Francis Jammes, Dans le Verger
Aus: De l’Angélus de l’aube à l’Angélus du soir
Dans le Verger où sont les arbres de lumière,
La pulpe des fruits lourds pleure ses larmes d’or,
Et l’immense Bagdad s’alanguit et s’endort
Sous le ciel étouffant qui bleuit la rivière.
Il est deux heures. Les palais silencieux
Ont des repas au fond des grandes salles froides
Et Sindbad le marin, sous les tentures roides,
Passe l’alcarazas d’un air sentencieux.
Mangeant l’agneau rôti, puis les pâtes d’amandes,
Tous laissent fuir la vie en écoutant pleuvoir
Les seaux d’eau qu’au seuil blanc jette un esclave noir.
Les passants curieux lui posent des demandes.
C’est Sindbad le marin qui donne un grand repas !
C’est Sindbad, l’avisé marin dont l’opulence
Est renommée et que l’on écoute en silence.
Sa galère était belle et s’en allait là-bas !
Il sent bon, le camphre et les rares arômes.
Sa tête est parfumée et son nez aquilin
Tombe railleusement sur sa barbe de lin :
Il a la connaissance et le savoir des hommes.
Il parle, et le soleil oblique sur Bagdad
Jette une braise immense où s’endorment les palmes,
Et les convives, tous judicieux et calmes,
Écoutent gravement ce que leur dit Sindbad.
In dem Garten
In dem Garten, wo Bäume sind, die leuchten,
trieft voller Früchte Fleisch von goldnem Wein.
Das weite Bagdad döst ermattet ein,
und schwüle Himmel spiegeln blaue Feuchten.
Es ist zwei Uhr. Im schweigsamen Palast
nimmt man das Mahl in hohen kühlen Gängen,
Sindbad, der Seemann, reicht vor steifen Wandbehängen
den Krug, den tönernen, die Miene streng gefaßt.
Lamm vom Rost schmaust man, Kuchen dann mit Mandeln,
läßt hin das Leben fliehen, lauscht, wie Wasser fließt,
das ein Sklave, schwarz auf weißem Kies, in Eimer gießt.
Da fragen manches ihn, die da vorüberwandeln.
Ja, Sindbad ist’s, gibt hier ein großes Mahl!
Ja, Sindbad, der weise Seemann, der hat Gold in Fülle,
rühmt man ihm nach, ihm lauschen sie in Stille.
Seine Galeere war schön, sie kurvt, wie er’s befahl.
Er duftet gut, nach Kampfer, seltenen Aromen.
Vom Haupt tropft Balsam, die Nase, adlergleich,
fällt spöttisch auf den Bart, wie Flachs so bleich:
Er hat das Wissen, flicht’s in holde Gnomen.
Er spricht, schräg gießt die Sonne auf Bagdad
maßlose Glut, daß in den Schlaf die Palmen sinken.
Die Gäste, die sich rechten Sinnes Ruhe winken,
sie hören ihm in hohem Ernste zu, ihm, Sindbad.
Poetologisches Sonett
Hast unbedacht du faule Frucht gegriffen,
warf süßlich sie ins Schattenlaub doch Licht,
nach trübem Glanz von Versen, ungeschliffen,
üb deinen Geist in redlichem Verzicht.
Wenn dunkel raunend Worte dich verlocken,
bleib nüchtern, Dichter, schau tief in den Grund,
ob im Morast nicht ihre Quellen stocken,
verschon, die längst von Phrasenstacheln wund.
Stinkt jedes Wort schon faul, beleckt von Zungen,
die unterm Schaum der Lüge sind geeitert,
ist jeder Quell vom Fäulnisgeist durchdrungen,
träum dich zur goldnen Frucht in Sapphos Gärten,
auf daß ihr Schimmer deinen Vers erheitert,
und bring sie, die verschmachten, den Gefährten.
Tropfen und Flocken
Ein Tropfen will das milde Wort uns scheinen,
da es den heißen Schaum der Zunge kühlt.
Als wären Himmel, vor sich hin zu weinen,
daß sich ein dunkler Mund am Perlglanz fühlt.
Kristallen gleich, die blind herniederschneien,
bis alles Trübe Silberschimmer hüllt,
sind weiche Linnen, die uns Verse leihen,
bis leise zuckend sie der Schlaf zerknüllt.
Wir hören wie im Traum das süße Glucksen,
schmilzt hin der Schnee des Lieds im Frühlingswind.
Wir wachen auf und durch geklärte Scheiben
erblicken wir’s: Still pflückt ein schönes Kind
sich Veilchen, die aus feuchter Erde wuchsen.
Uns lockt das Bild, den leisen Reim zu schreiben.
Zwiesprache mit dem Licht
Das Licht sprach mir im Schlaf: „Die Blumenspur
hab ich gelegt, damit dein Vers bisweilen
Duft strömt aus rosenrot durchglühten Zeilen,
doch bin ich Medium, nicht Herrin der Natur.
Bring Fülle ich der Frucht, nährt sie den Wurm,
kann sich an meinem Glanz der Geist erheitern,
muß er am Riff der Schmerzkristalle scheitern,
und sein Gebet verweht im Sonnensturm.“
Ich rief, der Sohn der Sonne und der Nacht:
„Ich will die Lichtspur tief ins Dunkel krümmen,
entzünden Blüten auf den Jenseitsflüssen,
daß sie zu hoher Liebe Schatten schwimmen.
