel tief, ins Licht
reckt aber irishelle Blüten Fühlen,
daß darin summend goldne Bienen wühlen,
doch ob den Tau sie finden, weiß es nicht.
Es rinnen Tropfen, die ihr Sehnen kühlen,
wohl über weicher Veilchen Angesicht.
Das Herz der Nachtigall fliegt, wenn sie singt,
durch Schwermutlabyrinthe blauer Schatten.
Nur unser Herz stockt, möchte schon ermatten,
wenn Krokus uns den Azur wiederbringt,
wir zittern, wenn sich Mond und Meergott gatten
und heiße Gischt in unsre Trübsal springt.
Nein, sei bereit, bleib dichterisch gesinnt,
mag denn der Herbst die zarten Knospen pflücken,
auch stiller Flocken Schnee kann noch beglücken.
Daß nicht das Blut des warmen Sangs gerinnt,
mußt du der Muse weiche Brüste drücken,
die Milch der Liebe saugen wie ein Kind.
Der Wein des Dichters
Die Gischt des Monds wäscht ab den Staub,
der Regen singt von müden Rebenranken,
woran dumpf pochend unsre Herzen kranken,
die Asche des verglühten Sinns vom Laub.
Gut ist den Nacken beugen einem Quell,
dem Felsenmund entflossen, süßem Leuchten,
wenn matte Moose sich mit Glanz befeuchten
und Lebensgeister rufen: „Nacht, wie hell!“
Sei, Dichter, uns dein Wort ein goldner Wein,
der unterm Kuß des Abendsternes sprüht.
Mag er in unsrer Brust die Sonne sein,
den Hades unsrer Ängste zu erwärmen.
Der Rose gleiche sie, die sanft verglüht,
wenn dämmerbang noch Falter um sie schwärmen.
Des Glückes scheuer Strahl
Ein Sonnenstrahl
durchs Küchenfenster kroch einmal,
nachdem er bänglich hingesunken,
aus einer Pfütze Mut getrunken,
flugs wieder sich emporgerappelt,
hat heiter, Knabe, dich umzappelt
und ausgestreut sein Feengold
in deine Knabenlocken hold,
auf dein Vokabelheft ein Wort gesät,
das dir kein Wörterbuch verrät,
getanzt auf deiner Nase Twist,
„Leb wohl“ dir auf die Stirn geküßt.
Gebeugt bleich über die Bucolica
bist nicht errötet du, als wär dir nah,
als käm zurück
das Sommerglück?
Wie, das kann nicht sein,
die Fensterscheibe, sagst du, war nicht rein,
schmutzig war sie, ungeputzt und trübe,
kein Fünkchen je, kein Irrlicht Liebe,
aus dumpfer Qual
erweckte Glückes dich kein Strahl,
perdu war immer Sommer schon
für dich in der Pennälerfron?
Na, warte, Kerl, jetzt setzt es was,
jetzt macht dich Mnemosyne blaß.
Fühlst du es nicht, wie sich im Grab
herum die Mutter dreht, die alles gab,
was wieder du mit vollen Händen hast
vergeudet und verpraßt,
die treue Magd, die Küchenfee,
gebügelt das gestärkte Hemd,
den eitlen Scheitel dir gekämmt,
die braun geäugt, das Schlaf-gut-Reh,
was, geputzt hätt sie die Scheibe nicht,
damit ermuntert dich das Sonnenlicht?
Im Finstern ewig torkle seelenkahl,
verleugnest du des Glückes scheuen Strahl.
In Schattennetzen
Wenn kalt der Mond die Silbersichel schwang,
entsinken rote Wolken, Blütenfetzen.
Dem Vogel gleich, der zuckt in Schattennetzen,
vergaß das Herz, wie süß die Frühe sang.
Frag nicht nach der Chariten goldnem Thron,
bestreut mit Rosen, Veilchen und Zyanen.
Es haben umgestürzt ihn die Titanen,
in Sapphos Hain gelenkt den Acheron.
Erloschen ist des Aulos holde Weise,
die Pindar Honig schleudernd hat beschworen.
Uns ging wie Pilgern an der letzten Schneise
das Sternbild im Gewölk des Wahns verloren,
Chimären, die aus trüben Wassern steigen.
Fremd rings Gelall, wir aber müssen schweigen.
Als würde hell die Nacht
Dem Andenken an Robert Walser
Schnee, o Schnee,
dein Wirbeltanz macht leicht,
daß Lichtkristallen gleicht
der Liebe dunkles Weh.
Vom Vlies des Schlafes Flaum,
weich hüll mich darin ein,
den Kitzel fühl ich kaum,
als müßten’s Küsse sein.
Dein Samt schmiegt sich so sacht
an meine Schläfen heiß,
als würde hell die Nacht,
verdämmern, was ich weiß.
Als teilte ich die Gischt
des Monds auf einem See,
schreib Zeichen ich im Schnee,
die neuer Schnee verwischt.
Schnee, o Schnee,
an scheuer Wimper graut
die Flocke schon und taut,
daß Bläue ich noch seh.
Siehe auch:
https://www.youtube.com/watch?v=0qOK_smVJTw
Augen sagten es
Noch gestern glänzte Tau dir, Rosenwange,
nun liegst du, eines Sommers dürre Schale
auf meiner Fensterbank. Ich denk zurück
an jene Tage, schneeverwehte Senken,
wo Weiden kahle Hände einsam recken,
in einen Himmel, der mit Schleiern spielt.
Dort strömten grün charitenmilde Wasser,
und wir im Gras des Ufers lagen still,
denn unsre Augen sagten es, die feuchten.
Dem Reh gleich, das auf eine Lichtung tritt
des Abends, äsend hebt es jäh den Blick,
bang flüstern Halme noch, da es entspringt,
seh flackern ich dein Bildnis wie im Schein
der Kerze, deren Docht um Honig bettelt.
Nun kost des Dämmers Odem mit dem Blatt,
bald wird es in die Tiefe, muß es fallen,
o könnte ich die stumme Erde sein,
worein es langsam schmilzt, wie eine Flocke,
ein zarter Flaum, vom goldnen Vlies gepflückt,
bevor noch Argo ins Verhängnis schwamm.
Das Fenster schließ ich, zieh den Vorhang zu,
daß mir kein Strahl Erinnerung erwecke,
kein Zwielicht gaukle ferner Liebe Bild.
Entrückte Stimme
In dieser Urne, einem Massengrab,
wo Würde neben Niedertracht muß liegen,
wo Dummheit und Genie das gleiche wiegen,
verstummt sogleich, wer seine Stimme gab.
Sie lauern vor den Linsen, geifern schon,
zu wedeln und scharwenzeln, feile Schranzen,
getünchter Mienen Maskentanz zu tanzen,
das Herz der Phrase dumpfes Megaphon.
Halt fern dich, Dichter, vom Geschrei der Straße,
ein fauler Atem wird dein Lied zersetzen,
morsch brechen hin, von ihm behaucht, die Maße.
Dein Tau mag zarte Wimpern nur benetzen.
Ein Laub, das schauert, Stimme, hold entrückte,
sie strömet einsam, wo die Knospe glückte.
Im Keim verschlossen, Rätselwort
Wenn von des Abgrunds Dunkel Blitze künden,
von Gottes Schweigen aber Donner dumpf,
wenn eine Wolke Segensmilde regnet,
den Tau von Wimpern schütteln wache Knospen,
spricht wohl prophetisch geistgestraffter Mund:
„Es ist ein Gott, der überm Zwielicht thront,
sein Name glänzt, o dunkles Licht der Tiefe,
und seines Zeichens ist der Gipfelschnee,
wenn ihm im Abendlichte Schatten blauen,
sind es, die sanfter rauschen, Engelsschwingen.“
Wie aber jener, der vom Strahl geblendet
und über sich geworfen das Gewand,
daß er der Schar enthüllt, den Auserwählten:
„Unsichtbar ist die Macht, die schöpferische,
wir sehen nur, wie Wolken, Schaum der See,
gespenstisch jagen, nicht der sie peitscht den Sturm.
Wie das im Keim verschlossen, Rätselwort,
das aufgeht unterm goldnen Kuß des Lichts
und sich entfaltet zu der hohen Eiche
episch raunender Gestalt, ist Gott,
unaussprechlich ist sein wahrer Name.
