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Nov 14 24

Überwachsene Pfade

Ein Menhir ragt, vom Gletschereis geschoben,
die kahle Schwermut aus der Endmoräne.
Am Lid der Nacht erzittert eine Träne,
aus dumpfem Schlaf hat sich der Mond erhoben.

Die Pfade, wo du gingst in Jugendtagen
durch Rebengärten bis zur Waldkapelle,
sind überwachsen nun wie eine Schwelle
von zähem Moos und scheuer Primeln Zagen.

Du kannst nicht durch die Rosenranken dringen
in Träumen, die ein schwarzer Mohn genährt,
der Gnade Lächeln nicht mit Augen sehen,

die Flimmern trüber Gaukelkunst versehrt.
Hörst fern du noch, wie frühe Hymnen singen,
die Sonnenpfade hoch zum Weihbild gehen?

 

Nov 14 24

William Blake, A Little Boy Lost

Nought loves another as itself,
Nor venerates another so,
Nor is it possible to thought
A greater than itself to know.

‘And, father, how can I love you
Or any of my brothers more?
I love you like the little bird
That picks up crumbs around the door.’

The Priest sat by and heard the child;
In trembling zeal he seized his hair,
He led him by his little coat,
And all admired the priestly care.

And standing on the altar high,
‘Lo, what a fiend is here! said he:
‘One who sets reason up for judge
Of our most holy mystery.’

The weeping child could not be heard,
The weeping parents wept in vain:
They stripped him to his little shirt,
And bound him in an iron chain,

And burned him in a holy place
Where many had been burned before;
The weeping parents wept in vain.
Are such things done on Albion’s shore?

 

Ein kleiner Junge rettungslos

Nichts liebt ein anderes mehr als sich selbst,
noch kann es andres höher schätzen,
noch kann des eignen Lebens Sinn,
was mehr als er selbst, ersetzen.

„Wie, Vater, dich zu lieben mehr,
den Bruder auch wär ich begabt?
Ich lieb dich wie der kleine Spatz,
der sich vorm Tor an Krümeln labt.“

Ein Priester sitzt da, hört das Kind,
greift in sein Haar, schäumt ohne Maß,
er zerrt’s an seinem dünnen Hemd,
man applaudiert der Caritas.

Und stehend auf dem Hochaltare
rief aus er: „Seht den bösen Geist,
der aufbläht den Verstand zu richten,
was uns das heilige Dunkel heißt.“

Die Stimme des Kinds, in Tränen erstickt,
die Tränen der Eltern konnten’s nicht retten.
Bis auf das Unterhemd entblößt
hat man’s geschlagen in Eisenketten.

Es ward verbrannt an heiliger Stätte,
wo viele zuvor verbrannten schon.
Die Tränen der Eltern konnten’s nicht retten.
Und so etwas tat man in Albion?

 

Nov 13 24

Die verriegelte Pforte

Es scheint dir oft wie dumpf geträumt, das Leben,
der Sinn vertropft, als wäre es durchlöchert.
Dein Schatten geht, du aber stehst verknöchert,
kein Flügel rauscht, empor dich noch zu heben.

Du kannst nicht tauchen in das Aug, das feuchte,
das sich auf glatter, kalter Scheibe spiegelt.
Der schöne Garten ward dir abgeriegelt,
ungreifbar ist die Frucht, so nah sie leuchte.

Schlägt nicht ein Herz, zur Quelle dich zu führen,
der dichterischen, um den Staub zu waschen
von einer Seele, die sich selber fremd?

Weht nicht ein Hauch, zu wirbeln auf die Aschen,
aus Zweigen, wo zu Tränen Sänger rühren?
Du bist die Pforte, deren Riegel klemmt.

 

Nov 13 24

William Blake, Jerusalem

And did those feet in ancient time
Walk upon England’s mountains green?
And was the holy Lamb of God
On England’s pleasant pastures seen?

And did the Countenance Divine
Shine forth upon our clouded hills?
And was Jerusalem builded here
Among these dark Satanic mills?

Bring me my bow of burning gold:
Bring me my arrows of desire:
Bring me my spear: O clouds unfold!
Bring me my chariot of fire.

I will not cease from mental fight,
Nor shall my sword sleep in my hand
Till we have built Jerusalem
In England’s green and pleasant land.

 

Jerusalem

Und konnten diese Füße denn einst
schon über Englands Matten gehen?
Und ward wohl Gottes heiliges Lamm
auf Englands lieblichen Triften gesehen?

Und hat vom göttlichen Antlitz der Strahl
den Nebel auf unseren Bergen durchdrungen?
Und wurde erbaut Jerusalem hier,
wo Satans Mühlen schwarze Flügel geschwungen?

Bring mir den Bogen aus flammendem Gold:
Bring mir die Pfeile, das Gut zu erjagen:
Bring mir den Speer: O flügle Gewölk!
Bringe mir meinen Feuerwagen.

Ich will nicht lassen vom Geisterkampf,
noch soll mir das Schwert in der Hand ermüden,
bevor Jerusalem wir erbaut
in Englands grünendem Auenfrieden.

 

Nov 12 24

Betört und erschrocken

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

In einem riesigen Räderwerk ein dünnes, winziges Rädchen sein, das zwar mitschwingt (aber es scheint nur ins Rotieren gefächelt und vom Wind angetrieben zu werden, den die anderen echten Räder erzeugen, echt, weil sie den Sinn des Ganzen verkörpern, indem sie ihre Kraft den andern übertragen), doch in Wahrheit leerläuft.

Gehirnzellen, die nur so tun, als würden sie zur Empfindung beitragen, in Wahrheit aber schlafen.

Herumstehen, ins Schaufenster glotzen, ohne etwas zu sehen, bummeln; so tun, als sei man verabredet, als werde man erwartet, als hätte man noch eine Chance, doch keiner wird kommen, auch wenn man nervös auf die Uhr schaut oder verlegen um sich blickt.

Leere Zeit, tote Zeit, leere Augenblicke, tote Augenblicke.

Betört und erschrocken auf die Geschäftigen blicken, die Hastigen, Zielbewußten, als würden sie in höherem Auftrag unterwegs sein, einem Auftrag, den man nicht kennt, aus ihren Mienen und Hantierungen vergebens zu entziffern versucht, eines Auftraggebers, vor dem einen Schwindel ergriffe.

Betört und erschrocken auf die von irgendeiner Leidenschaft Ergriffenen blicken, von einer Gier, einem Drang, einer Wollust, einer Mordlust.

Betört und erschrocken auf jene blicken, die sich gerufen wähnen, sich berufen wissen, von Gott, vom Schicksal, von der Vorsehung. „Hier stehe ich …“

Fasziniert von der scheinbaren Gelöstheit oder Ausgelassenheit der Anmutigen, Hübschen, Bewunderten.

Das Kind, mit dem Hündchen auf dem Arm, und es lächelt, die Augen geschlossen.

Den Orgasmus des erfüllten Augenblicks – wenigstens vortäuschen können.

„Ich führe dich in ein Land, wo Milch und Honig fließt.“ – Eine solche Verheißung sich zutrauen können.

Sie gehen, gleichsam schwebend oder tänzelnd, an dir vorüber, du aber verhältst den Schritt, um zu verbergen, daß du hinkst.

Betört und erschrocken jene reden hören, die sagen, was alle sagen. Du aber hüllst dich in Schweigen, denn das Wort, das du nicht hüstelnd, nicht  würgend herausbringst, ist wie ein Haar auf der Zunge.

Betört und erschrocken auf jene blicken, die so tun, als müßten sie nicht sterben.

Die ästhetische, metaphysische, religiöse Illusion der Ganzheit und Fülle, des Pleroma, wie sie Platon im Symposion den Gaukler Aristophanes nicht zufällig an der urzeitlichen Kugelgestalt des doppelgeschlechtlichen Menschen phantasieren läßt, ist die imaginäre Kompensation der unaufhebbaren Gespaltenheit der sexuellen Polarität, des unaufhebbaren Schicksals, Mann oder Frau sein zu müssen.

Die Engel sind Bruchstücke des Pleroma.

Im Halbschlaf oder kaum erwacht im Dämmerschein kleine Funken sich versprühen sehen, als wären sie Bilder der neuronalen Impulse, die nutzlos im leeren, diesigen Himmel der Langeweile aufschießen und verlöschen.

Form und Hohlform passen ineinander; nicht so Mann und Frau, trotz der Illusion der sexuellen Vereinigung.

Im Tierreich verbleiben die Weibchen der höheren Arten zumeist mit den Jungen in engerer Gemeinschaft. Die Vaterschaft gegenüber den Nachkommen zu übernehmen und tätig auszuüben war das Privileg der patriarchalischen Familie, die zumindest in den westlichen Metropolen zu verschwinden scheint.

Schubert hören und so tun, als sei man schon gestorben, ein sich nurmehr vage gegenwärtiger Schatten im Totenreich.

Der weibliche Schoß ist wie das Fragezeichen hinter einer rein rhetorischen Frage; der Phallus ein nur ephemer sich behauptendes Ausrufezeichen.