Sind lächelnd sie aus ihrem Traum erwacht,
verflackern mag das Licht an trunknen Küssen.“
Zu den Schatten gehen
Phantasmen eines nuklearen Feuers,
Chimären einer mondbehauchten Nacht.
Das Endzeitbrüllen eines Ungeheuers
und feenhafter Singsang, schluchzend, sacht.
So sind der Sonne wir anheimgegeben,
die aus dem Erdschlaf Blatt und Faser weckt.
So läßt der Mond uns Traumgedichte weben,
ein Schnee, den tags der heiße Strahl aufleckt.
Wir rasen durch das All, die Erdbahn zackert,
und der Trabant peitscht Schäume aus dem Meer.
Die Iris weitet sich, die Nacht zu sehen,
von Tropfen Lichts besamten schwarzen Teer.
Und wenn im Geist des Dämons Flamme flackert,
willst du, Versehrter, zu den Schatten gehen.
Sonett von der Wiederkehr
Kehrst du dir wieder in dem wehen Ton,
wenn sich vorm Abendwind die Gräser biegen,
fühlst du die ausgesparte Leere schon,
wo sich im Blütenkelch dein Schmerz kann wiegen?
Des heimatlichen Dufts beraubt, was bleibt
uns Dürftigen als kargen Wortes Krumen,
wie Samen, die der Wind ins Fremdland treibt,
daß einmal Keime sprießen, zarte Blumen?
O wären ihnen Kerne beigemischt,
aus denen Reben wüchsen, Frucht zu tragen,
die golden aus dem Blattwerk dürfte leuchten.
Und können wir die Fernen auch nicht fragen,
ob sich an ihrem Glanz die Augen feuchten,
wir hoffen, daß er nicht im Mund erlischt.
Francis Jammes, La Prière
Par le petit garçon qui meurt près de sa mère
Tandis que des enfants s’amusent au parterre
Et par l’oiseau blessé qui ne sait pas comment
Son aile tout à coup s’ensanglante et descend
Par la soif et la faim et le délire ardent
Je vous salue, Marie.
Par les gosses battus par l’ivrogne qui rentre
Par l’âne qui reçoit des coups de pied au ventre
Et par l’humiliation de l’innocent châtié
Par la vierge vendue qu’on a déshabillée
Par le fils dont la mère a été insultée
Je vous salue, Marie.
Par la vieille qui, trébuchant sous trop de poids
S’écrie: ” Mon Dieu ! ” par le malheureux dont les bras
Ne purent s’appuyer sur une amour humaine
Comme la Croix du Fils sur Simon de Cyrène
Par le cheval tombé sous le chariot qu’il traîne
Je vous salue, Marie.
Par les quatre horizons qui crucifient le monde
Par tous ceux dont la chair se déchire ou succombe
Par ceux qui sont sans pieds, par ceux qui sont sans mains
Par le malade que l’on opère et qui geint
Et par le juste mis au rang des assassins
Je vous salue, Marie.
Par la mère apprenant que son fils est guéri
Par l’oiseau rappelant l’oiseau tombé du nid
Par l’herbe qui a soif et recueille l’ondée
Par le baiser perdu par l’amour redonné
Et par le mendiant retrouvant sa monnaie
Je vous salue, Marie.
Das Gebet
Durch den Jungen, er stirbt in seiner Mutter Arm,
während auf dem Boden tollt der Kinderschwarm,
durch den verletzten Vogel, er ist so bedrängt,
weil ihm der Flügel jählings blutet und herunterhängt,
durch Durst und Hunger, den Wahnsinn, der versengt,
sei mir gegrüßt, Maria.
Durch die Kinder, vom betrunkenen Vater, der heimkehrt, geschlagen,
durch den Esel, den man mit Füßen tritt in den Magen,
durch die Erniedrigung der Unschuld, die man stößt,
durch die verkaufte Jungfrau, die schamlos ward entblößt,
durch den Sohn, dessen Bild man seiner Mutter abgelöst,
sei mir gegrüßt, Maria.
Durch die Greisin, die strauchelnd unterm Weltgewicht
aufschreit. „Mein Gott“, durch den Unglücklichen, dessen Ohnmacht nicht
mehr finden konnte starker Liebe Lehne
wie das Kreuz des Sohns bei Simon von Kyrene,
durch das Pferd, das stürzte und das Rad zerrt ihm die Mähne,
sei mir gegrüßt, Maria.
Durch die vier Himmelsstriche, das große Kreuz der Welten,
durch all jene, deren Fleisch aufreißt und die zerschellten,
durch jene, die ihren Fuß verloren, ihre Hand,
durch den Kranken, der frisch operiert sich winselnd wand,
durch den Gerechten, den man bei den Mördern band,
sei mir gegrüßt, Maria.
Durch die Mutter, die erfährt, es sei ihr Sohn genesen,
durch den Vogel, der den aus dem Nest gefallenen aufgelesen,
durch das Gras, das Durst hat und die Wolke regnet,
durch den verlorenen Kuß, dem erwärmte Liebe noch begegnet,
durch den Bettler, der den Fund im Mantelfutter segnet,
sei mir gegrüßt, Maria.