Wir haben nur, dem Echo gleich, das zehrt
am bröckelnden Gestein, und Efeu schauert,
der Seele schmerzlich-süßes Zittern, greift
die Saiten fühlend eines David Hand,
den Psalm, ein zartes Blatt, vom Strahl vergoldet,
der durch das trunkne Laub des Dämmers drang.“
Uns, die gesanglos wie im Hades tasten
mit Händen, taub von tumber Mühsal Schwielen,
mit Herzen, die am blinden Puls ergraut,
hat leergewischt der blauen Tafel Zeichen
ein schwarzer Schwamm, getunkt in Tränensud.
Wer nähme, die am Gitter Schwermut wuchs
und ahnend schwankt, die Ranke sich als Brücke
ins weiche grenzenlose Blau der Nacht,
wer hielte noch im Reigen der Plejaden
sein Herz dem Blitzen hin, Orions Pfeil?
Am Fenster stehe still
Was tust du hier? Was willst du noch, o Mensch?
Wie rasch die Spuren sich verlieren, wuchert
das dunkle Moos schon über edle Namen,
zerknirscht die Stimme, die zu Göttern stieg.
Der schimmernde, der Krug der Abendfeier,
wo Anmut zarter Ranken Zeichen malte,
es rafft sie keiner auf, die Scherben leimend,
an stumpfer Gier zersprungene Fragmente,
unlesbar einem faselnden Geschlecht.
Die Nische, wo der Engel sanft geschwebt,
von goldnem Licht getränkt der Unschuld Flügel,
bewohnt die Eule nun, auf Mäuse lauernd,
die über umgestürzte Bänke huschen.
Was willst du noch? Am Fenster stehe still
und schau die Traumgestalten, stumme Wolken,
die gleichen Sinnes über Wald und Wüsten
hinschwammen, auf der dunkelblauen See
die Gischt, träg schäumend wie dein müder Wille.
Lausch auch dem dunklen Brausen der Gezeiten,
die an den Ufern nagen, bis zerbricht
der schmale Streifen Grün und mit sich reißt
die Büsche und Gesanges schwanke Nester.
Verblichen treibt im schwarzen Sand die Muschel,
die einst der Knabe an den Mund geschmiegt,
zu tönen, wie Chariten sie behauchen,
die herrlich knospen, Seelen, und im Glanz
des Schönen heiter sind, Thalia, Aglaia,
Euphrosyne, Pindars Trinitas.
Eratme sie, die Düfte ferner Inseln,
die schon Gestirnen gleich verlöschen, Augen,
die sich ausgeweint im Schoß der Nacht.
Und bringen sie das Lied dir mit, das frühe,
das Liebesopfern wölkte vom Altar,
lall einmal es noch nach und sink ins Kissen.
Umwölkt von Veilchenduft
Die Steifen lockern sich und lachen.
Ein Hündchen hat gebellt,
ein Spatz ist durch das Kirchenschiff geschnellt.
Wie Reime manchen toten Docht entfachen.
*
„In deine Träne laß mich ein,
ein Salzkorn, hin und weg zu tauen.“
„Ein Spiegel nur kann ich dir sein,
in meinem Auge deins zu schauen.“
*
Im Traume klappern Holzpantinen,
ein Kimono fließt, Zehen wippen.
Aus Wachs sind hier der Liebe Mienen,
sie schmelzen nicht an Traumes Lippen.
*
„Den Becher heb an deinen Mund,
worin ich meinen Herbst gegossen
von Trauben, wie ein Wehlaut rund.“
„Den Kuß, der kühlt, fühl auf der Stirn,
den Enzian, dem Schnee entsprossen,
als aufgetaut mein Hauch den Firn.“
*
Dem Seufzen, Keuchen, dumpfen Stöhnen,
gedrungen aus der Hadeskluft,
entwand ein selig-süßes Tönen
der Gott, umwölkt von Veilchenduft.
Die letzte Reise
Wenn was ihm Heimat gab verblaßt, verweht,
die Knospen, unter Eos Hauch entzündet,
ihr Duft, der sein Gemüt genährt, entschwindet,
fragt keins, wohin der stumme Dichter geht.
Ward ihm zum Karst der Garten, und das Wort
erstickt vom geilen Speicheln fremder Zungen,
von Fäulnisgasen übertäubt die Lungen,
ein Pilgrim ohne Muschel zieht er fort.
Ins Traumland wandert er, wo Hund und Hirten
am Feuer lagern und den Ausgebrannten
mit froher Glut und süßer Milch bewirten.
Dem aus der Muttersprache schnöd Verbannten
erbebt die Lippe schon von frühen Weisen.
Zu Hirten des Vergil magst, Dichter, du noch reisen.
Aus der Hadeskluft
Dämonisch, ein Waran, sein Kuß ist Tod,
die Jungen flüchten, kaum entschlüpft der Schale,
vor ihrer Mutter, Monstrum, Kannibale.
Solch Graun erweicht kein Hauch, kein Abendrot.
Aus Tiefen steigt Kolonos Götterhain,
wo seherisch, der sich geblendet, lauschte,
Gesang der Nachtigall, Laub, das sanft rauschte,
als tränke Charis ihn mit goldnem Wein.
Wir aber tasten seelenblind ins Leere,
und hören fern wir Edens Quellen singen,
ist es, als ob uns dunkle Glut verzehre,
unstillbar züngelnd Flammen uns verschlingen.
Wir flehen aus der Hadeskluft vergebens:
„Träuf, Lazarus, uns Tropfen wahren Lebens!“
Die Endzeituhren ticken
Die Wolken fließen weich wie Traumgebilde,
doch wenn sie Sturmes Klauen blindlings rupfen,
siehst Flocken du noch, milchig-schäumend Tupfen,
und wieder blaut der Schlaf des Himmels milde.
Es war dir, ferner Gärten Wasser quillen,
und Flüstern wob durchs Dunkel Silberfäden.
Steh auf und mach sie dicht, die Fensterläden,
das tiefe Weh, sie können es nicht stillen.
Verweigre dich dem Flammenkuß der Rose,
kühl, Dichter, deine Stirn am Veilchentau,
verstumm vor scheuen Lippen der Mimose.
Hüll dich ins Tuch aus dunklem Jenseitsblau,
mag Nacht darein auch Inseln Lichtes sticken,
lieg still und hör die Endzeituhren ticken.
Rettung für die Autochthonen
Flucht nur wär Rettung für die Autochthonen,
die hellen, vor den Dunklen, den Barbaren,
die in den längst entstellten Marken wohnen,
vor tückisch-milden auch, Verräterscharen,
am Blut der Mutter saugend, Parasiten,
die ihren faden Geist mit Phrasen würzen,
aus der zerfressnen Galle Wahn geglitten.
Sie werden, stirbt der Wirt, ins Leere stürzen.
Wohin? Sie reisen schon, die Wehmutkranken,
gen Nord, zu Sterngeschwistern, Rentierlappen,
dort bauen, unter Birken, heiter-schlanken,
sie Hütten, krönen sie mit Eichlaubwappen.
Sie retten sie, die Sprache aus dem Sumpfe,
wo Geister an ihr nagen, wurmblind-dumpfe.
Nur wenig Grün
Nur wenig Grün blieb, müden Lebens Licht,
uns, deren Herzen lange schon ergrauten,
es gleicht dem Moos, an dem Kristalle tauten,
auf einem Mal, das auseinanderbricht.
Getrübtem Aug verschwimmt die hohe Schrift,
ihm wollen zwischen Namen, frommen Siegeln
sich Wasser namenloser Tiefen spiegeln,
wo fahler Strahl auf Asphodelen trifft.
Und pflückst halbblind du ärmlich-dürre Halme
auf Karsten, Dichter, längst versteinter Worte,
sie geben dir den Duft nicht mehr zum Psalme.
Sink nieder auf die Schwelle jener Pforte,
wo hoffend du hast angeklopft – vergebens.
O dürftiges, o Grün des müden Lebens.
Pilger durch die Dunkelheiten
Den Augen, Pilgern durch die Dunkelheiten,
als glimme fremder Sterne Licht im Spiegel,
als wär gelöst verschwiegner Liebe Siegel,
ließ feuchter Schimmer die Pupillen weiten.
Grün glänzt die Schneide von zerbrochnem Glase.
Wie rote Blüten auf im Staub gegangen,
wie Tupfen Rouge auf eingefallnen Wangen,
Blutstropfen sind’s. Tot liegt ein Weib im Grase.