Die mehr vitale als intellektuelle Dummheit des Mannes, die sich darin bekundet, die rhetorischen Fragen, die das Leben aufwirft, in mit großem Ernst ausgebrüteten philosophischen Systemen beantworten zu wollen; Fragen, die eher Ausrufen gleichen wie: „Bin ich nicht schön?“ oder „Ist es nicht zum Verzagen?“

Ja, der Kampf ist die Domäne des Mannes; doch sein einziger Sieg die tapfer hingenommene Niederlage der Selbstüberwindung.

Das vollkommene Gedicht ist der Muschel gleich: von undurchdringlicher Konsistenz, harmonisch verschlungener Form, wunderlich schimmerndem Glanz der Oberfläche – ein Kind findet sie am verwaisten Strand und hebt sie an sein Ohr, den Widerklang meergrüner Abgründe zu vernehmen; und hat es sich satt gehört, wirft es sie in hohem Schwung in die Brandung.

Betört und erschrocken die großen Worte vernehmen, die sie dem einzig verbliebenen Gott, dem Götzen des Fortschritts, weihen.

An den Fortschritt glauben ist die Kehrseite des Unglaubens an die Wahrheit des gegenwärtigen Lebens.

Die stroherne Puppe des Fortschritts und der aufgeklärten Ratio hat keine nährenden Brüste.

Ein Tropfen Blut aus dem Kelch des Josef von Arimathäa gegen all die Tintenkleckse der Federfuchser, Philosophen und Dichterlinge.

Die grelle Lampe des Gedankens blendet das nur im Dämmerlicht aufkeimende Leben.

Die Atmosphäre ist ursprünglicher als die Tropfen, die sich daraus absondern und kondensieren, um kurze Zeit im Licht zu funkeln.

Unter dem Glaspalast der universalen Weltvernunft und des alles umgreifenden Weltstaats befinden sich die Verliese und Folterkammern ihrer Schergen, die sich an der Oberfläche als Friedensstifter tarnen.

Die mit künstlicher Intelligenz ausgestatteten Roboter sind eine Farce auf den lebendigen Organismus, die Bewunderung nur bei jenen Scheintoten finden, die ihnen gleichen wollen, im Wahn, dem Gewürm des Grabes zu entkommen.

Die Propheten sind die Exegeten des Schöpferworts. – Doch bisweilen scheinen sie selbst im Labyrinth der Sprache herumzuirren.

Ist die Sprache ein Haus, dann poltern unter seinem Dach Gespenster, dann sind im Keller Leichen verscharrt. Die Concierge thront hinter der Pforte, eine alte Eule, deren wachen Augen nichts Verdächtiges entgeht, die Hausbewohner leben, wenn es gut geht, aneinander vorbei, wenn schlecht, bilden sie idiomatische Inseln, wo sie sich hinter sprachlichen und rituellen  Hürden verschanzen.

Die Sprache ist eher, will es dem Dichter scheinen, einem Dickicht ähnlich, in das er mühsam Schneisen schlagen muß, um voranzukommen. Klettert er auf einen Baum, um sich einen Überblick zu verschaffen, sagt ihm der Philosoph, sieht er nichts als Bäume, Bäume und wieder Dickicht. „Sind wir uns hier nicht schon einmal begegnet?“ fragen sie sich.

Wir können nicht wissen, ob wir in demselben Zimmer aufwachen werden, in dem wir eingeschlafen sind. Es könnte ein anderes sein, in einer anderen Stadt, einem anderen Jahrhundert; wir aber auf wundersame Weise über Nacht mit den erforderlichen Kenntnissen ausgestattet, während die nicht mehr dienlichen ausgelöscht wurden, lebten weiter vor uns hin, auch wenn wir eine andere Sprache sprächen, mit einer uns bisher unbekannten Frau verheiratet wären und von einem fremden Kind Vater gerufen würden. Wären wir dieselben Personen?

Betört vom Gleichmut, der Ergebenheit, der Gelassenheit des Nachbarn, erschrocken vor dem Abgrund des eigenen Inneren, zögernd beim Übertreten der Schwelle des eigenen Hauses.

Betört von der Zuversicht jener, die keine Bedenken tragen, zu sagen, was immer sie sagen, erschrocken wie der Hund vorm eigenen Schatten, den Schatten des Ungesagten zu gewahren, den jedes hervorgebrachte, ans Licht gezerrte Wort zu werfen scheint.

Als wäre das Wort des Schöpfers im Labyrinth der Schöpfung verhallt.

Der schöpferische Poeta divinus löst den großen Heerführern und Propheten die Zunge, um sein Volk aus der Gefangenschaft zu führen, es vor dem Schwert der Feinde zu erretten. Aber das im Sohn inkarnierte Wort verwandelt der Ritus in Speise und Trank, die stumm verzehrt zu werden pflegen.

Betört von der Anmut, die, ihrer sinnlichen Reize kaum bewußt, die glänzende Oberfläche der Dinge leichthin streift wie die Schleppe des Brautkleids die filigranen Ornamente auf den Fliesen des Mittelgangs der Kirche; erschrocken vor der Taubheit seiner rauhen Hände, wenn man in banger Selbstbeobachtung erstarrt den Samt der Wange nicht fühlt, die sich einem zugeneigt hat.

Betört von den Stimmen, die sich, zu Chören verschmolzen, wie die zu einem seligen Tanz vereinten Blüten auf der Welle ins Offene tragen lassen; erschrocken vor dem sich selbst zum Rätsel gewordenen Pochen des Herzens, das einsam wie das Hämmern des Gefangenen von der Mauer des Verlieses widerhallt.

 

Nov 11 24

Ich sage nein

Ich sage nein zum Rausch der Kollektive,
die geifernd von gepantschtem Fusel schwanken
aus Phrasenfäulnis, Bittersäften, kranken,
von Früchten zwischen wurmzerfressenen Ranken.
Mild nährte der Athene Gabe, die Olive.
Ich sage nein zum Rausch der Kollektive.

Ich sage nein zum Wahn der feilen Mengen,
ob sie das Banner mit dem Irrstern pflanzen,
ekstatisch um die Freiheitsgöttin tanzen,
auf Blutgerüsten wimmeln, schwarze Wanzen.
Licht hat getropft in Hellas Laubengängen.
Ich sage nein zum Wahn der feilen Mengen.

Ich sage nein zu hohler Trommeln Dröhnen,
ob sie von einer neuen Erde künden,
vom Weltenbrand, den Greise blind entzünden,
von Giften, die im Erdennabel münden.
Wie leise sang Ovid, Rom zu versöhnen.
Ich sage nein zu hohler Trommeln Dröhnen.

Ich sage nein zur ausgelaugten Sprache,
anämisch unter Zeitungsparasiten,
verwarzt von nonbinären Proselyten,
des Eros bar bei Geistern ohne Mythen.
Wie glitzert Venus noch in fahler Lache.
Ich sage nein zur ausgelaugten Sprache.

Ich sage ja zum Worte, heilig-nüchtern,
das einsam quillt aus dunkler Schwermut Wunde,
zum Rätselvers aus des Propheten Munde,
dem stillen Traumlicht in der Weihestunde.
Vergil tönt königlich, Herz sanft und schüchtern.
Ich sage ja zum Worte, heilig-nüchtern.

 

Nov 10 24

Verschmähte Liebe träumt

Ich schwamm durch weiße Knospen, die noch schlafend
den bittern Tau der Nacht auf Lidern trugen,
die schon um süße Tropfen Lichtes bebten.
Das Heimatufer war ein fremder Dunst,
was mir dort eingeredet, fahles Lallen.
Wohl sah ich auf den Blasen zarten Schaums
Gesichter, die mir einmal mild gelächelt,
die Augen wie Topase, die zersplittern,
und eine dunkle Pforte jeder Mund.
Und sie zersprangen unter meinem Hauch,
zergingen, lautlos, ausgeträumte Spiegel.
Mir war, im Schilfgewoge zu ersticken,
und keines Wortes Halm bot einen Halt.
Da hörte Zwitschern ich aus blauer Höhe,
sah meinen Leib umwachsen feuchte Schuppen,
und fühlte schwere Flosse drängend schwingen,
doch blieben mir die goldnen Mädchenlocken
und die Chimären nur gesäugt, die Brüste.
So tauchte ich hinab durch grüne Schimmer
bis auf den Grund der unerfüllten Liebe,
ob mir wohl eine Wohnstatt hat bereitet
der moosbedeckte Gott verlassner Nymphen.
Doch fand ich nur zerbrochner Vasen Grab
und armlos eine weggeworfne Puppe.

 

Nov 9 24

Im Birkenlicht

Verweilen wir, hier spricht das Leben leise,
das grüne Blattwerk fleckt noch Sonnenhelle,
noch sickert Bläue in die Dämmerschneise.

Von weißer Borke schäumt des Schneelichts Welle,
durchs Zittern schmaler Blätter quillt ein Träumen,
als lauschten wir dem Schluchzen einer Quelle.

Laß, Liebe, uns den Rest des Tags hier säumen,
bis Silberblüten durch die Wipfel scheinen,
der Mond die Sage bringt aus fernen Räumen,

wo inniger die Seelen sich vereinen,
auf Asphodelen tropft ein süßes Leuchten
von Tränen, wie sie die Erlösten weinen.