Liedinterpretation durch Georges Brassens:
https://www.youtube.com/watch?v=x73xFzp7Xws
Im alten Rokokogarten mit Verlaine
O, Triton seufzt der Woge hinterher,
als hätte sie wer weiß wen fortgetragen.
Die Nymphe aber nimmt’s nicht allzu schwer,
sie taucht hinab, Schaum heitrer Griechensagen.
Schwitzt Herakles denn so, der Muskelprotz,
glänzt er vom Schweiß der Mühen noch, dem sauren?
O nein, das Glühen fühlt der edle Klotz,
der Gattin Schoß im Hemde des Kentauren.
Und wer liegt da im hohen Gras besoffen
und lallt den Mond an? Solch ein trunknes Melos
steigt aus dem Herzen nur, vom Pfeil getroffen,
den Eros nicht, den schoß der Gott von Delos.
Dir schluchzte manchen Reim bei Nacht die Seine,
dein Name weht, ein Wehmuthauch, Verlaine.
Anton Bruckner, 9. Sinfonie
Wilhelm Furtwängler, Berlin 1944
Und es verzweigen sich die hohen Strahlen
und fügen uns in Himmelssphären ein.
Herniedersinken kristalline Schalen,
aus denen quillt das Licht, ein goldner Wein.
Es kommen, ihn zu kosten, die noch leben.
Das Herz ward Wandlungswundern aufgetan,
die knospenhold auf Edens Seen schweben.
Die Schwermut neigt ihr Haupt, ein trunkner Schwan.
Daß, Liebe, dir die Seele nicht ertaubte,
die Schmach der Worte, die aus Trümmern wehen,
dir nicht den süßen Blütenkelch bestaubte –
daß du im Dunkel meine Hand erfühltest,
den bangen führtest auf Gesanges Höhen –
du über unsrer Herznacht lang noch glühtest.
Berliner Philharmoniker unter Wilhelm Furtwängler:
https://www.youtube.com/watch?v=DgaH14WiHfc
Dialektik der Liebe
Die Naht ist zart, die Narbe siehst du kaum,
als hätt ein Dorn beim Wandern aufgerissen
die blasse Haut. Doch wirst du es vermissen,
brennt sie des Nachts nicht mehr wie bittrer Schaum.
So ist das Wort, das jählings dich gestreift,
es stach hervor, ein Stachel aus dem Grunde
der Nacht. Denn Liebe saugt am Glanz der Wunde.
O Dorn und Rose, still emporgereift.
Sie lächelt, wenn du ihren Becher leerst,
der prickelnd überschwappt von Todeslust,
du lallst, da sie, was heilig-nüchtern, sagt.
Sie kann nur blühen, wenn du dich verzehrst,
im Dunkel glüht ihr Aug auf deiner Brust,
wo dir das Herz ein blinder Wurm zernagt.
Duft von fernem Hort
Als wäre wunders jäh im Schnee,
in einer Mulde süßer Feuchte,
gesprossen rot und weißer Klee.
Das Dunkel weicht, daß Gnade leuchte.
Woher ist kommen solch ein Licht?
Von sanfter Liebe Angesicht.
Als weckte milder Geister Hauch
die Vögel, die in Nestern schliefen,
und süße Stimmen wachten auf,
die uns zum Kuß des Lichtes riefen.
Woher ist kommen der Gesang?
Er floß wie Tau von Traumes Hang.
Als hätt gelöst die Zunge Wein,
das Herz, als Zwillingsherz zu schlagen,
gehn wir den späten Pfad zu zwein,
vom Glück uns Blühendes zu sagen.
Woher ist kommen uns das Wort?
Duft ist’s, geweht von fernem Hort.
Ist dies die hohe Nacht?
Ist dies der Augenblick,
da Ewigkeit die Zeit verschlingt,
die Helle sich ins Dunkel singt,
der eine hohe Herzschlag Glück?
Als wäre sanft herabgesunken,
vom Geist der Tröstungen gewebt,
ein Schleier eingehauchter Funken,
daß lichter Traum die Nacht belebt
von Edens süß durchseufzten Hainen,
wo reine Quellen trunkner weinen.
Ist dies die hohe Nacht,
da noch geheimnisvoll
die Knospe einer Rose schwoll
und unverhofften Duft gebracht?
Als hätten Blüten, traumentrückte,
Leuchtmücken in der Winternacht,
der Brust, die Einsamkeit bedrückte,
des Sommers goldnes Grün entfacht.
Und sie durchströmt Gesanges Welle
aus heißer Paradiesesquelle.
Ist dies die hohe Zeit,
da uns aus Wolken, sanft geballt,
zu hüllen Haß und Mißgestalt,
sind Flocken rein herabgeschneit?
Als schritten wir auf weichem Samte,
wie Hirten, vom Gestirn geführt,
das aus schwarzblauem Abgrund flammte.
Als hätte uns ein Hauch gerührt:
Und floß wie Tau auf unsre Wunde
aus eines Kindes keuschem Munde.
Ist dies der Augenblick,
da Ewigkeit die Zeit verschlingt,
die Helle sich ins Dunkel singt,
der eine hohe Herzschlag Glück?