Sag, Dichter, was du sehend klar empfunden.
Sind sie auch wirr, die Linien des Lebens,
und liegt ein Zwielicht auf den späten Stunden,
daß dir erscheinen fremd vertraute Zeichen,
du ziehst des Verses Furchen nicht vergebens,
wenn sie bis an den Saum der Urnacht reichen.
Die Feuer der Erde
Wo aber heller schäumte die Luft und blauer
die Himmelsapsis sich wölbte, gab sich die Erde,
erweckt vom schwarzen Flackern der Zypressen,
in süßeren Früchten.
Der Dichter schlief zwischen den Gräsern und hörte
im Traum die Wasser durchs Laub der Dämmerung rauschen,
den blanken Fuß des Götterbilds zu netzen
im dunkelnden Haine.
Uns sind entrückt, wie von den Blattern entstellt sind
die Bilder, trocken die Adern verwitterter Male,
und schabt wer ab den Schorf der Zeit, so sieht er
nur fahlende Fratzen.
Die Erde, zum Schweigen gebracht unter Asphalten,
staut auf, die an grimmigen Wurzeln entfachten, die Feuer.
Es werden die Schale des dumpfen Schlafs zerbrechen
gefräßige Flammen.
Zertrümmerte Aphroditen
Die greise Muse muß den Blick jetzt senken,
wenn tätowierter Phrasen Muskeln schwellen.
Die Anmut lernt vor schwarzer Mäuler Bellen
die sanften Glieder spastisch zu verrenken.
Verpönte Namen gleichen edlen Vasen,
woran obszön man schilt die runden Lenden.
Zertrümmert werden, die Plebejer blenden,
die Aphroditen unter Meerschaumgazen.
Die sich wie Ranken um die Säulen wanden,
Akanthusblätter, Weihtums First zu krönen,
der Hymnen hohe Atemrhythmen schwanden.
Hör, Dichter, auf im Angstverlies zu ächzen,
birg dich ins Schilf, mag Mondnacht dich versöhnen,
lausch Lethes Flut nach deiner Seele lechzen.
Flüstern wie von Ranken
Ein schattenhaftes Flüstern wie von Ranken
hat kaum gekühlt den stummen Schmerz der Wunden,
nur halb gefüllt die leeren Abendstunden,
wie Schaum die Muscheln, die mit Monden schwanken.
Was wir einmal als Schöpferwort empfunden,
ward schattenhaftes Flüstern wie von Ranken.
Und bat ich dich, den hellen Vers zu sagen,
die Knospe, die auf dunklem Teich geschwommen,
betaut von Tropfen, die im Frührot glommen,
hast du, als wär der Glanz nicht zu ertragen,
den Blick gesenkt, schwiegst wie ein Kind beklommen,
wenn ich dich bat, den hellen Vers zu sagen.
Es schwebt der Geist noch über grünen Wellen
an Ufern, wo ihm huldigen Narzissen.
Sind aber Dichter, die den Duft vermissen,
geheime Sonnen, trunkner Verse Schwellen,
führt sie die Nacht, von Blitzen aufgerissen,
zum Fruchtland, hold umspült von grünen Wellen.
Die alternde Kindfrau
Ein sanfter Strahl hat schon genügt, und feines
Lächeln, von dem sie selber nichts gewußt,
umspielte ihren weichen Mund.
Saß sie vorm Fenster, und es wehten Zweige
trunkne Schatten auf und nieder, beglänzte
Feuchte, der schon dunkelte, den Blick.
Hat ihr auch das Schicksal aufgebürdet
Scheite der Erinnerung, die Finger wie Fühler spreizend
trat sie lauschend auf den Saum der Nacht.
Das graue Haar rehbraun getönt, die blasse Wange
von zartem Rouge gehöht, blieb dunkle Glut,
die Sehnsucht kaum mehr schürt, das Herz.
„Wird nicht alles weniger“, so sprach sie öfters,
„wie das schimmernd trat hervor, das Bildnis
auf der Münze, abgegriffen vom Gebrauch?“
Ich sagte nichts, doch schmeckte Fadheit,
wie einer Frucht, die zuviel Sonne runzeln ließ,
und wässrig trieft der Lebenssaft.
„Die Namen auch, die Blüten süßen Dufts,
wir sahen nicht, daß Herbst sie wohl vergoldet
mit einem Licht, das Bitterkeit aus Pfützen trank.
Verschweigen wir, was unter Ranken uns geglüht,
der Wingert wurde aufgelassen,
ungekeltert blieb der stillen Hoffnung Wein.“
Ein sanfter Strahl hat schon genügt, und feines
Lächeln, von dem sie selber nichts gewußt,
umspielte ihren weichen Mund.
Ins Leere gleiten
Am Licht geprüft ergrünten Baumgedanken,
in Dunkelheit gekeimt, der Nacht entsprossen.
Das Dichterwort, von Rätselhauch umflossen,
weht ferne schon, ein Flüstern zarter Ranken.
Vom Blitz geweckt, dem Schlaf des Schnees entsprungen,
grub Wasser sich ein Bett, und Lefzen troffen.
Dem schien ein Pfad durchs Schilfgeseufz noch offen,
hat Melusines bleichen Mund besungen.
Wie die an heißen Stirnen schmelzen, Flocken,
sind nun der frühen Bilder Traumkristalle.
Das Flußbett unsres Fühlens, es fiel trocken.
Schon fault das Moos auf den zersägten Scheiten.
Daß von der Brust sich löse Dämons Kralle
und stumme Schatten wir ins Leere gleiten.
Im Schmerz bist du mir nah
Wie eine Frucht, am Gaumen aufgegangen,
und süßer Saft zerrinnt im dunklen Munde,
ist die Erinnerung an jene Stunde,
da süß in Südens Gärten Vögel sangen.
Wie jählings aufgeflattert sich die Hände
wie weiche Schalen eins ums andre schlossen.
Ein goldnes Licht war durch das Grün geflossen,
daß sich der Tag am Traum gestillt vollende.
Weilst du auch fern, im Schmerz bist du mir nah.
So steht am Fenster, der die müden Augen
ins Zwielicht taucht, als ob an Ästen, toten,
Orangen glühten, wie ich einst sie sah,
als mich verlangte, hellen Schlaf zu saugen,
und du den Mund mir recktest hin, den roten.
Die Taube und ich
Philosophische Aphorismen und Sentenzen
Die schöne Waldtaube, der ich täglich Sonnenkörner streue, kann ich von ihr sagen, daß sie auf dem Dach des Hinterhofgebäudes ruhig sitzend auf mich wartet, mich sieht, erkennt und wiedererkennt, wenn ich ans Fenster trete und es öffne, in demselben Sinne es sagen, wie ich sage, daß ich sie sehe, erkenne und an ihrer charakteristischen weißen Halsbinde wiedererkenne?
Die Taube kommt in der frühen Morgenstunde, sobald es hell wird. Erinnert sie sich daran, daß sie gestern auch hier war, vorgestern, vor einem Monat?
Kann sie voraussagen, vermuten, hoffen, daß ich bald wieder ans Fenster trete und ihr Körner streuen werde? Kann sie wünschen, daß es heute ein paar Körner mehr als gestern oder vorgestern sein werden?
Kann sie befürchten, daß ich heute nicht ans Fenster trete, und sollte dies der Fall sein, darüber spekulieren, warum es nicht geschah, und sich etwa fragen: „Vielleicht ist er verreist, krank oder am Ende gar gestorben.“
Kann sie sich sagen: „Da ist er wieder, dieser seltsame Mensch, der sich meiner annimmt, an mich denkt, mich nicht vergißt?“
Ich erkenne das Tier als diese bestimmte, einzigartige Taube. Ich weiß, was ein Tier ist, kenne diese und jene Arten und Gattungen von Tieren wie Schlangenartige und Kobras, Wolfsartige und Hunde, Vögel und Tauben, Hominiden und Menschen, und unter allen Menschen diesen einen, der ich selbst bin. Doch die Taube weiß nicht, daß ich ein Mensch bin, weiß nicht, daß sie eine Taube ist.
Etwas wissen heißt hier, es sagen können. Es nicht wissen heißt, es nicht sagen können. „Können“ hat hier einen semantisch-logischen, keinen nur physiologischen Sinn.