O Augen, die sich schwarzen Glanzes feuchten.

 

Nov 9 24

Jean-Yves Masson, La sagesse a des doigts de lavande

La sagesse a des doigts de lavande, elle parfume les armoires,
elle cueille au jardin les fruits et préfère les fruits aux fleurs,
elle ne coupe pas les fleurs et ne les met pas dans des vases.

La sagesse a des yeux de chat, car elle voit mieux dans le noir,
son sommeil est épris du monde et l’univers est sa maison.
La sagesse chérit les blés et sait le prix de la patience.

La sagesse a des mains de fier courage et nous révèle sa tendresse,
elle est la fille du silex, servante et maîtresse à la fois.
La sagesse avance masquée, sachant qu’un dieu parle en nos songes.

 

Lavendel haftet an der Weisheit Finger, sie duftet in den Schränken,
sie pflückt die Frucht im Garten, liebt Früchte mehr als Blumen,
sie schneidet nicht die Blumen und steckt sie nicht in Vasen.

Es hat die Weisheit Katzenaugen, denn besser sieht sie in der Nacht,
ihr Schlaf ist von der Welt entzückt, das Weltall ist ihr Haus.
Die Weisheit liebt das Korn und kennt den Goldwert der Geduld.

Die Weisheit offenbart mit Händen hohen Muts uns ihren zarten Sinn,
sie ist des Feuersteines Tochter, Dienerin zugleich und Herrin.
Die Weisheit kommt maskiert, im Wissen, daß ein Gott in unsern Träumen spricht.

 

Nov 8 24

Der aufgehaltene Sturz

Zu früh im Lichte wühlen wir und tasten,
ob uns die Form und Hohlform roher Dinge
zu fügen eins ins andere gelinge,
ob Welt und Sprache ineinanderrasten.

Wie Akrobaten mit der Schwerkraft kämpfen,
läßt uns gehemmter Schwindel aufrechtstehen,
ein aufgehaltener Sturz ist unser Gehen.
Wie zuckt die Zunge unter Geisteskrämpfen.

Die Vertikale ist der Sinn des Lebens,
wenn Früchte wir und Sternenbilder pflücken.
Doch immer lockt der Schlaf der schweren Erde,

den Obelisken mit der Spitze zu zerstücken,
die golden blitzt – als wäre die Gebärde,
die sonnentrunkne, vor der Nacht vergebens.

 

Nov 8 24

Jean-Yves Masson, Plongé dans le livre

Plongé dans le livre, page après page, à lire cette histoire ancienne,
le temps sans pesanteur a passé, qui fait oublier le sommeil.
Et soudain cet appel sans voix, cette inquiétude

à travers l’air : là-bas cette liqueur, c’est l’aube,
et c’est presque un effroi que de voir
le ciel se vider de ses astres, et la lune d’été qui s’enfuit.

Oui, c’est l’appel de l’aube à la voix blanche, dans ma mémoire
ivres les mots de cette nuit dansent encore, et je dédaigne
le sommeil. Je sors dans la campagne, prêt au départ.

 

Eingetaucht in das Buch, Seite um Seite, die alte Geschichte zu lesen,
schwerelos ging hin die Zeit, den Schlaf macht sie vergessen.
Und plötzlich der Aufruf ohne Stimme, von Unruhe

durchbebte Luft: dort der goldene Trank, das Morgenlicht,
und beinah entsetzlich ist es zu sehen,
wie sich der Himmel von Sternen leert, wie der Mond des Sommers entflieht.

Ja, es ist der Aufruf des Morgens mit tonloser Stimme, in der Erinnerung Schneisen
tanzen trunken die Worte der Nacht noch, und ich verschmähe
den Schlaf. Ich geh hinaus aufs Land, bereit zu verreisen.

 

Nov 7 24

Nachtfahrt

Womit am Ufer sie schien fest vertaut,
die Seele hat des Nachts das Band zerschnitten.
Ein schwanker Kahn ist sie hinweggeglitten,
hat sich dem Schaum der Welle anvertraut.

An Bildern, heimatlichen, treibt sie hin,
wo Silber in das Wasser tauchen Weiden,
ihr Gold versprühen, weil sie, ach, muß scheiden,
die Lilien, Purpur Edens Königin.

Es brechen ab der Sinne zarte Brücken,
in fremde Wildnis reißt die hohe Flut,
wie unterm Mond Persephones geschwollen.

Frag nicht, wie unerfüllte Liebe tut,
es wollen Asphodelen sie berücken,
Geseufz, der Erde grauem Mund entquollen.

 

Nov 6 24

Schiffbruch vor Thule

Ich denke tatsächlich mit der Feder, denn mein Kopf weiß oft nichts von dem, was meine Hand schreibt.

Ludwig Wittgenstein

 

Blind hat die Feder auf dem Strand getanzt,
die feine Gischt der Handschrift ist geflogen,
das Ohr, dem milden Rauschen hingebogen,
auf Planken, bebende, das Herz gestanzt.

Und war ein Riff, wo sich die Welle staut,
gewiefter Vers hat seitwärts sich gewunden.
Glomm schon der Mond an Reimes Dämmersunden,
hat Abend noch im Vogelflaum geblaut.

Auf toten Tasten kannst du ihn nicht finden,
den Rhythmus, der dich träumend weiterträgt
gen Thule, wo die Früchte golden prunken.

Der Vers mußt sich um schroffe Klippen winden,
doch hat ein Dämon ihm den Kiel zersägt,
zu stummen Muscheln ist er hingesunken.

 

Nov 6 24

Jean-Yves Masson, Sommeil, mon confident

Sommeil, mon confident que je crains de trahir,
silencieusement près du puits de sagesse
où chaque être s’accorde à son désir, tu pose

tes mains sur l’innocence du visage, tu désarmes
le mensonge et l’orgueil, rallume dans le cœur
le feu qui le maintient en vie. Sommeil ô

montreur d’ombre ! mémoire de la terre,
donneur de force qui enseignes
aux yeux absents le prix d’une heure de lumière.

 

Schlaf, mein Vertrauter, den ich zu verraten fürchte,
schweigend legst du beim Brunnen der Weisheit,
wo jedes Wesen eins mit seinem Traume wird,

deine Hände auf die Unschuld des Gesichts, du entwaffnest
die Lüge und den Hochmut, entzündest neu dem Herzen,
was es im Leben hält, das Feuer. Schlaf, o

Schattenspieler! Der Erde frühe Kunde,
Spender von Kraft, der du abwesende Augen
den Wert des Lichtes lehrst, steigt seine Stunde.

 

Nov 5 24

Der Sänger auf dem kahlen Balken

Es wusch die Nachtigall sich das Gefieder
in einer Pfütze, als ihr Tuch gereicht
die Frau, vom Bild des hohen Leids erweicht,
und auf dem Tuch erschien das Bildnis wieder.

Es hob ein Hund an des Palastes Säule
das Bein, und eine helle Flamme sang,
da stand ein Mann, dem aus dem Innern drang
ein grabesdunkler Hauch, die Seelenfäule.

Nachdem die Nägel in das Fleisch gedrungen,
hat bald das Kreuz in eine Nacht geragt,
in der gerötet sich der Mond wie Mohn.

Als sterbend er „Es war umsonst“ geklagt,
hat auf dem kahlen Balken süß gesungen
der Vogel toten Vaters totem Sohn.

 

Nov 5 24

Jean-Yves Masson, Un rêve cette nuit a pris ma main

Aus: Neuvains du sommeil et de la sagesse

Un rêve cette nuit a pris ma main, a fait
sous mes yeux affaiblis croître une plante, et je voyais
l’arbre du temps poussé sur la terre féconde

avec à la naissance de chacune de ses branches
une cicatrice mortelle, dont pourtant il n’avait pas péri,
nourri comme il l’était de ses blessures.

Un vieillard près de lui me ressemblait, qui semblait
l’avoir vu grandir et me disait : de tout cela,
si tu souhaites cueillir les fruits, tu dois répondre.

 

Ein Traum nahm letzte Nacht mich bei der Hand,
ließ unter meinen trüben Augen eine Pflanze grünen, ich sah
den Baum der Zeit aus reichem Humus steigen,

und auf jedem neugeborenen Zweige saß
eine giftige Zikade, doch ging er daran nicht zugrunde,
sein Dasein ward genährt aus seinen Wunden.

Ein Greis stand nahebei, sah aus wie ich, hat wie ich
ihn wachsen sehen, und er sprach: Für alles dieses
mußt du stehen ein, willst du die Früchte ernten.

 

Nov 4 24

Sonett auf die Ignoranz

Vor lauen Seufzern, die wie Schäume platzen,
vorm Schluchzen dekolletierter Dichterinnen,
laßt fliehen uns wie vor Erinnyen,
und mögen girren sie gleich heißen Katzen.

Vorm Schrott, vergoldet von den Postmodernen,
den feilen Wunden, die von Kunstblut fließen,
laßt ungerührt die Augen uns verschließen,
vom faulen Zauber das Gemüt entkernen.