Geister im Schnee
Wie knirschend unser Schritt zerbrach die Stille,
und Atem wölkte auf, ward Trug, entschwand.
Hoch über uns in schwärzlich-samtener Hülle
das funkelnd ungeheure Sternenband.
Wind wob um uns die Schleier dichter Flocken.
Wir waren wie die Vögel in der Nacht,
die starr auf winterkahlen Ästen hocken,
nicht wissend, was sie ernst und traurig macht.
Als löste mir die Lider Morgenröte,
sah Blumen ich, Kristalle, ausgebreitet,
und fern ergriff mich Schluchzen einer Flöte.
„Laß, Liebe, uns zu jenen Gärten gehen,
wo zwischen Lauben sich die Bläue weitet.“
„Ach, Geister, Lieber, hörst im Schnee du wehen.“
Sonett von der Einsamkeit
„Ich sah im Schilfrohr kleine Nester schwanken,
und bange Stimmen drangen an mein Ohr.
Sie waren süß wie einem Schwermutkranken
des Mondes Hauch, steigt er im Dunst empor.“
„Mir träumte, wie auf Wassern zarte Flammen,
vom Mond entfacht und von Geseufz genährt,
gleich Blumeninseln kreisend, nachtwärts schwammen,
als wäre ich zum Südmeer heimgekehrt.“
„Läg doch ein schmales Eiland in der Mitten,
wo schwanenweich ermatteten die Schwingen,
daß dein und mein Traum ineinanderglitten.“
„O flösse deiner Knospe Duft in meinen,
flög hin und her das Lied gleich Schmetterlingen,
als könnte Pollenstaub uns noch vereinen.“
Atme sanfte Verse
Der Abend fällt herab, ein blasses Veilchen.
Mach auf das Fenster, rasch, noch weht es lau.
Du scheinst mir einsam und dein Herz aschgrau,
so atme sanfte Verse noch ein Weilchen.
Kannst du sie hören, jene weichen Töne,
sie nahen schon, fern aus der Jugendzeit,
zu glätten dir die Stirn, die Falte Leid,
als sänge wieder, die lang schwieg, die Schöne.
Trät sie doch ein, das Auge aufzuschlagen,
daß du aus ihm den Tau der Liebe tränkest.
Du würdest ihr von all den Blüten sagen,
die sie gestreut dir hat aus Jenseitshainen.
Gäb Halt mein Vers, daß du nicht niedersänkest,
um in die Nacht, das dunkle Grab, zu weinen.
Der Staub der Schuld
Ich hab am Staub der Schuld mich fast verschluckt.
Im Vaterland weht auf er wie in Steppen,
wo sich die Maus, das bange Leben, duckt,
steigt fahl der Mond hinab die Wolkentreppen.
Ich hab auf zügellosen Festen Wein,
gepantschten Fusel lächelnd mitgetrunken.
Die deutsche Seele ward zum Marmelstein,
blind weggekickt und im Morast versunken.
Ich lag im Gras, und sah das schwarze Nichts,
das zwischen Stern und Stern wie Tinte quoll.
Vergebens lechzte ich nach Tropfen Lichts,
daß mir der Vers den Heimatpfad beleuchte.
Durchs Dickicht, das vom Hauch der Schwermut schwoll,
schlich hin er, und mir graute, wie er keuchte.
Die Puppe im Gras
Ich ging durchs hohe Gras, vermißte keinen.
Und war auch keiner, der mich hat vermißt.
Da wehte auf ein elfenweiches Weinen,
ein Schluchzen, das kein Silbenmaß ermißt.
„Hier bin ich“, unter Tränen rief’s ein Püppchen,
„hab dein so lang gewartet, bring mich heim.
Ich back dir Kuchen, braue Festtagssüppchen,
und dichtest du, hauch ich den letzten Reim.“
Ich denk, die Puppe muß meschugge sein,
doch hob ich sie auf meinen Arm ganz sachte.
Da merkte ich’s, es fehlte ihr ein Bein.
Am Fenster hockt sie stets. Den Laden schließ
ich nun nicht mehr. Ich hörte, was sie dachte:
„Ach, daß ich bald in Mondes Glanz zerfließ.“
Die dumpfe Seele
Die Waldmaus huscht, im Maul die spröden Samen,
Moos, Reisig auch, zu polstern ihren Bau.
Sie weiß nicht, wer sie ist, hat keinen Namen,
doch fühlt die Nacht der Seele sie genau.
Die Jungen drängen, warme Milch zu saugen,
das Herz der Mutter sieht im Dunkel grell
den Blitz, den tödlichen, aus Eulenaugen.
Wie heiß es zittert unterm grauen Fell.
Daß sie im schwarzen Wasser selig kreisten,
auf grünen Schalen, Blüten ungemein,
konnt dir die dumpfe Seele nicht begeisten?
Wie sollte feuchte Glut von Liebesblicken,
dich eines Sternenliedes süßer Schein
aus diesem Grauen huldvoll noch entrücken?
Das verhüllte Kreuz
Die Wasser, die das Grün ins Dämmern sangen
und Blumen in ein abendblasses Bild,
sind seufzend unter fahler Glut zergangen.
Faul ist, was noch aus Karstes Schründen quillt.