Ich weiß, daß ich die Taube nur eine gewisse Zeit füttern werde. Jedenfalls, solange ich Gefallen daran finde und es will. Verläßt sich die Taube darauf, daß ich es weiterhin tue, wäre sie enttäuscht, wenn ich davon Abstand nähme?
Der enttäuschte und betrogene Liebhaber der antiken Elegie und Komödie liegt nächtelang auf der Schwelle der Geliebten. Meine Taube wird, so ist zu hoffen, wenn sie die ausgestreuten Körner ein paar Tage vergeblich zu erspähen versucht hat, den Weg zu mir meiden.
Was sollen wir von den treuen Hunden sagen, die ihr unterwegs verlorengegangenes Herrchen über weite Strecken suchen und wiederfinden, die gar vor dem Grab des verstorbenen harren und darben? Es kann wohl nicht nur die durch die Fütterung konditionierte Bindung als ausschlaggebendes Motiv in Anschlag kommen. – Vielleicht aber drängen sich in solchen Fällen Projektionen menschlicher Verhaltensmuster und Gebärden auf die innig geliebten Haus- und Schoßtiere verständlicherweise geradezu unaufhaltsam auf.
Kann die Taube sich vornehmen, morgen einmal nicht zu erscheinen, gleichsam aus Trotz, weil ich ihr heute zu wenig Körner gestreut habe? Kann sie ein paar Tage ausbleiben, um mir den beinahe verwegenen Hinweis zu geben, wie sehr ich ihrer erfreulichen Anwesenheit bedarf; so wie Liebende es tun, die sich dem anderen entziehen, um ihn seiner Sehnsucht innewerden zu lassen?
Die Waldtaube ist äußerst scheu. Manchmal verharrt sie lange auf dem Dach, als wäre sie nur bereit, sich auf den Boden herabzustürzen, wenn ihr das Wagnis unbedenklich zu sein scheint.
Ich dagegen scheue mich manchmal, den Tiernarren zu spielen, wenn ich mich von einem Nachbarn beobachtet glaube.
Das instinktive Zögern des Tiers und meine soziale Scheu entspringen unterschiedlichen motivationalen Quellen und sind nicht vergleichbar.
Früher kamen sie zu zweit, und friedlich pickten nebeneinander Taube und Täuberich. Nun kommt sie schon lange allein. Ob er gestorben ist, ein Opfer der oft hier krächzenden Krähen wurde?
Warum ist es albern, der verwaisten Taube den sozialen Status einer Witwe zusprechen zu wollen?
Tauben kennen, auch wenn sie wie andere Vogelarten eine langjährige Bindung einzugehen pflegen, keine sozialen, auf Konventionen beruhenden Institutionen wie die Ehe.
Die Übertragung von dem Menschen eigentümlichen Gepflogenheiten und Institutionen auf das Leben und Verhalten der Tiere ist ein typisches poetisches Verfahren der Fabel, wie wir es von Äsop bis zu La Fontaine und Lessing kennen.
Der Waldtaube mit dem silbergrau schimmernden Federkleid wachsen keine schwarzen Federn zum Zeichen, daß sie Trauer trage.
Die Taube und die Sippe ihrer nahen Anverwandten pflegen keine Trauerrituale, suchen den Ort, wo der verunglückte blutsverwandte Artgenosse umkam, nicht auf, um seiner in Stille zu gedenken.
Ich sage mir: „Wie seltsam, Federn zu haben, und statt der Arme und Hände einen Schnabel; wie merkwürdig, sich aus dem Stand durch ein paar kräftige Flügelschläge jählings in die Lüfte zu erheben und in einem hohen, eleganten Flug den Kranz des weit emporragenden Kamins auf dem Nachbarhaus zu erreichen, um dort in die Runde zu schauen.“
Die Taube aber kann sich nicht sagen: „Wie seltsam, eine nackte Haut zu haben und nur auf dem Kopf, unter den Achseln und an den Geschlechtsteilen behaart zu sein, auf zwei Beinen zu stehen und zu gehen, Hände an den Armen zu haben und mit ihnen Dinge zu verrichten, die ein Schnabel nicht zu leisten vermag; wie merkwürdig, einen Mund zu haben, aus dem es nicht gurrt, sondern spricht.“
Ein Kamerad aus der Kinderzeit, dessen Großeltern aus dem Ruhrgebiet stammten, setzte die dortige Tradition der Brieftaubenzucht mit seinem Vater fort. Die edelsten Vögel wurden ausgesucht und in Käfigen von Mitgliedern des Taubenzüchtervereins in weit entfernte Orte verbracht; dort ließ man sie frei und zu Hause wartete alles gespannt, wann sie wieder eintreffen würden. Die Flugzeiten wurden gemessen und Preise für die schnellsten Wettflieger vergeben.
Keine der für den Wettkampf ausersehenen Tauben hat sich je gesagt: „O nein, ich werde ihnen den Gefallen nicht tun, ich nutze die Gelegenheit und schlage ihnen ein Schnippchen, ich beschäme den Untertanengeist meiner den Menschen hörigen Sippe und fliege ins Freie, ins Offene.“
Menschen züchten, dressieren, erforschen und essen Tiere – nicht umgekehrt.
Was uns aber eigentlich fasziniert, sind wilde, ungezähmte, nicht ins Menschentum eingehegte Tiere – wie mich die Waldtaube, im Gegensatz zu der schon häßlich degenerierten gewöhnlichen Straßentaube.
Die Faszination durch die wilde, noch ungebändigte Natur wird wohl in der Vorromantik wie bei Rousseau und der Romantik wie bei Novalis und Eichendorff, hernach im Expressionismus und in neuer Dichtung wie bei Trakl und Rilke („Der Panther“) ein immer neu hervorbrechendes Thema; doch steht sie eigentlich am Beginn der künstlerischen Formung des menschlichen Bewußtseins wie in den Höhlenmalereien der Steinzeit.
Dem Kultivierten, der in der kulturellen Differenz des Rohen und Gekochten erzogen wurde, ekelt vor dem Verzehr rohen Fleisches; die Bakchen zerreißen im dionysischen Rausch Tiere, ja die verblendete Mutter den Sohn Pentheus.
Mit dem Schnabel picken; mit den Händen essen. Die geduldig erlernte Kunst, Messer und Gabel zu benutzen.
Der Wahn rückt den Kranken zurück in vorzivilisatorische Bewußtseinslagen.
Die Schamanen wähnen, fliegen zu können.
Hölderlin kommt nach Ausbruch der Krankheit in die gefährliche Nähe chaotischer Mächte, wie der Titanen, der Totengeister, der Stimmen aus dem Abgrund.
Nach Austreibung der Dämonen durch aufgeklärte Pfaffen und bieder-liberale Theologen wird das Christentum schal und fade.
Manche dekadente Dichtung wirkt im besten Falle noch wie ein Magenbitter nach einem zu üppigen Festschmaus.
Die Heroen der griechischen Mythologie und Dichtung wie der zornige Achilleus und der Kapitän der Argo haben einst dem schüchternen Pennäler Schauer über den Rücken gejagt.
Der Transhumanismus mit seinem grauen Wahn, den Menschengeist in neuronalen Maschinen zu verewigen, mutet wie eine letzte lächerliche Verleugnung der archaisch-animalischen Ursprünge des menschlichen Bewußtseins an.
Groß dünkt uns nur, was wie absichtslos, ja unbewußt aus den dunklen Tiefen des Daseins emporwächst, wie die rätselhaften Organismen der Pflanzen und Tiere.
Betrachten wir die früh ans Licht tretenden, aber schon vollkommenen Formen der griechischen Dichtung wie das Chorlied und den Hymnos als Gewächse, Blumen des Munds gleichsam, wie der Dichter des letzten Hellenismus deutscher Zunge es nannte, verstehen wir die Faszination, die immer wieder von ihnen ausstrahlte.
Freilich, nur in der Kunst können wir geistig unbeschadet die Lampe des Sublimen dann und wann mit einem buntscheckig bemalten Schirm versehen und sie geisterhaft-vibrierende Schatten an die Wände unserer bürgerlichen Behausung werfen lassen; öffnen wir die Schleusen urtümlicher Wildheit im sozialen Umgang, verwahrlosen die Sitten und wir können uns bald selber nicht mehr trauen, geschweige denn unserem Nachbarn, der statt wie bisher höflich zu grüßen, aller Hemmungen entledigt vor uns ausspuckt.