Uns hat Apoll ermächtigt, wegzuschauen
vom Elend, Knochen, obszön aufgeschichtet,
den Musenhaß moralisch zu erbauen.

Ah, Ignoranz, du zarter Anmut Hülle,
worin sie ungestört die Knospe dichtet,
auf daß ihr Duft den Auserwählten quille.

 

Nov 3 24

Der Verse zarte Nester

Wie blasse Knospen, die auf Wellen schwanken
hinab in blütenlose Wüsteneien,
wie Efeu, dunkler Male matte Ranken,
die schauernd Flocken süßen Lichtes schneien,

wie deine Blicke, jählings überfeuchtet,
nur einem dunklen Glanz mich überlassen,
dem Monde gleich, der über Schilfen leuchtet,
um unter Nebelschleiern zu verblassen,

sind Verse, Dämmerlaubes zarte Nester,
aus denen leises Zwitschern dir ertönt,
wiegst sachte du sie nur, die Zweige, Schwester,

doch schüttelst du sie, siehst empor du steigen
die Sänger, Träne hat dich schon versöhnt,
und fern sie tauchen in das blaue Schweigen.

 

Nov 3 24

Maurice Carême, L’artiste

Il voulut peindre une rivière ;
Elle coula hors du tableau.

Il peignit une pie grièche ;
Elle s’envola aussitôt.

Il dessina une dorade ;
D’un bond, elle brisa le cadre.

Il peignit ensuite une étoile ;
Elle mit le feu à la toile.

Alors, il peignit une porte
Au milieu même du tableau.

Elle s’ouvrit sur d’autres portes,
Et il entra dans le château.

 

Der Künstler

Den Flußlauf war zu malen er gewillt,
schon ist er übern Bildrand weggeflossen.

Dann eine Elster, das Gefieder schwillt,
durchs offne Fenster ist sie flugs geschossen.

Die Brasse, feinen Striches aufgetragen,
ein Sprung, der Rahmen war zerschlagen.

Drauf malte einen Stern er noch.
Der brannte in die Leinwand ihm ein Loch.

So malte endlich er ein Tor
gerade in des Bildes Mitte.

Es tat sich auf, daß Tor nach Tor
ins hohe Schloß empor er schritte.

 

Nov 2 24

Verschüttete Verse

„In düstere Gewölbe, in Verliese,
stieß man das Wort, da es nicht mitgejohlt.
Dort träumt ihm manchmal, wie es Atem holt,
wenn Mondeshauch nur durch die Ritzen bliese.“

„Sieh doch, des Dichters Haus umgrünt ein Garten,
der in die Loggia Wogen Duftes spült.
Dort hat sich Schwermut oft ans Licht gewühlt,
den Keimen gleich, der Fracht von Sonnenfahrten.

Die Zimmer ohne Prunk, wie Zeilen schlicht,
den blauen Dämmer öffnet mildes Blitzen
von Porzellanen, blütenüberflossen.“

„Du hast geträumt. Den Garten fand ich nicht,
nur Dorngestrüpp, der Anmut Haut zu ritzen,
und Schutt, wo Habichtskraut und Steinbrech sprossen.“

 

Nov 1 24

Später Gang am Rhein

Verklungen ist des Sommers goldner Ton.
Weißt du sie noch, die schönen Blumennamen,
die du genannt, als wir ins Rheintal kamen?
Nun sinkt die Akelei, verbleicht der Mohn.

Der Rebenhügel leuchtend grüner Samt,
wo sich der Burgfried in die Bläue reckte,
wie unter Gaze liegt er, blutbefleckte,
vom Schwermuthauch des Herbstes überflammt.

Laß, Liebe, uns den Pfad am Ufer gehen,
vom Wasser überrauschen unser Grauen,
wenn uns das Wort, der letzte Halt, gebricht,

bis zarte Strahlen uns die Brücke bauen,
wir in des anderen Aug uns dunkel sehen
und Träne hell zur Schwesterträne spricht.

 

Okt 31 24

Das Bröckeln der Zeitenmauern

Geschwollenen Wortes, Modernisten,
vom Blitz des Spiegelbilds gekitzelt,
jäh platzen auf sie wie Bovisten,
hat ihr Verstand sich krank gewitzelt.
Wir aber fühlen Efeu schauern,
sie bröckeln schon, die Zeitenmauern.

Uns schwindelt, wie im Traum zu kreisen
um eines stummen Abgrunds Mitte.
Wie töricht, einen Weg zu weisen,
wo uns der Fuß ins Leere glitte.
Wir sehen, kaum geweckt, zu blühen,
den Stern im Ozean verglühen.

Was immer unser Aug geblendet,
als stünden wir auf höchster Schwelle,
das Bild der Welt bleibt unvollendet,
stets löscht es aus die Urzeitwelle.
Wir sind wie Inseln von Korallen,
die unterm Schaum des Monds zerfallen.

Und sehen fern wir Gipfel ragen,
mag ihre schimmernd-weiße Krone,
der unberührte Schnee uns sagen,
wie eng das Wort im Talgrund wohne.
Doch kommt ein Sturm, die Zeiger springen,
fliegt auf das Wort, vom Meer zu singen.

 

Okt 30 24

Aus dem Dunkel pflücken

Wie finde ich das richtige Wort? Wie wähle ich unter den Worten? Es ist wohl manchmal, als vergliche ich sie nach feinen Unterschieden des Aromas.

Ludwig Wittgenstein

 

De la musique avant toute chose,
Et pour cela préfère l’Impair
Plus vague et plus soluble dans l’air,
Sans rien en lui qui pèse ou qui pose.

Paul Verlaine

Nur reine Klänge dir erlose,
und jeden kröne andrer Duft,
ein Rätsel leicht gelöst in Luft,
und nichts daran sei Prunk, sei Pose.

 

Ein Fächer, schimmern Augen durch die Spalten,
enthüllt uns mehr als schamlos nacktes Grinsen.
Der Vers verkohlt im Brennpunkt scharfer Linsen,
er blüht, ins kühle Licht des Monds gehalten.

Und die nach Kampfer, fetten Salben riechen,
gewickelt um die Ego-Wunde, Zeilen,
die uns der Schwermut zarten Riß nicht heilen,
verschmähen wir, um heiter hinzusiechen.

Die aus des Südens Hain zu wehen scheinen,
hat Sehnsucht aufgetan der Sommernacht
die Fenster, sind es, Düfte, die wir meinen.

Die Namen, die wir aus dem Dunkel pflücken,
sind süßer als der herbe Tag gedacht.
Wir winden sie, der Liebe Bild zu schmücken.

 

Okt 29 24

Die schroffen Hügel

Am Abend sind den Leinpfad wir gegangen
und haben müßig vor uns hin geplaudert.
Da hieltst du inne, auch ich hab gezaudert,
als Nachtigallen in den Zweigen sangen.

So schwiegen wir, hinwandelnd wie im Frieden.
Und jählings barg sich deine Hand in meine.
Mir war, als ob das graue Wasser weine,
weil Welle stets von Welle bleibt geschieden.

Kann, Dichter, nicht dein Wort herüberschneien,
dem Abgrund leihen des Gesanges Flügel,
daß wir nicht stürzen, wenn den Sprung wir wagen?

Nah scheinen sie, fern sind die schroffen Hügel,
vergebens ist das Seufzen, ist das Schreien.
Kann wohl ein sanfter Sang die Seele tragen?

 

Okt 28 24

Das Lied des Vagabunden

Er kam des Abends, als ob sie seiner harre,
des grünen Filzhuts Krempe hochgezogen,
o der Fasanenfeder goldnes Wogen,
an kühner Schulter baumelnd die Gitarre.

Vor ihrem Fenster blieb er lange stehen
und sah empor, ob wohl das Auge leuchte,
auf daß sein Lied die Bläue ihm befeuchte
und seinem Hauch die schwarzen Locken wehen.

Und wie im Traum sind Hände weich geglitten,
die Stimme stieg, ein Mond aus dunklen Fluten,
von trunknen Ebenbildes Schmelz entzückt.

Ihr aber strömte mild, was sie gelitten,
als würde ihre Nacht von Rosen bluten,
mit denen er den Schmerzenskelch bestückt.

 

Okt 27 24

Die alte Magd aus dem Eifeldorf

Die alte Magd saß auf der morschen Bank,
da über ihr die Blätter rötlich glommen.
Sie sah die späten Rosen nur verschwommen,
doch sprach das feuchte Auge noch von Dank.

Der sie geschwängert hatte, war längst tot,
der Herr, dem sie die Scheite angezündet,
als neues Leben schon den Leib geründet,
und ließ ihr nur ein karges Gnadenbrot.

War er auch fern, der Junge war am Leben.
In ihre Winter kam er stets von Süden
mit Seidentüchern, schmeichelnden Geweben,

mit Früchten, wie aus transparentem Stoffe,
doch las in ihrem Lächeln nie, dem müden,
daß sie auf eine andre Frucht noch hoffe.