Vom Wort, das auf Prophetenstirn geschrieben
verzückt ein Kiel, getunkt in Lämmerblut,
ist nur der dunklen Sehnsucht Qual geblieben,
stumm einzutauchen in die schwarze Flut.
Es bleibt verhüllt das Kreuz, das Hoheitszeichen,
der Schrei auf Golgatha ist nie verhallt.
Es mochte Tau der Lilie nicht erweichen
den Kalk, zu dem der Liebe Mark geronnen.
Die Hand, starr unterm Eisenbiß verkrallt,
zeigt in den Abgrund gnadenloser Sonnen.
Der Ausgeschiedene
Die Mutter, nein, sie konnte mich nicht retten,
sie war ein schmales Grün am Wegesrand,
den Kopf, das taube Ei, darauf zu betten,
doch löschte sie mir nicht der Wunde Brand.
Der Vater war ein wandernder Nomade,
der unversehens auf die Schwelle trat,
ein Schatten auf dem Leuchten ferner Pfade,
ein Bettler, der um meine Träume bat.
So blieb mir nur das Herz, das Ungeheuer,
der Dämon Eros, tief im Angstverlies,
zu füttern ihn mit allem, was mir teuer.
So blieb mir nur das Wort, das monderhellte,
Sirene, die mir süße Qual verhieß,
wenn erst mein Boot an ihrem Fels zerschellte.
Tanz der Chariten
Aufschäumend muschelhell, die Wohlgestalt,
dem blauen Abgrund im Kairos entsprungen:
Im Herzen tut sich auf ein zarter Spalt,
und weiches Melos ist schon eingedrungen.
Die Wogen, die ans Ufer sie geschwemmt,
sind lieblich marmoriert von Purpurstreifen,
dann ruhen sie, von Schilfen mild gehemmt.
Und Blüten neigen sich, wenn Falter schweifen.
Da sind auch blasse Hände, sie zu pflücken,
zu flechten in das jäh gelöste Haar,
auf daß des Chores nackte Schritte glücken.
Und sie ist unter ihnen, Aphrodite,
damit der Charis sanft entrückte Schar
den Duft von süßen Oden ihr entbiete.
Grammatische Glossen zur Anthropologie
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Der vor dem Laden angeleinte Hund wartet auf sein Frauchen. Aber er erwartet nicht, daß sie früher zurückkehren möge als beim letzten Mal.
Der Pawlowsche Hund sekretiert Verdauungssäfte, wenn er auf das Signal der Schelle oder der Lampe konditioniert worden ist. Aber er erwartet aufgrund des Signals nicht, daß ihm heute eine Extra-Wurst verabreicht werde.
Ist der Laborhund enttäuscht, wenn die Fütterung trotz des verheißungsvollen Signals ausbleibt, so wie der Liebhaber enttäuscht ist, wenn er vergeblich auf das Eintreffen der Geliebten gewartet hat?
Das Warten hat bisweilen (aber nicht immer, nicht notwendig) eine gewisse Physiognomie (er geht aufgeregt im Zimmer auf und ab, schaut ständig aus dem Fenster), das Erwarten nicht.
„Ich erwarte, daß er pünktlich eintreffe“ ist keine Voraussage eines zukünftigen Ereignisses.
Wenn ich voraussehen könnte, daß der Zug auf der Strecke liegenbleibt, wäre ich nicht enttäuscht, wenn er nicht pünktlich eintrifft.
Angesichts der Schönwetterwolken am Abendhimmel erwarten wir schönes Wetter am darauffolgenden Sommertag; bringt er aber Regen, sind wir nicht in demselben Sinne enttäuscht, wie wir es sind, wenn unser Freund sein Versprechen, sich morgen pünktlich einzufinden, nicht einlöst.
Sie wußte, daß der Stau ihn daran gehindert hat, pünktlich zu kommen. – Er wußte, daß sie ihn schon einmal betrogen hatte. – Sie hoffte, daß er heute endlich einmal pünktlich komme. – Er befürchtete, daß sie ihn erneut hintergehe.
Wir unterscheiden zwischen Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn; aber dieser Unterschied ist nur eine Ableitung des logisch-grammatischen Unterschieds zwischen Aussagen im Indikativ und Aussagen im Konjunktiv.
Indikativische Aussagen beziehen sich auf den semantischen Raum relativer Gewißheit, konjunktivische auf den semantischen Raum relativer Ungewißheit.
Anthropologisch konstitutive Einstellungen, Haltungen und Dispositionen wie Erwarten, Hoffen, Befürchten, Beabsichtigen und Wünschen beziehen sich auf die semantische Dimension des Möglichkeitssinnes und verlangen zu ihrem sprachlichen Ausdruck die Verwendung des Konjunktivs.
Er fürchtet sich im Dunkeln. – Die Furcht ist naturgemäß ein spezifischer Affekt.
Er befürchtet, daß sie ihn hintergehen werde. – Die Befürchtung ist kein spezifischer Affekt, sondern eine intentionale (auf ein Objekt, einen Sachverhalt bezogene) Einstellung, die freilich, aber nicht notwendigerweise, mit affektiven Begleitphänomenen wie Furcht oder nervöse Spannung einhergehen kann.