Wie Nacht auf Tag, Mond der Sonne folgt den Domestikationen von Wildgetreide und Wildtieren, der Bändigung des Feuers, der Formung und Bemalung und dem Brand von Tongefäßen sowie der Verhüttung von Metallen und ihrer Verfertigung zu Waffen und kostbarem Geschmeide für die Elite der Krieger und Priester-Herrscher in den mittels Aufschreibsystemen verwalteten palast- oder burgzentrierten Siedlungen immer auch und immer wieder der Einbruch des Wilden und Undomestizierten im Rausch der Feste mit ihren Maskentänzen und dionysischen Chorgesängen.
Die Tragödie vereint die Rationalität des Diskurses einzelner Protagonisten mit dem wilden Jubel- und Klageruf, dem zwielichtigen Pathos der Masse.
Die deutsche Klassik hat die Schauer und das Faszinosum ursprünglichen Daseins zur Bewunderung der großen Leidenschaft und zur sentimentalischen Erquickung an instinktgedämpfter Anmut gemildert; über all dem liegt ein zauberhaft schimmernder Schleier der Schwermut. Rilke war der letzte Dichter deutscher Sprache, der diesen Schleier im hohen Stil seiner Sonette an Orpheus und der Duineser Elegien hat wegreißen wollen, um die Nähe des Unheimlichen und Fremden im Eigenen nicht nur zu zeigen, sondern ihre animierenden Pollen und Wohlgerüche in die dumpfe Stube des Untermieters bei der immer hüstelnden, abgemagerten Witwe Melancholia wie den Duft ferner Gärten ins aufgestoßene Fenster des Schlafs einströmen zu lassen. Doch auch sein später hymnischer Gesang mündet in die Klage.
Wolken gleich ein Lebewohl
Tags ballen sich, zerfließen Gischt und Wogen,
nachts säumt wie Rüschen weiches Wellenkräuseln.
Durchs Herzgeflecht kommt erst ein Sturm, dann Säuseln,
den Wolken gleich ein Lebewohl gezogen.
Ein Hauch, und Blüten schwimmen in den Schalen,
ein später Strahl, und Veilchen wollen weinen.
Das Tropfen weckten aus geborstenen Steinen,
ergrüntes Moos wird unterm Monde fahlen.
Füllt klingend sich das Glas mit goldner Feuchte,
in dunklen Kellern mußte lang sie reifen.
Daß er die Nacht der Schwermut uns erleuchte,
gingst, Dichter, du dem Wort ein Licht entzünden.
Es lächelt, wen der sanfte Strahl mag streifen,
muß in den stummen Abgrund er auch münden.
Sonett an müde Dichter
Schwebt auch die Flocke Wort noch hoch im Blauen
und schimmert auf im Säumen später Strahlen,
im Dämmerlicht des Zweifels wird sie fahlen,
wird an der Schwermut stummen Monds ergrauen.
Wir sind auf früh gebahntem Pfad gegangen,
vom Orient bis an die Bernsteinküste,
doch keiner ist, der noch von Sängen wüßte,
die in Oasen keusche Brunnen sangen.
Laß, müder Dichter, dich vom Schnee nicht blenden,
nicht von entrückter Erde Traumgewand,
das bald zerrinnt, wenn Lerchen jählings steigen.
Nach neuen Quellen schürf mit heißen Händen,
daß sich befeuchtet dürrer Ödnis Land
und graue Herzen sich dem Rauschen neigen.
Jenen, die durchs Leben hinken
Sie können Grinsen, Feixen nicht ertragen,
die Scheuen, die vorm grellen Worte weichen
ins Flüstern milder Schatten, ihresgleichen.
Sie stottern, sollen sie von Liebe sagen,
o wie sie vor der Rose Glut erbleichen.
Sie können das verkniffne Antlitz nicht ertragen.
Und die gesenkten Blicks durchs Leben hinken,
als lasteten auf ihren Schultern Scheite,
nur schwacher Sehnsucht Strahl ist ihr Geleite.
Doch wenn im Schnee die keuschen Sterne blinken,
erahnen Himmels ungeheure Weite
auch die gesenkten Blicks durchs Leben hinken.
Ein zarter Dorn war’s, der da riß die Wunde,
und unter keinem Kuß mocht sie vernarben.
Sie lauschen Quellen nach, die lang schon starben,
als kehrte noch die unversehrte Stunde.
Im Sommer war’s mit seinen goldnen Farben,
da ihnen riß ein zarter Dorn die Wunde.
Der Aussatz auf dem Asphalt
Die unter Dornen fielen, blindlings, Samen,
das fahle Licht wird sie nicht auferwecken.
Gleich Händen, übersät von Altersflecken,
kein Hauch, kein Kuß rührt auf ertaubte Namen.
Du sahst, wie Disteln aus Metopen drangen
und bittrer Lattich wuchs auf Tempelstufen.
Den Kuckuck hörtest du im Haine rufen,
wo Ödipus einst Nachtigallen sangen.
Preß, Dichter, nicht dein Ohr aufs gelbe Moos,
es ist ein Aussatz nur auf dem Asphalte.
Die Ader hat ein Eisenzahn zerbissen,
verklungen ist der Quell in Gaias Schoß.
Was tief im Schlaf dir Melusine lallte,
erstickt in deinem angstzerdrückten Kissen.
Die Inschrift auf dem Grabe
Wie Schnee auf Gipfeln glänzt und Abgrund funkelt,
bezeugt das Diadem, Wort von Propheten.
So blendete das Licht von Hochgebeten,
das uns obszönes Wortgespinst verdunkelt.
Als unter grüner Wipfel Schatten schliefen,
die einen weiten Pilgerweg gegangen,
war ihnen, als ob Edens Wasser sangen.
Wir treiben schlaflos über stummen Tiefen.
Nimm, Dichter, einen Strahl von dem Geschmeide,
laß küssen ihn die Inschrift auf dem Grabe,
damit sie unsre Dunkelheit erleuchte:
„Es füllten Engel ihm des Herzens Wabe,
die Süße gab er hin dem bittern Leide.“
Daß uns Erinnerung das Auge feuchte!
Das schlichte Leben sagen
Die Ros’ ist ohn warum.
Sie blühet, weil sie blühet.
Sie acht nicht ihrer selbst,
fragt nicht, ob man sie siehet.
Angelus Silesius
Das schlichte Leben lebt sich ohne Frage.
Es fragt die Rose nicht nach Sinn und Gründen,
warum so hold sich ihre Knospen ründen.
Es öffnet sich ihr Schoß dem Sonnentage,
sie streut den Wassern, die ins Dunkel münden,
die Blüten, opfert hin sich ohne Klage.
Vollkommen ist die Webkunst einer Spinne,
sie grübelt nicht, ob auch die Fäden halten.
Voll Anmut sind die zarten Klanggestalten,
als bebe eines Vogels Herz vor Minne.
Die Stirn des Tigers legt sich nicht in Falten,
kein Zweifel hindert, daß die Lefze rinne.
Du auch, o Dichter, laß vom Grübeln, Zagen,
mag dich der Schnee der leeren Seite blenden,
schon taut er unter deinen heißen Händen,
schon siehst du Gras und Zeichen zitternd ragen
und hörst, wie Tropfen leise Reime spenden.
Kein Grübeln, Dichter, lehrt das Wahre sagen.
Blindes Fluten
Wie stumm sie wandern, Wolken, weiße, graue,
so sanft, so wild sind ihre Traumgestalten.
Kaum daß sie sich zu Schneegebirgen ballten,
zerfasern sie, aus Schlieren quillt das Blaue.
Was unter ihnen wir im Schlafe lallten,
war wie ihr Schatten auf der Sonnenaue.
Wie stumm sie wandern, Wolken, weiße, graue.
Wie still sie sitzen, Tauben hoch auf Dächern,
und drunten Hupen, Bellen, Scheibenklirren.
Streust Körner du, mag eine abwärts schwirren.
Ihr Antlitz birgt die Muse hinter Fächern.
Sie ließe wohl ihr süßes Lächeln flirren,
säß still dein Geist gleich Tauben auf den Dächern.
Was unterm Mond uns trägt, ist blindes Fluten.
Die Seele wogt wie Schaum und Gischt der Meere,
es zerrt an ihr Gestirn und Erdenschwere.
Stich sanft, o Vers, laß träumend uns verbluten.
Der Tropfen Reim, er fällt anheim der Leere.