 

Okt 27 24

Den Atem stauen

Die stumme Haut fühlt nur: Die Sonne scheint,
und fallen Flocken, schließt sie ihre Poren.
Der Hauch des Munds geht schon im Dunst verloren,
der dunkle Quell weiß nicht, warum er weint.

Kannst sagen du nur, was schon oft gesagt,
wieso den Atem nicht im Innern stauen,
bis die Kristalle des Gedankens tauen,
und fragst nicht, ob es dunkelt, ob es tagt.

Wie Kinder, die vom Stiel die Blüten pflücken
und lassen sie auf weichen Wellen reisen,
nicht wissen, ob sie in der Nacht noch schimmern,

mag, Dichter, dich das Spiel zuletzt beglücken,
wenn auf der Gläser Mund die Finger kreisen,
ob nun die Töne jauchzen oder wimmern.

 

Okt 26 24

Umrauscht vom Namenlosen

Der seelenvolle Ausdruck in der Musik, – er ist doch nicht nach Regeln zu erkennen. Und warum können wir uns nicht vorstellen, daß er’s für andere Wesen wäre?

Wenn dir plötzlich ein Thema, eine Wendung etwas sagt, so brauchst du dir’s nicht erklären zu können. Es ist dir plötzlich auch diese Geste zugänglich.

Ludwig Wittgenstein (Zettel, Nr. 157, 158)

 

Als schliefen Brunnennymphen unterm Schnee,
was wild geäugt, ward blind, die Wollust Milde.
Der Mond steht über dem entrückten Bilde,
verschleiert wie ein Vers von Mallarmé.

Als hörtest durch des Dämmers Laub du Schwäne
auf weichem Wasser sanft im Schlafe gleiten,
kann nie vernommener Klang dein Fühlen weiten,
matt schimmernd wie im Liede von Verlaine.

Es seufzten Scheite auf im müden Herde,
und wärmer schien, was von den Lippen drang.
Wie überströmte jäh dich die Gebärde,

da sie hinabgeneigt zum Hauch der Rosen
die Augen schloß und leise Verse sang.
O Insel Wort, umrauscht vom Namenlosen.

 

Okt 25 24

Verzierte Initialen

Wir müssen, was wir sind, geschehen lassen.
Das Licht ist aus der Nacht zur Nacht gewandert,
das Lied vom Quell zum Ozean mäandert.
Es ist kein Wort, den hohen Sinn zu fassen.

Glänzt hell der Schnee, er muß ermattend fließen,
die Knospe öffnet sich, Duft zu verschwenden.
Bevor das Tagewerk wir noch vollenden,
wird unsre Lider Dämmerung verschließen.

Verziere, Dichter, ihre Initialen
mit einem Flor aus lichten Wasserfarben,
daß Liebe unsern Brief mit Blicken küsse.

Doch jenen, die in stummen Nächten darben,
mag dein Gedicht wie voller Mond erstrahlen,
als hörten meerwärts rauschen sie die Flüsse.

 

Okt 25 24

Blutzeugen und Gaukler

Franziskus sah den Herrn und trug die Male.
Für deren Leidensnacht Brentano schrieb,
sie war’s, die ihm das süße Lied zerrieb,
daß es verseufzte unterm kahlen Pfahle.

Und dem Poète maudit sublimer Wonnen,
der seinen Vers mit Lotustau getränkt,
hat Eros einen Dorn ins Fleisch gesenkt,
was ihm noch strahlte, waren schwarze Sonnen.

Doch jene, die auf offner Bühne gaukeln,
kein Blut tropft aus dem Wort, das sie zerschlitzt,
Verstoßne mimend, vom Applaus umgluckt,

sie haben nie in Gottes Griff geschwitzt.
Kunst dünkt sie, auf der Zeitgeistwelle schaukeln,
die sie ins Flutlicht hebt und rasch verschluckt.

 

Okt 24 24

Die geöffnete Gartenpforte

Denk nicht, sondern schau!

Ludwig Wittgenstein

 

Grau, teurer Freund, ist alle Theorie,
und grün des Lebens goldner Baum.

Johann Wolfgang von Goethe

 

Du fühlst es, ist von Dingen, ungeschauten,
die Rede: Staub steigt auf und Phrase flockt,
fühlst, wie Gesang ins Blaue, Offne lockt,
wo Perlen leuchtend aus dem Nebel tauten.

Die graue Norne sagt dir leiernd immer:
Du Klümpchen Kehricht an des Schicksals Rad!
Doch lächelnd führt dich einen Seitenpfad
die Muse mit dem grünen Augenschimmer.

Stopf, Dichter, keine sonnenblinden Worte
in kargen Fühlens unbeseelte Lücken.
Schließ sie uns auf, die morsche Gartenpforte,

daß wir, was du gesät hast, blühen sehen.
Denn nur der Augenblick kann uns entzücken,
die Glut der Rosen und der Schnee der Schlehen.

 

Okt 23 24

Der Kreisel Liebe

Wie würgt uns um den Hals manchmal ein Strick,
woran der zerrt, den wir zu lieben meinen.
Doch läßt er los, wie müssen dann wir weinen,
der Dunst hat schon verschluckt den hellen Blick.

Ein Kreisel, blechern, grell bemalt, gedreht
mit heißer Schnur, und wirbelnd kann er singen –
ist unsrer Liebe wirres, blindes Schwingen,
bis jäh der Schwung erlahmt, der Klang zergeht.

Flicht, Dichter deine Verse nicht zur Kette,
ins Zwielicht wüster Bilder uns zu ziehen.
Träuf keine bittern Tränen in die Wunden.

Laß dem Geschrei des Tages uns entfliehen
auf weicher Reime stillem Blumenbette,
als könnten wir am milden Duft gesunden.

 

Okt 23 24

Der wandernde Vers

Diese musikalische Phrase ist für mich eine Gebärde. Sie schleicht sich in mein Leben ein. Ich mache sie mir zu eigen.

Aber man nennt doch etwas „abgedroschen“. – Und man sagt „Diese Melodie ist immer neu“ … Wie soll ich’s sagen? Das ist sicher: eine steife, eine puppenhafte Gebärde ist für uns keine Gebärde.

Ludwig Wittgenstein

 

Das trockne Rascheln wird uns schon Gebärde,
fährt Herbstwind durch das hingesunkene Laub,
es ist wie Abschied von der dunklen Erde,
als schmeckten wir beim Worte Abend Staub.

Und rinnt der Regen, da wir einsam liegen,
glänzt uns im müden Rauschen auf wie Schaum
die Melodie, der weichen Woge Wiegen,
und trägt uns heim zum grünen Ufersaum.

Die ausgefransten Rüschen, Dichter, schneide
mit einer Schere ab, die schwirrt und blinkt,
den Vers verhüll im schlichten Pilgerkleide.

Mag wandern er hinan zur Waldkapelle,
wo er den Glanz des Gnadenbildes trinkt,
wie Rose Licht und Tau die Immortelle.

 

Okt 22 24

Gérard de Nerval, Artémis

La Treizième revient … C’est encore la première;
Et c’est toujours la seule,—ou c’est le seul moment:
Car es-tu reine, o toi! la première ou dernière?
Es-tu roi, toi le seul ou le dernier amant?

Aimez qui vous aima du berceau dans la bière;
Celle que j’aimai seul m’aime encore tendrement:
C’est la mort—ou la morte … O délice! o tourment!
La rose qu’elle tient, c’est la Rose trémière.

Sainte napolitaine aux mains pleines de feux,
Rose au coeur violet, fleur de sainte Gudule:
As-tu trouvé ta croix dans le désert des cieux?

Roses blanches, tombez! vous insultez nos dieux:
Tombez fantômes blanches de votre ciel qui brûle:
—La sainte de l’abîme est plus sainte à mes yeux.

 

Artemis

Wieder Karte Dreizehn … die allen vorangesetzte.
Die einzige immer – oder der Augenblick, der zählt:
Bist Königin du also, die erste und die letzte?
Und König du, der einzig, der zuletzt von Liebe erwählt?

So liebe, die dich liebt, von der Wiege bis zur Bahre.
Die ich geliebt, sie liebt mich, hüllt mich zärtlich ein.
Sie, der Tod – die Tote sie … O Wonne, Folterpein!
Die Rose, die sie hält, die Rose ist’s, die wahre.

Die Heilige aus Neapel, der Lichter sich entzünden,
Rose am Veilchenherzen, der heiligen Gudula Flor:
Hast dein Kreuz du gefunden in Himmels wüsten Gründen?

Weiße Rosen, fallt, ihr könnt zur Andacht nicht taugen,
weiße Phantome, fallt aus brennenden Himmels Tor:
Die Heilige des Abgrunds, heiliger ist sie in meinen Augen.