Der Gegenstand einer Erwartung ist dasjenige Ereignis, das sie erfüllt oder enttäuscht. Die kindliche Furcht vor der Dunkelheit ist nicht intentional auf einen bestimmten Gegenstand bezogen, sie kann etwa durch unheimliche Geräusche konkretisiert oder durch die vertraute Stimme der Mutter aufgelöst werden.
Die anthropologisch konstitutiven Einstellungen und Haltungen gegenüber Begebenheiten und Ereignissen, die wir mittels indikativischer Aussagen mit den Verbformen der vollendeten Vergangenheit ausdrücken, wie Reue, Scham oder Stolz, sind prinzipiell verschieden von den Einstellungen und Haltungen gegenüber Begebenheiten und Ereignissen, die wir mittels konjunktivischer Aussagen mit den Verbformen des Futurs ausdrücken, wie Erwartung, Befürchtung, Hoffnung oder Zuversicht.
Was wir wissen, ist vergangen, und nur von dem, was vergangen ist, können wir auf Erfahrung fußendes mehr oder weniger sicheres Wissen erlangen.
Nur eine in der Vergangenheit verübte Missetat kann ich bereuen, einer üblen Handlung mich schämen oder auf eine vollbrachte Leistung stolz sein.
Wir unterscheiden die epistemische Dimension des Wissens von der ethischen Dimension unserer Einstellungen und Haltungen. Sobald Ödipus erfährt, daß Iokaste seine Mutter ist, ändert sich schlagartig die ethische Dimension seiner Einstellung ihr gegenüber.
Wäre die Erklärung meiner Absicht, dich morgen zu besuchen, eine Voraussage mit epistemisch ausgezeichnetem Grad der Gewißheit, wäre sie keine echte Absichtserklärung, kein Versprechen.
Die Absichtserklärung ist keine Hypothese über die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses, und sein tatsächliches Eintreten ist nicht ihre Verifizierung, sein Nichteintreten nicht ihre Falsifizierung.
Was wir Verstehen nennen, ist keine epistemische Form der Vermutung über innerseelisch-verborgene Vorkommnisse. Wir verstehen das Lächeln des Freundes unmittelbar als Ausdruck der Dankbarkeit über die freundliche Bewillkommnung oder das erhaltene Geschenk.
Verstehen ist in dem fundiert, was wir etwas vage Intuition nennen.
Intuition ist der Kompaß, auf dem wir die Sinnrichtung unserer Tuns und Redens ablesen.
„Wenn ich den Turm bewegen würde, könnte mich seine Dame bedrohen.“ – „Würden wir dem Hund die signalisierte Fütterung lange genug entziehen, würde der bedingte Reflex, mit Sekretion von Verdauungssäften zu reagieren, allmählich nachlassen.“ – Die grammatische Form irrealer Konditionalsätze ist der semantische Ausdruck des Gedankenexperiments und der wissenschaftlichen Modellbildung.
Wir unterscheiden zwischen dem Flußbett der logisch-grammatischen Funktion und dem Fluß der Sprache. – „Er ist mit Arsen vergiftet worden.“ Dieser Satz sagt nichts, denn wir wissen nicht, ob er in einem Roman steht, einem Arztbericht oder einem Gerichtsurteil.
„Er spricht Französisch.“ – Damit meinen wir nicht, was sie gerade tut, sondern die Fähigkeit der Person, ihr sprachliches Können.
Die Möglichkeit geht der Wirklichkeit, die Virtualität der Aktualität, das Können dem Tun insofern voraus, als wir das erste aus dem zweiten notwendig ableiten können.
„Er hätte sich verteidigen, sich rechtfertigen können, tat es aber nicht.“ – Die unterlassene oder verweigerte Tat ist eine andere oder abgeleitete Form des Könnens. Denn der da schweigt, kann sich in vornehmer Zurückhaltung üben oder edelgesinnt den Fragenden schonen.
Wir synchronisieren unsere Erwartungen, wenn wir den uns erbrachten Gruß angemessen erwidern, die freundliche Geste mit einem Lächeln quittieren. – Umso stärker, verblüffender, mißlicher wirkt die Verweigerung des konventionell Erwartbaren.
Das sittliche Können ist eine auf der Grundlage des Einübens konventioneller Gesten und sprachlicher Wendungen erworbene Fähigkeit. Es erweist sich in der natürlich wirkenden Erfüllung des konventionell Erwartbaren. – Nicht so das künstlerische Können, das entweder das konventionell Erwartbare mittels sublimer Steigerung übertrifft, ironisch-schalkhaft unterläuft oder in dunkle und zwielichtige Zonen vorstoßend untergräbt, wobei es aber immerhin dessen Nachhall und Fernwirkung voraussetzt.
Wir setzen als scheinbar natürlich und selbstverständlich das Können im sittlichen Gebaren (wie beispielsweise Abstand wahren, Grüßen, Einhalten von Versprechen und Verträgen, elterliche Fürsorge) voraus, während wir das herausragende künstlerische Können mit Lob bedenken, sein auf Schlampigkeit oder Disziplinlosigkeit zurückzuführendes Versagen aber mit Tadel strafen.