Was unterm Mond uns trägt, ist blindes Fluten.
Spät, zu spät
Jung tatst du mit, auf daß du nichts versäumtest,
und dein nicht achtend lagst du auf der Lauer.
Was du erjagt: Chimären ohne Dauer.
Es wurde still. Dir ward, als ob du träumtest,
die Silberlocke weht im Abendschauer,
hoch stand der Mond, wo du am Ufer säumtest.
Früh galt dir, Vers um Vers hinabzuschlingen,
als wäre Lesen rohe Kost verdauen,
Verstehen Ungeschmecktes achtlos kauen.
Und spät, zu spät, hörst du, wie Vögel singen,
die ihre Brut zu nähren Nester bauen
und hegen sie mit des Gesanges Schwingen.
Es ist zu spät, wenn sich die Schatten längen,
noch einmal auf den Sonnenfirst zu steigen.
Wenn Wasser seufzen unter Weidenzweigen
und Seufzer tropfen in den Laubengängen,
gebiete deinem heißen Weh zu schweigen.
O birg es in den Schatten, die sich längen.
Fromme Mythen
Träume dünken uns die Paradiese,
goldner Tropfen Dunst der Erdenhölle,
Lied, Gemurmel einer blauen Quelle
unterm dunklen Stöhnen im Verliese,
die erweckt aus ödestem Gerölle
eines Dichters Traum vom Paradiese.
Sollen wir sie fromme Lügen heißen,
Schleier, die vorm bleichen Antlitz wehen
den Verlornen, die am Abgrund stehen,
daß entrückt von ihrem milden Gleißen
sie gestirnt die Nacht des Todes sehen?
Fromme Mythen mögen sie uns heißen.
Sollen eitlen Wahns wir Dichter zeihen,
die den Atemschwund in Metren messen
und uns geben Schaum des Reims zu essen,
wenn wir nach der letzten Wegzehr schreien?
Nur wer unsre Ohnmacht hätt vergessen,
dürften eitlen Wahns wir rechtens zeihen.
Verkarstete Landschaft
Verkarstet ist die Landschaft, wo wir einst
durch süßer Düfte Wehen heimgegangen.
Dort war es, daß uns weiche Wasser sangen.
Nun hüll ich meine Augen und du weinst.
So wandeln wir den alten Kindheitspfad,
wo Halme unter grauen Winden zittern.
Die frühen Bilder blassen und verwittern,
die Veilchen wälzte hin ein eisern Rad.
Geschwollen ist die Haut des Lieds, zerstochen
von einer Wespe, die nur einmal sticht.
Gott leiht sie nicht, die Salbe, die sie heilte.
Erstarb das Melos, ward die Blum gebrochen,
gehn stumme Schatten wir im Dämmerlicht.
Kein Sänger ist, der uns entgegeneilte.
Die Heimkehr vom Gebirge
Goldenen Blühens
Dämmerlicht
ist erloschen schon.
Ich gehe auf dem steilen Weg,
abwärts,
vorbei an schroffem Urgestein,
am Wehen bärtig alter Farne,
betropft von Tropfen matten Lichts,
Moos, älter als das Menschenwort,
grüner als sein schwacher Sinn.
O zu gehen, einsam, und nicht wissend,
ob einer abgeirrt
oder ihm bestimmt ein Ziel.
Vorbei an jähen Schluchten,
wo geschmolzene Wasser
in kristallinen Schalen,
dem kalten Kuß des Mondes hingereckte,
sich verschäumen.
Und immer steigen, sinken
Stimmen,
deren Sinn mir fremd,
doch schmerzlich-süß,
wie eines Traums,
der seine Fenster hoher Landschaft weit geöffnet,
und fernhin knirschen
im weichen Schnee des Schlafs die Schritte
saumselig-froher Schatten.
Mir ist, ich sollte eine Gabe,
die Wahrheit meines Leids,
von diesem knöchernen Gebirge
hinab in Täler bringen,
dem Wandrer gleich den Enzian,
den er im harschen Firn gepflückt,
daß Trost noch Augen mögen schauen,
die vom Warten in der kargen Heimat
und bleicher Sehnsucht
beinah blind.
Reicht aber jener, was er fand,
und ist am Rand des Abgrunds aufgeblüht
das Schöne,
Blüte, ausgesetzt und kühn sich abgetrotzt
dem scharfen Strahl,
sind meine Hände schrundig, leer,
und grau das Herz
vom Grauen,
dem Schweigen jener grenzenlosen Räume.
Mir ist, als läg ich vor der Schwelle,
es neigt die Mutter,
neigt die Schwester
das Ohr an meinen Mund,
doch hab ich nichts als Lallen,
das von den Worten übrigblieb,
wie warme Milch,
die von den Lippen eines Kindes,
ungetrunkne Liebe,
erdwärts rinnt.
Daß sie mich gnädig bergen,
wenn noch Milde das Gedächtnis schönt,
den allzu Müden
gütig betten,
wo eine Kerze flackert vor dem Bild,
das schlichten Sinnes einst der Ahn gemalt:
Kreuz auf fernem Gipfel,
wo sanft der Schnee
erglüht
im Untergang der Sonne.
Schöne fromme Mythe
Wie auf Stegen, drunten raunt die Leere:
„Dämmer bin ich, jäh vom Blitz gespalten,
Knospen, die sich träumerisch entfalten,
und sie sinken, bleich wie Schaum der Meere.“
Könnten Hand in Hand wir uns nur halten,
auf den Stegen, unter uns die Leere.
Einsam gehen wir, bevor wir fallen,
wie die Blüten, barsch vom Sturm gepflückte.
Und von dem, was unser Aug entzückte,
können wir nur wie die Narren lallen,
Worte, Hauch der Seele, wahnentrückte.
Einsam gehen wir, bevor wir fallen.
Kindlich wähnten wir, daß uns behüte
jener Engel, der die Flügel breitet,
auf dem Steg, dem schwanken, uns geleitet.
Keiner hebt empor uns voller Güte,
wenn der Fuß in dunkle Leere gleitet.
Kindlich war sie, schön die fromme Mythe.
Magnolien drängen schon
Σκιᾶς ὄναρ
ἄνθρωπος
Eines Schattens Traum
der Mensch
Pindar
Magnolien drängen schon an hellen Säumen,
sind noch vom Rauhreif überstäubt die Bänke.
Mir glänzt das Aug, wenn deiner ich gedenke,
seh ich die Knospen von der Bläue träumen.
Daß ich die volle Blüte dir noch schenke,
kommst du den Pfad, den die Magnolien säumen.
Ein Schluchzen steigt aus Büschen, die es hüllen,
das kleine Nest von flaumig-weichem Leben.
Ein leises Zwitschern will uns Kunde geben,
daß scheue Herzen süßer pochend füllen
der Wehmut Waben, die ins Helle schweben,
steigt Schluchzen aus den Büschen, die es hüllen.
Magnolien drängen schon, wenn wir noch träumen,
den Schatten gleich, die Pindaros beschworen.
Ist aber Glanz den Hohen auserkoren,
ein Schimmer will, ein Lächeln nicht mehr säumen,
küßt Charis die in Lust und Gram verloren.
Magnolien drängen schon, wenn wir noch träumen.
Daß wir uns bergen
Ruht still der See, kann sich das Sternlicht spiegeln,
der Hauch des Monds läßt zittern es, verschwimmen.
Um Lichter, die wie zarte Blüten glimmen,
hörst du der Motten feiste Schatten flügeln.
O dämpfen wir, verhalten wir die Stimmen,
wenn sich auf stillem See die Sterne spiegeln.
Wo weiße Wolken übers Wasser gleiten,
weckt Wind in Nestern, die im Schilfe schwanken,
ein Zwitschern, Rufe, die empor sich ranken.
Und die wir stumm ins Ungewisse schreiten,
schließt auf das bange Herz ein leises Danken,
wenn weiße Wolken übers Wasser gleiten.
Daß wir uns bergen unter grünen Lauben,
vom heißen Strahl nur Tropfen Lichtes bleiben,
die langsam rinnen, Milch auf Honigscheiben.
Es mildern dunkles Weh die Turteltauben,
wenn dunkler gurrend sie die Schnäbel reiben,
wo sie sich bargen unter grünen Lauben.
Fäden des Abendlichts
Das Wahre, Ganze können wir nicht sagen,
wir haben nur die Splitter, nur die Funken,
die bald in schwarzer Meerflut sind versunken.