 

Anmerkungen zum besseren Verständnis:
Die Dreizehnte („La Treizième“, Zeile 1) meint die dreizehnte Karte im Tarot: den schwarzen Reiter Tod, der als Emblem die weiße Rose im Wappen trägt. – Artemis ist die herbe Göttin des Waldes und des Abgrunds, verkörpert im Mond. Daher ist auch sie im Symbol der dreizehnten Tarotkarte, im Tode, enthalten. Sie wird als Königin („reine“, Zeile 3) angerufen, entsprechend jener, der sie liebt („amant“, Zeile 4) und lieben soll („aimez“, Zeile 5) als König („roi“, Zeile 4) bezeichnet. Attribute der ihr geweihten Hingabe und Liebe sind „die erste“, „die letzte“, „immer“, „einzig“ (Zeilen 1–3), aber auch die Vergänglichkeit kennzeichnet ihren Bereich, die vergehende Zeit, verkörpert in der antiken Allegorie der Jahreszeiten und Stunden (horae) sowie im Blühen und Verblühen des natürlichen Daseins. Wir greifen in diesem Gedicht nach den wesentlichen Momenten der mythisch-zyklischen Zeit, die hier mit den Perioden der Liebe und ihrer unmöglichen Erfüllung im Tod gleichgesetzt wird. Es geschieht immer dasselbe, aber angesichts der einzigartigen Gottheit, es ist wie eh und je, und doch zählt der eine außerordentliche Augenblick, der Kairos der Liebe („Et c’est toujours la seule,—ou c’est le seul moment“, Zeile 2). Die dreizehnte ist auchdie dreizehnte auch die erste Stunde einer neu anbrechenden Periode des Blühens oder Welkens. Die Zeit der Artemis ist nicht die uns vertraute des Sonnenjahres, sondern des Mondjahres (wie sie noch bei dem alten Volk der Juden im Festkalender gilt, sie haben sie wohl von den Sumerern oder Babyloniern übernommen). Der Mondmonat umfaßt 28 Tage und spiegelt so auch den weiblichen Fruchtbarkeitszyklus. Im dreizehnten Mondumlauf erfolgt der kürzeste Sonnentag, mythisch der Tod der Sonne, im folgenden steigt die Kurve des Lebens wieder an (daher die abergläubische Angst vor der Zahl Dreizehn und das Symbol des Todes auf der dreizehnten Tarot-Karte). – Die Aufforderung, sie zu lieben („aimez“, Zeile 5), ist keine Kleinigkeit, denn Artemis zeigt das Doppelgesicht von Zartsinn und Grausamkeit, Fruchtbarkeit und Zerstörung, ähnlich der Hindu-Göttin Kali, eine Ambivalenz, die das Christentum aus dem Bild der Heiligen Jungfrau, einer Transfiguration der Magna Mater oder Artemis, getilgt hat; ja sie erscheint unmittelbar als der Tod und die tote Geliebte („mort“ – „morte“, Zeile 7), sie beglückt und foltert zugleich („délice“ – „tourment“, Zeile 7), und es bleibt offen, ob im Tod sich ein Übergang zu anderem Leben, eine Auferstehung, vollzieht, wie es den Kern christlicher Hoffnung darstellt. – Die Rose in der Hand der Göttin, der Mutter und Geliebten („La rose qu’elle tient“, Zeile 8) ist eine andere wahre Rose („la Rose trémière“, Zeile 8, eigentlich Stock- oder Malvenrose als Symbol der Fruchtbarkeit), nicht die christliche, wie jene der Heiligen Gudula („fleur de sainte Gudule“, Zeile 10; das Haupt der Heiligen wird heute als Reliquie, einst der Heiligen Hildegard von Bingen zugeeignet, in der Eibinger Kirche im Rheingau verehrt). Die christliche weiße Rose liegt allerdings (dichterische Ironie) nah beim Herzen, das an ein Veilchen gemahnt („Rose au coeur violet“, Zeile 10), dem Attribut der heidnischen Aphrodite, wie es öfter in der Dichtung Sapphos beschworen wird. Die neapolitanische Heilige („Sainte napolitaine“, Zeile 9) könnte die Heilige Rosalie sein, der als Symbol der Keuschheit ein Kranz von weißen Rosen zugesprochen wird (ihr Kult wird allerdings in Palermo gefeiert); die Legende erzählt, eine Kerze oder Laterne, die sie des Nachts in Händen trug, sei immer wieder erloschen oder von einem dämonischen Wind ausgeblasen worden, aber ein Engel habe es ihr immer wieder angezündet („aux mains pleines de feux“, Zeile 9). Der Dichter verknüpft die beiden christlichen Heiligen, die des Nordens, Gudula, und die des Südens, Rosalie, durch das Symbol des transzendenten Lichts (der Kerze und des hellen Scheins der weißen Rose). Diese christlichen Heiligen kontrastieren mit der mythischen Göttin Artemis. Die Heilige mit dem Symbol der weißen Rosen konnte das Kreuz (das Heil) nicht in einem Himmel finden, den der Dichter einmal als Wüste, einmal als brennend (und das heißt bald verkohlt) apostrophiert („As-tu trouvé ta croix dans le désert des cieux?“, Zeile 11, eine das Sarkastische streifende Frage, sowie „ciel qui brûle“, Zeile 13). Die weißen Rosen sollen aus der Höhe fallen („Roses blanches, tombez!“, Zeile 12), sie taugen nicht zur neuheidnischen Andacht der mythischen Götter, sie würden sie beleidigen („vous insultez nos dieux“, Zeile 12). Hier spricht der Dichter in geradezu hochpriesterlicher Anmaßung von „unseren Göttern“ („nos dieux“, Zeile 12) im Gegensatz zu „eurem Himmel“ („votre ciel „, Zeile 13). Goethe läßt im Faust II nach dem Tode des reumütig gewordenen Faust Rosen auf die Bühne fallen, zum Zeichen seiner Erlösung. Gérard de Nerval, der Faust I übersetzt hat, sieht man von dieser Hoffnung weit entfernt. In seinen Augen verdunkelt die Göttin des Abgrunds den Stern der Erlösung oder rückt ihn ins lunare Zwielicht. Die weißen Rosen christlicher Keuschheit und Demut sind schon zu weißen Phantomen geworden („fantômes blanches“, Zeile 13), die gleich den zu Gespenstern verkommenen frommen Idealen bisweilen hämische Religionskritik vom Himmel stürzen läßt („Tombez fantômes blanches de votre ciel“, Zeile 13). Wir befinden uns im kulturgeschichtlichen Dunstkreis Bachofens und Nietzsches, Baudelaires und Wagners. Der Dichter sieht den Himmel zwar leer, möchte aber – wir dürfen sagen, vergebens – die Erde als fruchtbaren Schoß beschwören, die alten heidnischen Götter wieder zu gebären. Indes: Wo sind die neuen Altäre der Artemis, in welch einem staatlich eingehegten Wirtschaftsforst? Wo werden neue Dionysos- und Najadenkulte gefeiert, in welchen Palästen und Grotten aus Glas und Beton? Wir sind beim Sonnenjahr geblieben, das scheint die weltumspannende technische Kommunikation zu gebieten, jedenfalls, soweit wir es uns bieten lassen. Andererseits konnte kein Mondesschatten die Schönheit der weißen Rosen, wenn sie denn noch von dem Zeitgeist nicht hörigen Dichtern benannt wird, nicht gänzlich verblassen machen. – Symbolismus in der Dichtung kann das Herz bezaubern und den Geist beschwingen, doch die mit ihm verbundene mythologische Kehre („La sainte de l’abîme est plus sainte à mes yeux“, Zeile 14) scheint gescheitert zu sein. Denken wir hier an die mythopoetische Gestalt Hölderlins. Was aber in Wahrheit geschieht, wissen wir nicht. Wenn es nach dem überlieferten Wort genügt, daß drei sich in Jesu Namen zusammenfinden, um vom Dasein der Kirche sprechen zu können, warum sich über die seelische Entartung eines zügellosen Atheismus und Nihilismus echauffieren? Ein depressiver Poète maudit sieht den Himmel entleert, ein neurasthenischer Philosoph flieht aus der pietistischen Enge heuchlerischer Moralbeckmesserei und sehnt sich nach den Schauern bacchischer Ekstase – was soll dadurch bewiesen, was widerlegt werden? – Der Aufstand des Mythos wider den Logos, den in Frankreich Dichter wie Gérard de Nerval, Charles Baudelaire und Stéphane Mallarmé fochten, findet im deutschen Sprachraum ein Analogon bei Dichtern wie Rainer Maria Rilke, der auch auf Französisch dichtete, oder Stefan George, der schon aufgrund seiner kongenialen Übertragungen profund aus französischen Quellen zu schöpfen vermochte. Wie nahe oder fremd aber sind uns heute Sprache und Gedankenwelt der „Duineser Elegien“ oder des „Neuen Reiches“? Ist das mythische Bewußtsein, das sich seit der Romantik und Hölderlin bis zum europäischen Symbolismus zu erneuern schien, sieht man auf die Banalität und den Stumpfsinn der Gegenwart, völlig erloschen? Ist der Logos zu einer maßlosen technischen Welterfahrung verkümmert, wie sie uns aus dem Lärm der Städte und dem geistlosen Flimmern digitaler Bilder entgegentritt? Doch das ist ein allzu weites, von den Nebeln des Zeitgeists verhangenes Feld.