„Er konnte der Verführung durch den Eros, die Macht, das Geld nicht widerstehen.“ Dabei nehmen wir an, daß der Verführte und Korrupte eben deshalb schuldig wurde, weil er der erotischen Lockung, dem Postengeschacher, der Bestechung hätte widerstehen können. – „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“ In diesem Falle ist das Nichtkönnen eine Folge des Seins: „Ich bin, wie ich bin.“ „Er kann die Zahlen von 1 bis 100 addieren, aber kennt nicht den Unterschied von geraden und ungeraden Zahlen.“ – Die logische Grammatik von „können“ ist eine andere als die von „sein“ und „kennen“.
Der Pawlowsche Hund kann nicht anders, als dem ihm ankonditionierten Reflex willfahren. – Der Anarch des Geistes, der Blutzeuge des Glaubens sowie der baudelairesche Märtyrer der Kunst (und der Hungerkünstler Kafkas) verschmähen selbst die Henkersmahlzeit, die ihm der Gefängniswärter hinreicht.
Wir gewahren, wie sich in der homerischen Odyssee und der frühen griechischen Dichtung die Sprache des Alltags der außeralttäglichen Dimension des Wunderbaren und Märchenhaften, des Phantastischen und Imaginären öffnet. Eine Dimension, die in der Macht und Faszination der mythischen Erzählung und den Kulten der Götter und Heroen angelegt ist. An Odysseus, der am Hof des Phäakenkönigs Alkinoos im Angesicht der liebreizenden Nausikaa zum Erzähler seiner eignen Geschichte wird, gewahren wir aber auch, inwiefern wir die Öffnung der Sprache zu ihrer dichterischen Selbsttranszendenz anthropologisch verorten und vertiefen können: Die dichterische Sprache ist eine Form sui generis der menschlichen Sprache, wenn sie dem Tun und Leiden des Sprechenden sinnfälligen Ausdruck verleiht.
Die grammatische Form der dichterischen Sprache ist zugleich die logische Form dessen, was die Romantiker „Transzendentalpoesie“ nannten. Denn sie färbt die gewöhnlichen Bedeutungen der sprachlichen Ausdrücke mit außeralltäglichen Nuancen und Schattierungen; duftende Blüten werden zu Narden der Erinnerung, bemooste Schwellen zu Passagen des Traums, das schlichte Brot zum nährenden Wort.
Der Landvermesser telefoniert mit einem mediokren Angestellten im Schloß; doch aus dem Apparat ertönen sirenenhaft-unheimliche Stimmen.
Das Gedicht Mallarmés verbirgt sich hinter einem seltsam bemalten Fächer, doch manchmal glimmen Augen daraus hervor, fragend, stumm.
Sie waren sich für wenige Stunden bei einem gemeinsamen Freund begegnet. In einsamen dichterischen Briefen wurden sie beredt und öffneten sich, einander zugewandt wie glänzende Wunden; dann verabredeten sie sich, wanderten um den See, und hatten sich nichts zu sagen.
Das Lächeln der Blinden
„Du bist doch vielgewandert und beschlagen,
sahst vieler Völker Sitten, was geblüht
auf Sonneninseln, was dürrem Karst entsprossen.
Trafst du auf Menschen, die auch unter Blitzen
gelassen blieben, an trübem Tage heiter?“
„Ich traf da einen, den man aufgegeben,
er galt für geistesschwach, war schief gewachsen.
Er hütete im Steppenland die Ziegen.
Ich hörte schon von ferne den Gesang
und sah ihn bald im groben Filzhut sitzen
vor eines Feuers fahl gewordener Glut.
Sein magrer Hund lag treu zu seinen Füßen
und schlug mit seinem Schweif wie zum Refrain.
Ich klaubte Reisig auf, damit die Flammen
noch Nahrung fänden, milde Wärme wir,
es kam ein Hauch von schneebedeckten Gipfeln.
Er kramte aus dem Sack geschnitzte Becher,
ihr Lippenwulst war wie erstarrtes Seufzen,
und goß den Wein aus einem Lederschlauch,
an dem ein Purpurband im Wind geflattert.
So saßen schweigend wir, bis auf dem See,
dem dunklen See des uferlosen Himmels,
des Mondes bleiche Blume schwamm. Darüber
glomm Venus stumm und kalt. Er sang aufs neu,
doch hatte Worte nicht, kein Bild, das fesselt,
und keinen Reim als Boje auf der Flut,
nur schluchzend-herben Schmelz der heißen Kehle.“
*
Die Blinden mögen lächeln und die Toten,
nicht jene, die da nah das Ferne sehen.
*
Kaum streift, was schuldlos blühte, Menschenblick,
krümmt es sich wie vor Scham, um hinzuwelken.
*
Es führt ein jedes Wort ins Labyrinth,
kein Faden uns zurück ans Heimatlicht.
*
„Wie faule Frucht spuckst du die Worte aus,
als trüge einen Wurm in sich ein jedes.“
„Nach Eden fand ich nicht, wo unverdorben
noch Frucht, sagt man, in grünen Schatten glüht.“
*
Platon fand im Wort den Herrscher weise,
doch auf Sizilien war’s nicht inkarniert.
*
Die Katze spielt mit einer Maus, die Schreck gelähmt,
wie mit dem Herzen Amor, wenn sein Giftpfeil traf.