Und wandeln wir beherzt an hellen Tagen,
ist jeder von der hohen Nacht schon trunken,
von der kein Wort, kein Traum, kein Stern kann sagen.
Mag auch der Hymne Sang zum Azur steigen,
und höher flügeln wie mit Adlerschwingen,
der blaue Abgrund wird ihn jäh verschlingen.
Im Laub der Dämmerung wiegt sich das Schweigen.
Zart sind die Schatten, die uns niederringen,
mag auch der hohe Sang zum Azur steigen.
Das schlichte Brot des Worts soll uns genügen,
der klare Wein aus heimatlichen Reben,
Lied, das aus Fäden Abendlichts wir weben.
Daß uns nicht reiße Angst aus Sinngefügen,
ergreift sie auch des Ungrunds dunkles Beben.
Das süße Licht des Lieds soll uns genügen.
Blatt, Schrift, Hauch
Blatt, gelöst wie der Träumer im Traum,
surrt es ins Dunkel, taumelt es blind.
Ariel gleitet im nächtigen Raum,
sichtbar macht er, singbar den Wind.
Schrift, geritzt in den Schlaf, in den Stein,
Name, von Efeu umrankt, von Tropfen geküßt.
Glanz einer goldenen Schale voll Wein
schäumt unsrer Schwermut, was sie vermißt.
Hauch, den Schleier lüftend vom Angesicht,
was die Herznacht verschwieg, zeigt uns der knospende Keim.
Eos, sanft erglühendes Rosengedicht,
sag es, lieblicher Mund, geründet zum Reim.
Abgeklärtes Denken
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Freie Radikale müssen durch konservierende Moleküle gebunden werden, sonst stiften sie nichts als Schaden.
Der abgeklärte Denker kann mit jedem beliebigen Ding beginnen und muß mit keinem enden.
Abgeklärt denken heißt die moralischen Scheuklappen ablegen, ohne auf das basale Ethos zu verzichten, das in einfachen Handlungen wie dem Grüßen oder dem Einhalten einer Verabredung zutage liegt.
Das an die Fütterung gewohnte Tier wartet nicht auf mich, wie ich es tue, wenn ich auf denjenigen warte, mit dem ich verabredet bin.
Das Tier ist durch die Erwartung gleichsam benommen, während ich, auf den Besuch eines Freundes wartend, in Ruhe ein Buch lesen, ja herumtrödeln kann, ohne auch nur an ihn zu denken.
Mit einem gummiweichen Faden läßt sich keine präzise Längenmessung durchführen; mit dehnbaren Begriffen nur Vages sagen.
Wer mit der Sprache schludert, wohnt in einem begrifflichen Kartenhaus, das der nächstbeste geschichtliche Sturm davonfegt.
Hans Guck-in-die-Luft, der spekulative Philosoph, wird über einen Alltagsgegenstand wie einen vergessenen Putzeimer stolpern.
Der abgeklärte Denker stolpert, doch nicht in den Abgrund: Er macht einen Fund. So entdeckt Wittgenstein am Brocken des unnachgiebigen definitorischen Allgemeinbegriffs den Spielraum der Familienähnlichkeit im stets impliziten Netz zusammenhängender Begriffe.
Der Clown stolpert über seine zu langen Schuhe, und alle lachen. Der Zelebrant stolpert über den Altarstein, und alle sind peinlich berührt.
Der Bruch in der kontinuierlichen Linie habitualisierten Verhaltens wirkt einmal komisch, ein andermal peinlich.
Sich verhaspeln, sich versprechen: Manchmal kommt eine verschwiegene Wahrheit ans Licht.
Das widerspenstige Werkzeug bringt den Werkwelt- und Bewandtniszusammenhang des Heideggerschen Daseins zur Erscheinung.
Die ausgefallene Lampe weist auf den unterbrochenen Stromkreislauf; der untaugliche Begriff („Repräsentation von Sachverhalten“) auf den unterbrochenen Strom der lebendigen Sprache („die Mannigfaltigkeit der Sprachverwendungen“).
Das schiefe sprachliche Bild gleicht dem Blick in einen Zerrspiegel.
Übereinandergelegte Muster lassen nur das begrifflich Triviale hervortreten.
Auch der Kriminelle ist mehr als das kriminalpsychologische Profil, aufgrund dessen man ihn identifiziert hat. So war Caravaggio nicht nur ein Mörder, sondern auch ein bedeutender Maler.
Betrachten ist nicht beobachten, plaudern nicht Mitteilungen machen, dichten nicht verklausuliert sagen, was sich umstandslos sagen ließe.
Hölderlin vermochte nicht der deutsche Pindar zu werden, weil die Feste, auf denen seine Chorlyrik hätte erklingen können, im Land der Dichter und Denker keinen Stifter, keine Stätte, keine Gemeinde fanden.
Auf knapp bemessenem Raum einen Gehalt verdichten, der bisweilen ins Unermeßliche reicht: Prinzip und Verfahrensweise der antiken Lyrik (Pindar, Horaz).
Der geistvolle Einfall entspringt im Gedränge.
Mögen sie nur Stroh dreschen – ein Funkenflug genügt.
Man kann nicht fragen, wie es wäre, nicht zu existieren.
Das Leben kann sich selbst nicht in Frage stellen.
Sein ganzes Leben damit vertun, die eine Rätselnuß zu knacken – und post mortem wird offenbar, sie ist hohl.
Die Wissenschaft gibt uns keine Antwort auf die Frage nach dem Wozu. – Der Sinn haust nicht als marginaler Gast oder zufälliger Mieter im sinnlosen Gehäuse der Natur.
Überspannte Wissenschaftler verfangen sich in Pseudo-Erklärungen (wie „Denken ist ein Hirnvorgang“ – „Liebe ist die Ausschüttung bestimmter Hormone“).
Daß es vergeht, ist kein Einwand gegen das, was da ist.
Überspannte Philosophen zwängen das Denken unter das Joch eines Systems („Alles ist Geist: Idealismus“ – „Alles kann auf physikalische Gesetze zurückgeführt werden: Naturalismus“) oder eines Projekts („das Projekt der Aufklärung“ – „das Projekt der Moderne“).
Er tat wie ein Seiltänzer, der auf einem dünnen Seil über einen schwindelerregenden Abgrund balanciert; doch schleppte er sich in Wirklichkeit mit plumpen Schritten über den Asphalt der Plattheiten und Trivialitäten dahin.
Die Bilder nicht von Menschen bewohnter Landstriche und Gegenden, der Wüsten und Steppen, der Weiten und Tiefen der Ozeane trösten uns noch über das parasitäre Gewimmel unserer Gattung auf dem schwärenden Leib der alten Gaia.
Begriffsschranzen und Theoriesnobs, die auf rhetorischen Stelzen über die Köpfe der Minderbemittelten hinweg Dunkles künden, um mittels änigmatischen Geschwätzes Eindruck zu schinden.
Die wurmstichigen Früchte am Baum der politischen Moral wie Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit, Inklusion und Vielfalt nimmt der auf bekömmliche geistige Diät eingeschworene abgeklärte Denker nicht in den Mund – es sei denn, um sie coram publico angeekelt auszuspeien.
Torheit oder unverzeihliche Naivität verlangt bedingungslose Freiheit der Meinungsäußerung; doch sie der hemmungslosen Meute zu gewähren, heißt, in Kauf zu nehmen, daß man sie da und dort und immer wieder, in den Worten aller Sprachen, doch verwandten Sinnes, brüllen hört: „Gib den Barabbas frei, den da schlag ans Kreuz!“
Der aufgrund zur Massenhysterie gesteigerter sexueller Freizügigkeit traumatisierte Priester fühlt mit den vor den Kopf gestoßenen orthodoxen Rabbinern und hält sich einiges zugute, wenn er die Vorteile der Separation gegenüber der Koedukation von Knaben und Mädchen herausstreicht. – Das Motiv für die Äußerung seines Arguments, daß die beiden Geschlechter ab einer bestimmten Altersstufe zu ihrem eigenen Vorteil getrennt erzogen werden sollten, mag zwielichtig sein; doch ist es deshalb unwahr?
Der frühe Existentialist marschierte nach vorn gebeugt wie gegen einen Sturm anrennend, der altgewordene wandelt auf den überwachsenen Pfaden der Gelassenheit in windstillem Kreis.