 

Zur Vertiefung:
https://www.enotes.com/topics/gerard-de-nerval/criticism/nerval-gerard-de/criticism/john-w-kneller-essay-date-1986

 

Okt 21 24

Gérard de Nerval, El Desdichado

Je suis le Ténébreux, – le Veuf, – l’Inconsolé,
Le prince d’Aquitaine à la tour abolie :
Ma seule étoile est morte, – et mon luth constellé
Porte le Soleil noir de la Mélancolie.

Dans la nuit du tombeau, toi qui m’as consolé,
Rends-moi le Pausilippe et la mer d’Italie,
La fleur qui plaisait tant à mon cœur désolé,
Et la treille où le pampre à la rose s’allie.

Suis-je Amour ou Phébus ?… Lusignan ou Biron ?
Mon front est rouge encor du baiser de la reine ;
J’ai rêvé dans la grotte où nage la syrène…

Et j’ai deux fois vainqueur traversé l’Achéron :
Modulant tour à tour sur la lyre d’Orphée
Les soupirs de la sainte et les cris de la fée.

 

El Desdichado

Ich bin der Dunkle, der Witwer, den kein Trost erbaute,
der Prinz von Aquitanien im Turm, der brach ins Knie:
Mein einziger Stern erlosch, am Himmel meiner Laute
erstrahlt nur sie, die schwarze Sonne Melancholie.

In die Nacht des Grabs, du, deren Glanz ich schaute,
reich Posillipo mir, die Bucht von Napoli,
die Blüte, die mein Herz erhellt, das schon ergraute,
das Gitter, wo mit Rosen Wein rankt Harmonie.

Bin Amor ich, Apollon? … Lusignan, Biron?
Vom Kuß der Königin ist heiß noch meine Vene.
Ich träumte in der Grotte, wo sie schwimmt, Sirene …

Siegreich durchquerte zweimal ich den Acheron:
Ich ließ im trunknen Wechsel über Orpheus Saiten
der Heiligen Seufzer, Schreie einer Fee hingleiten.

 

Okt 21 24

Unnennbares Leuchten

Man könnte sich Menschen denken, die etwas einer Sprache nicht ganz Unähnliches besäßen: Lautgebärden, ohne Wortschatz oder Grammatik. („Mit Zungen reden.“)

Ludwig Wittgenstein (Philosophische Untersuchungen, Nr. 528)

 

Ich weiß, wie du es meinst, wenn du mir lächelst:
„Laß uns noch weilen hier im Abendscheine!“
Du weißt, schließ ich die Augen, was ich meine:
„Mir ist, als ob du Duft von Träumen fächelst.“

Wenn tänzerisch sich deine Füße heben,
als ließen sie die Last der dumpfen Erde,
betört mich deiner Grazie Gebärde,
wie Blütenblätter in die Bläue schweben.

Es braucht der Worte nicht, daß ich es fühle,
wenn dunkelnd sich die Augen dir befeuchten,
wie bang dir wird, haucht Nacht uns jähe Kühle.

Das Ungesagte zwischen manchen Zeilen
scheint wie des Mondes unnennbares Leuchten,
vom Laut des Tages fern, im Traum zu weilen.

 

Okt 20 24

Durch diese tiefe Nacht

Ich bin durch diese tiefe Nacht gegangen,
den andern, die gelächelt, schien sie licht.
Mich streiften, die im Gehen sangen,
ich sah sie an, doch sahen sie mich nicht.

Und manchmal schien sich in die Hand zu schmiegen
mir eine kleine Hand, wie in ein Nest
ein junger Vogel, der noch lernt zu fliegen.
Bald ließ sie los. Hab ich zu heiß gepreßt?

Ich dachte an den Stern, von dem man sagt,
er wär Nomaden in der Nacht erschienen,
den nahen Quell der Gnade zu verkünden.

Mir konnte selbst nicht zum Geleite dienen
das Herz – ein Span, der in die Nacht geragt,
und keine Flamme war, ihn anzuzünden.

 

Okt 20 24

Die getrübte Flut

Wenn ich ein Gedicht … mit Empfindung lese, so geht doch etwas in mir vor, was nicht vorgeht, wenn ich die Zeilen nur der Information wegen überfliege.

Ludwig Wittgenstein

 

Wie Diebe, die nur auf den Wert erpicht,
sie schmelzen die Geschmeide ein zu Brocken,
die Wohlgestalt kann ihren Blick nicht locken,
vergebens funkelt es, das goldne Licht –

die Krähe hat die Federn wüst gerupft,
die einer Taube zarten Leib umgaben,
um ihren Schnabel in das Fleisch zu graben,
der Flaum, wie er dahinsinkt, rot getupft –

so knacken sie wie Muscheln auf die Schalen,
die silbern dem Gedicht das Herz umhüllen,
und hastig schlürfen sie das helle Blut.

Es kann der leise Ton den Durst nicht stillen
den Rohen, die mit schrillen Phrasen prahlen –
wie trüben sie des klaren Sanges Flut.

 

Okt 19 24

Emile Verhaeren, Au bord du quai

Et qu’importe d’où sont venus ceux qui s’en vont,
S’ils entendent toujours un cri profond
Au carrefour des doutes !
Mon corps est lourd, mon corps est las,
Je veux rester, je ne peux pas ;
L’âpre univers est un tissu de routes
Tramé de vent et de lumière ;
Mieux vaut partir, sans aboutir,
Que de s’asseoir, même vainqueur, le soir,
Devant son oeuvre coutumière,
Avec, en son coeur morne, une vie
Qui cesse de bondir au-delà de la vie.

 

Am Rand des Bahnsteigs

Woher auch immer, die enteilen, sind gekommen,
daß nur den tiefen Schrei sie noch vernommen,
wo sich am Scheideweg die Zweifel regen!
Mein Leib so schwer, mein Leib versehrt,
zu ruhen, es ist mir verwehrt.
Das kalte All ist ein Gespinst von Wegen,
gewebt von Winden und von Strahlen.
Besser zu verschwinden, ohne je das Ziel zu finden,
als am Abend hier, selbst unbesiegt, zu weilen
vor seinem Werk, dem alltagsfahlen,
und im düstern Herzen nur ein Leben,
zu müde für den Sprung aus diesem Leben.

 

Okt 18 24

Gérard de Nerval, Vers dorés

Homme ! libre penseur – te crois-tu seul pensant
Dans ce monde où la vie éclate en toute chose :
Des forces que tu tiens ta liberté dispose,
Mais de tous tes conseils l’univers est absent.

Respecte dans la bête un esprit agissant :
Chaque fleur est une âme à la Nature éclose ;
Un mystère d’amour dans le métal repose :
“Tout est sensible !” – Et tout sur ton être est puissant !

Crains dans le mur aveugle un regard qui t’épie
A la matière même un verbe est attaché …
Ne la fais pas servir à quelque usage impie !

Souvent dans l’être obscur habite un Dieu caché ;
Et comme un oeil naissant couvert par ses paupières,
Un pur esprit s’accroît sous l’écorce des pierres !

 

Goldene Verse

Gereckten Haupts vergötzest, Mensch, du den Verstand,
in einer Welt, wo Leben bricht aus jeder Ritze.
Es beugen Mächte sich vor deinem Herrschersitze,
doch ist vorm Meer des Alls dein Sinnen nur wie Sand.

Gewahr, wie sich im Tiere regt ein hoher Geist,
es lodern Seelen in erhabenen Königskerzen,
ein Sehnen pocht geheimnisvoll im Glanz von Erzen:
„Die Erde fühlt.“ – Wie alles dich ins Offne reißt!

In blinder Mauer fürchte Blicke, die dich suchen.
Es ist im toten Stoff das Wort schon inkarniert …
Mißbrauch es ruchlos nicht in Werken, die dir fluchen.

Oft birgt den scheuen Gott ein düstres Traum-Geviert.
Wie sich die Augen unterm Schlaf der Wimpern ründen,
erwächst wie Schaumkraut heller Geist aus Grabesgründen.

 

Okt 18 24

Der scharfe Schaum der Bilder

Aspektblindheit wird verwandt sein mit dem Mangel des musikalischen Gehörs.

Ludwig Wittgenstein (MS 144)

 

Wir können stumme Gesten wohl verstehen,
die Haut der Stirne lesen, wie sie spannt,
die kaum bewußte Fahrigkeit der Hand,
die wie im Traume winkt, doch mitzugehen.

Wie hören Klänge in die Nacht entweichen,
und wissen, was es heißt, daß er nicht hält,
der abgerissene Faden mit der Welt,
der Gram, wenn keine Briefe uns erreichen.

Doch Augen, blind vom scharfen Schaum der Bilder,
und Ohren, taub von Blechen, blank geschlagen,
sie lassen leer die Seelen gleich Gespenstern.

Wir aber wollen spät an Sommertagen,
denn weiche Abendschatten stimmen milder,
die Stille atmen, Duft aus offnen Fenstern.

 

Okt 17 24

In der Fülle darben

Wie bist du sorglos durch das Schilf gestreift,
die Wellen drängten dich, ein Lied zu lallen.
Die Melodie der Frühe ist dir längst entfallen,
erstickt im Dunst, der auf dem Fluß geschweift.

Hast „amo, amas, amat“ arg verschwitzt
geleiert, bangend vor der Prüfungsstunde –
doch vor der Drohung nicht, der tiefen Wunde,
die nicht verheilt, hat Liebe sie geritzt.

Wenn als ein Schattenschilf der Vers entsprösse,
zum Ufer, Dichter, dir der Reim versteinte,
vielleicht, daß auch das Lied dir wieder flösse.

Die Wunde aber könnte nur vernarben,
wenn Unschuld sie bespräche, sie beweinte.
So mußt du in des Daseins Fülle darben.

 

Okt 16 24

Unergründlich

Der seelenvolle Ausdruck in der Musik. Er ist nicht nach Graden der Stärke und des Tempos zu beschreiben. Sowenig wie der seelenvolle Gesichtsausdruck durch räumliche Maße.

Ludwig Wittgenstein

 

Aufs Wasser fiel die Frucht. Die Wellenkreise
sind Versen gleich, die um die Mitte schwingen,
die dunkel bleibt, wenn sie das Licht besingen
und selber leuchten auf geheime Weise.

Ein Lächeln überglänzt des Müden Falten,
sie lösen sich, wenn sie ein Mund behauchte
mit jenem Wort, das ihn noch nicht verbrauchte,
den Duft, im Kelch der Liebe einbehalten.

Der Ton will dir schon aus dem Versmaß fließen,
hell schäumen auch im unbetretnen Dunkel.
Geh, Dichter, mutig noch die letzten Schritte,

bis über dir der hohen Nacht Gefunkel
den letzten Vers entsandt, den bitter-süßen:
Stumm, unergründlich bleibt des Daseins Mitte.

 

Okt 16 24

Der letzte Dank

Sie lag ins Dunkel hingestreckt.
Die Scheibe war so blau, so kalt.
War keiner, der sie zugedeckt.
War keiner, dem sie noch was galt.

Da griff um ihre Lenden fest
und hob sie hoch ein starker Arm.
„Mein Leben ist nur ein Gebrest,
tu mir, o Fremder, keinen Harm!“

Sie schwebte wie die Knospe leicht
auf einem windgewiegten Stiel,
der aus der Nacht zum Azur reicht,
ein Blütenblatt war sie, das fiel.

Es fing sie auf der Tänzer mild
und drehte wirbelnd sie im Kreis,
es flammten seine Blicke wild,
der bleichen Lippen Hauch war Eis.

Sie hörte noch die Melodie,
die ihr einst frühe Liebe sang,
der sie es niemals je verzieh,
daß ihr der hohe Ton zersprang.

Da löste er den Griff, sie sank
zurück, das Fenster glühte rot.
„Wem schulde ich den letzten Dank?“
„Dein Retter bin ich, bin der Tod.“

 

Okt 15 24

Gezeiten der Liebe

Liebe ist kein Gefühl. Liebe wird erprobt, Schmerzen nicht. Man sagt nicht: „Das war kein wahrer Schmerz, sonst hätte er nicht so schnell nachgelassen.“

Ludwig Wittgenstein (Zettel, Nr. 504)

 

Das Herz schlägt schneller, eilt sie dir entgegen,
du liebst, beglückt von trunkner Küsse Schauer.
Doch auch, das müde Haupt gesenkt in Trauer,
wenn leer das Laken fahlt, wo ihr gelegen.

Die Welle Glück schwillt an in den Gezeiten
bei vollem Mond und ebbt, wird er verschattet.
Es seufzt die Liebe lang, bis sie ermattet,
vor Blüten, die auf dunklen Wassern gleiten.

Gefühl ist alles, sprach aus Faust der Dämon,
doch zeigt ihr Opfer, es war Margarete,
die reiner fühlte als der Unrast Sohn.

Dein Vers sei, Dichter, eine zarte Ranke,
ihr Blattwerk spiegle noch wie Dankgebete
das hohe Licht, wenn schon der Boden schwanke.

 

Okt 14 24

Jäh angeschlagene Saiten

Das Aussprechen eines Wortes ist gleichsam ein Anschlagen einer Taste auf dem Vorstellungsklavier.

Ludwig Wittgenstein

 

Jäh angeschlagen, zittern bange Saiten.
Als würden Blitze durch das Dunkel zacken
und Schauern beugen sich der Anmut Nacken,
scheinst über Feuerknospen du zu gleiten.

Schon bettet dich ein Raunen schwanker Halme,
an Blütenlippen schimmern leise Reime,
und Worte sagst du vor dich hin, geheime,
sie windend dir zum Kranz, zum Dankespsalme.

Bleibt, Dichter, Rascheln dir von dürren Blättern,
gehst einsam du durch herbstliche Alleen,
tönt noch ein Echo zartgeschweifter Lettern,

als habe Sturm in deine Schrift geblasen.
O fühl, wie toter Blumen Seelen wehen,
die einst geprangt in schön bemalten Vasen.

 

Okt 13 24

Laut und Sinn

Der Satz ist kein bloßer Laut; er ist mehr.

Der Satz ist wie ein Schlüsselbart, dessen einzelne Zacken so angeordnet gewisse (bekannte) seelische Hebel in gewisser Weise bewegen. Der Satz spielt gleichsam auf dem Instrument der Seele ein Thema (einen Gedanken).

Ludwig Wittgenstein

 

Im selben Raum sind Auge und Objekt,
doch können wir uns selbst zugleich nicht sehen.
Die wie im Halbschlaf uns vom Munde wehen,
die Laute sind aus Luft, der Sinn verdeckt.

Und wir enthüllen ihn, er strahlt entblößt.
Was an die harten Stirnen schien zu klopfen,
erglänzt am Blatt des Verses, gleich den Tropfen,
die sich vom Saum des Schweigens abgelöst.

Die Tropfen feuchten nicht die trocknen Lippen,
doch lindern sie den Schmerz verborgner Wunden.
Der Vers, er dringt in das Verlies der Rippen.

Nur der sublime, strömend wie das Wasser,
dem voller Mond ein Seufzen hat entbunden,
macht leiser unsern Puls, die Wange blasser.

 

Okt 13 24

Das wüste Feld

Gedichte scheinen aus dem Schoß zu sprießen,
den vor uns viele pfügten schon, besamten.
Wenn aber Geist und Schöpferkraft erlahmten,
sind schal die Früchte, kaum mehr zu genießen.

Das Feld verödet, Lattich prangt und Disteln,
und was an Körnern übrig zwischen Wicken,
sieht Krähen man und Sperlingsvögel picken,
in kahler Dichtung Wipfel strotzen Misteln.

Wer wird auf wüstem Feld den Mißwuchs roden,
das Astwerk, das verkrüppelte, beschneiden
und frische Keime pflanzen in den Boden?

Kommt aus dem Volk er, das den Reim verachtet,
ist fremd er wie der Pilger unter Heiden,
der nicht umsonst vorm Schrein des Heils geschmachtet?

 

Okt 12 24

Fernes Winken

Vergiß nicht, daß ein Gedicht, wenn auch in der Sprache der Mitteilung abgefaßt, nicht im Sprachspiel der Mitteilung verwendet wird.

In der Wortsprache ist ein starkes musikalisches Element. (Ein Seufzer, der Tonfall der Frage, der Verkündigung, der Sehnsucht, alle die unzähligen Gesten des Tonfalls.)

Ludwig Wittgenstein

 

Das Lied sei wie ein fernes, vages Winken
vom Bord des Schiffs, die Züge des Gesichtes
sind schon verwischt im Dunst des Gegenlichtes,
die Rührung währt, wenn auch die Hände sinken.

Wie unterm Kuß magst du die Augen schließen,
wenn Düfte dich der Gegenwart entreißen.
Du siehst noch in der Nacht die Blüten gleißen,
auf des Erinnerns Strom die Verse fließen.

Stopf weichen Mull in des Gesanges Trichter,
daß nur gedämpft die dunkle Klage bebt.
Verhüll der Liebe Antlitz mit dem Schleier,

den du aus matter Schwermut Taft gewebt.
Sei leiser Zeichen, die fern schimmern, Dichter,
wie Schwäne aus dem Schilf im Abendweiher.

 

Okt 11 24

Im Schatten wandeln

Mein Ideal ist eine gewisse Kühle. Ein Tempel, der den Leidenschaften als Umgebung dient, ohne in sie hineinzureden.

Ludwig Wittgenstein

 

Der Kreuzgang spendet Wandelnden den Schatten,
wenn in der Mitte Wasser glitzernd kühlen.
Im Herd des Leidens ist noch Glut zu fühlen,
die dunkel seufzt, wenn Beter schon ermatten.

Die Fliesen zieren Knospen, Feuertiegel,
kalt klären sie die Sinne, die im Flirren
dem Meer entstiegner Lüfte sich verwirren,
doch brennt die Stirne unterm Aschensiegel.

Form dein Gedicht uns wie die Säulenhalle,
wo wir erhitzt vom Tag im Schatten wandeln.
Dein Reim sag, Dichter, was die Quelle lalle,

die du aus harter Erde ausgegraben.
Mag kein Geschwätz die Stille uns verschandeln,
die golden tropft wie Honig aus den Waben.

 



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