Der abgeklärte Denker billigt sich einen Spielraum bei der Wahl der überlieferten geistigen Speisen zu, insofern sie seinem empfindlichen Magen zuträglich sind und seinen verfeinerten Geschmack nicht beleidigen. – Dies gilt – horribile dictu – auch für die Bewirtung durch politische Köche; denn er ist souverän genug, die erlesene Kost monarchisch-höfischer und aristokratisch-elitistischer Provenienz dem Mischmasch plebejisch-demokratischer Vulgarität vorzuziehen.
Der Spätling ist kein Gargantua geistiger Völlerei.
Der Abgeklärte hat einen Degout vor allem, was zu dick aufgetragen, mit geblähten Backen ins grelle Scheinwerferlicht hinausposaunt oder ohne gnädige metaphorische Verhüllung an poetischen Erektionen feilgeboten wird.
Die Sensationsgier, also die Journaille, führt zur Verrohung des Fühlens und Sagens.
Wenn kein Blut von der Leinwand rinnt, die sie für Kunst, kein Leichengeruch aus den Furchen dessen dringt, was sie für Dichtung halten, wendet sich der barbarische Zeitgeist gähnend und gelangweilt ab.
Zu großen Werken inspiriert der Glaube an die eigene Größe, so der Glaube göttlicher Erwählung den biblischen Juden, der Glaube an die kulturelle Vormachtstellung den Erbauer der Akropolis, der Glaube an die weltpolitische Führungsrolle Roms den Schöpfer der Äneis.
Wer sich seines Daseins oder zumindest seiner nationalen Identität schämt wie der moralisch gedrückte Deutsche, verachtet auch die großen Werke seiner Vergangenheit.
Stufen des Sinns, Grade der Verständlichkeit. Wir können unterschiedliche Schichten oder Stufen des Sinns eines physiognomischen, gestischen und sprachlichen Ausdrucks anhand der unterschiedlichen Grade seiner Verständlichkeit identifizieren. Die bejahende Antwort der alten, gebrechlichen Dame auf die Frage, ob wir sie über die verkehrsreiche Straße geleiten sollen, und der Nachvollzug der pythagoreischen Gleichungen am rechtwinkligen Dreieck sind von höherer Transparenz und Verständlichkeit als die Zweideutigkeit eines Delphischen Orakels und einer nur scheinbar trivialen oder absurd anmutenden Formulierung des späten Wittgenstein (wie derjenigen vom unverständlich sprechenden Löwen oder dem auf dem Kopf stehenden Haus der Sprache); dagegen nimmt der Grad der Unverständlichkeit und Rätselhaftigkeit in dem Maße zu, wie wir in die änigmatischen Gedichte eines Paul Valéry oder die scheinbar oder wirklich widersinnigen Verlautbarungen der Geisteskranken vordringen. Wer uns mit dem Anspruch kommt, er sei ein Bote Gottes, ist uns immerhin noch verständlicher als der Schamane oder Verrückte, der mit den Armen flattert und ein Vogel der Geisterwelt zu sein vorgibt. – Wir sollten solche Fälle exemplarisch studieren, um den echt änigmatischen vom pseudoänigmatischen dichterischen Ausdruck unterscheiden zu lernen, denn letzterer ist ein nicht selten mißbräuchlich verwendetes Mittel, auf unsere Kosten Aufmerksamkeit zu provozieren, die sich im günstigen Fall endlich in ein leichtes Kopfweh auflöst.
Genialität anzuerkennen verlangt Demut vor der Kontingenz ihrer Entstehungsbedingungen.
Fruchtbarkeit des kulturellen Bodens, ein gedeihliches seelisches Klima und die sensorische Eigenart der indogermanischen Völker bildeten schicksalshafte Lebenslinien in der Physiognomie der griechischen Genialität.
Göttliche Samen, die unter die Disteln des Unglaubens und die Schatten des Zweifels fallen, können nicht sprießen.
Wesentliche dichterische Metaphern sind wie Blitze in der Nacht.
Woran er auch streift, ob Stein oder Halm, Tau oder Blatt, stumme Kreatur oder Engelsflügel, der wache dichterische Geist findet stets die Öffnung zur Fülle des Seins.
Man kann die herrliche Windung der Muschel und den in ihrem Innern schimmernden Perlmutt ebensowenig aus natürlichen Entwicklungsgesetzen ableiten wie die sublime Gestalt der Pindarischen Ode und ihren an jähen Stellen aufgehenden inneren Glanz aus literarhistorischen.
Geheimnisvolle Klänge, überwirklich, übersinnlich, als wäre der Geist des Dichters eine himmlischen Lüften ausgesetzte Äolsharfe.
Keime und Samen
Wohl sind Keime heimlich eingesunken,
doch das Herz der Erde war schon grau.
Wehen Frühlingslüfte wieder lau,
wanken an den Ufern Schilfe trunken,
sind verkümmert, unerweckt vom Tau,
Keime, in die Herznacht dir gesunken.
Hast es nachgesungen, noch ein Knabe,
Lied, das von Ioniens Inseln flog,
flügelnd Schatten übers Schulheft zog.
Blieb ein Goldglanz in der Sonnenwabe,
wo dein müdes Herz sich Süße sog,
war’s, was du gesungen, noch ein Knabe.
Blumensamen, der im Schnee gefroren,
Schlaf umfing ihn, traumlos-weiße Nacht.
Seufzen stieg zu Mondes kalter Pracht
über Blüten, an die Nacht verloren.
Daß im Strahl des Liedes uns erwacht
Blumensamen, der im Schnee gefroren.
Nächtiges Wasser
Ist süß es, ist es bitter,
das nächtige Wasser,
wenn es säumend zwischen Uferschilfen fließt?
Was unbegrenzt in sich zerrinnt,
Schaumlider über Nächtigem verschließt,
es ist bitter-süß.
Scheint einsam nicht die hohe Nacht,
wenn stumme Nester in den Schilfen schwanken,
schluchzend Wasser um die Wurzeln quillt?
Funken streut der helle Schlaf,
lichte Rätsel in die dunkle Stille,
aufglimmend und verlöschend, unser Ebenbild.
Wird es nicht still, unheimlich still,
wenn vor dem Morgenrot die Sterne blassen
und Mondes Knospe in den Abgrund sinkt?
Nest um Nest erwacht im Strahl,
kein Dichter kann in Worte fassen,
wie zarte Bläue Gold aus Vogelrufen trinkt.
Vom Schrecken der Freiheit
Du willst der Meute nicht das Maul verbieten?
„Den Barabbas gib frei“, hörst du sie brüllen,
„den schlag ans Kreuz!“ Laß ihren Drang sie stillen,
den Geist ersticken sie, Wahnparasiten.
Frag nicht, weshalb die Anmut sie wohl hassen.
Ihr Klumpfuß hindert sie, gleich ihr zu schreiten,
der graue Star, den Blick ins Blau zu weiten,
ihr Geifer, Reines unversehrt zu lassen.
Birg, Dichter, dich im Turm aus Elfenbein –
umsonst! Rauch steigt empor, Krakeelen,
wenn geil sie von des Henkers trübem Wein
zur keuschen Nonne unterm Fallbeil stieren.
Durch Albtraumritzen fühlst du Dünste schwelen,
die deinen Vers mit Widersinn beschmieren.
Die letzte Symphonie
Anton Bruckner, 9. Symphonie
Trost gewährt die letzte Symphonie,
die der Meister uns noch hat gewunden
aus den Ranken stiller Dämmerstunden.
Wie geheimnisvoll löst ihre Harmonie
Fesseln, die den kranken Geist gebunden.
Trost gibt uns die letzte Symphonie.
Wie aus dumpfem Schlaf sind wir erwacht
im Gefild, das Taubheit nicht zertreten,
und wir staunen, Halm und Seele beten,
zitternd unter lichter Wogen Pracht.
Übersprüht von jähen Klangkometen
sind aus dumpfem Schlafe wir erwacht.
Reißt auch Brausen uns vom Stamme los,
reife Frucht muß in das Dunkel fallen,
eitel, sich an Schatten festzukrallen.
Was da weht, ist weihevoll, ist groß.
Im Unendlichen nur mag verhallen
Brausen, das uns reißt vom Stamme los.
Unter dem Dirigat von Günter Wand:
https://www.youtube.com/watch?v=PkiIR1XLgnk
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