*
Es kann die Einsicht keine Wunde stillen,
wir finden Ruhe nur im Schlaf, den Mohn vertieft.
Bilder, die von Liebe blieben
Wie ein Hibiskusblütenblatt lag leicht
ein Sonnenfleck auf ihrer blassen Wange.
Als würden starre Herzen noch erweicht,
erglühte Dämmerung am Vogelsange.
Er zog das Bahrtuch über ihre Stirn.
Und als die Nacht verschloß die Traumverliese,
war ihm, es knirschten Schritte wie im Firn,
doch sank sie wieder ein im weißen Vliese.
Gut wär, rasch in den Schoß der Erde sinken,
sagt uns, der König Ödipus geschrieben,
das Beste, nie den Tau des Lichtes trinken.
Willst mit dem Schicksal du nicht rechten,
mußt du die Bilder, die von Liebe blieben,
gleich Veilchen in den Kranz des Liedes flechten.
An Haupt und Scham geschoren
Erst wirft man in den Kot den Glanz der Krone,
spuckt in den Wandlungskelch, entweiht den Schrein.
Dann lädt man Unzucht, daß sie ihm beiwohne,
zum Erben Davids, und sie reibt ihr Bein.
Die Linie fällt vom Edlen zum Vulgären,
so sah es Platon, sah es Hesiod.
Den Anus darf als Rose man verklären
und als Gedicht gichtfüßig lahmen Trott.
Die Schönheit hat den Bilderstreit verloren.
Kokotte wird Madame, das Mädchen Göre.
Das Mannweib glänzt, an Haupt und Scham geschoren.
Die Muse hat die Frucht gleich abgetrieben,
daß keine faule sich an goldner störe.
Mephisto hat den Arztbericht geschrieben.
Verwittertes Mosaik
Verweht ist der Fontäne weißes Gischten,
Delphine haben Splitter in den Flossen.
Gold feuchten Schimmers, das Tritonen fischten,
hat Muschelhorn blind in die Nacht gegossen.
Aus brackig-faulen Löchern schwaches Glimmen,
wie Blütensterne unter Dämmerranken.
Gesichte lichter Muse, sie verschwimmen,
gleich Asphodelen, die mit Schatten schwanken.
Der Nymphe aber, blauem Grund entstiegen,
den trägen Schaum der Wollust weich zu teilen,
auf Wellen trunkner Seufzer sich zu wiegen,
hat Glut der Anmut zarte Haut zerrissen,
Apollon traf das Herz mit scharfen Pfeilen.
Hin blich sie auf Selenes kalten Kissen.
Trost bei alten Gräbern
Der Horizont, Lid, das im Halbschlaf zuckt.
Hochlodern schwarze Fackeln von Zypressen.
Ins Niemandsland schwingt sich der Aquädukt,
die Völker, die er tränkte, sind vergessen.
Der Säule mit Akanthuskapitell
vernarbte Moos die wunden Kanneluren.
Versandet ist der Oden reiner Quell,
es rann der Sand aus jäh zerbrochnen Uhren.
Geh, Dichter, zu den Bildern bei den Toten,
wo sanfte Hand sich auf die Schulter legt,
entgegenglänzt ein Lächeln dunklem Boten.
Sprich nach die Inschrift auf bemoostem Steine:
„Da Jugendblüte fort der Sturm gefegt,
barg uns ein Gott in herbstlich stillem Haine.“
Nur einen Spalt
Noch brannte Licht im Flur, nur einen Spalt
ließ Mutter dir die Türe offenstehen,
und mußtest du sie lassen, lassen gehen,
das Licht, es gab dir einen kleinen Halt.
Doch bist aus wirren Träumen du erwacht,
war längst erloschen schwacher Hoffnung Scheinen,
verwaist fingst, hingekrümmt, du an zu weinen,
und weintest in der sternenlosen Nacht.
Und wähntest du, im Dämmerdickicht Welt
dir Trost zu finden wohl in Augen, feuchten,
erschienst dir dort als Bild von Glanz erhellt,
so fielst du wieder in das alte Grauen,
wenn Schatten dir das Spiegelbild verscheuchten.
O Schatten in der Iris dunkler Frauen.
Die Lilie Lied
Der Sternennächte feierliche Töne
hast, hoher Geist, du uns herabgesandt.
Zergeht im Rosenschimmer ihre Schöne,
lauscht noch das Herz, vom Bild des Monds gebannt.
Fiel unterm Asphalt Quell und Hoffnung trocken,
ward, was wir teilten, Brot des Worts zu Stein,
reicht deine Gnade uns der Wegzehr Brocken,
und dein Gesalbter segnet uns den Wein.
Verschleiern, Dichter, deinen Blick Dämonen,
beschlägt dir Trübsal Aug und Herz mit Dunst,
die Lilie Lied soll nicht bei Schatten wohnen.
Der Tau des Morgens wolle sie berücken,
behauchen froh erwachte Musenkunst,
daß auch der Reim, der letzte, mag noch glücken.
Was aus dem Dunkel ragt
Mag sich der Geist in hellen Sinn verleiben,
hebt sein Gesicht uns jedes Ding entgegen.
Auch wenn sich wieder Schleier darauf legen,
Traumbilder, blasse, der Erinnerung bleiben.
Nur Lichtumflossnes können klar wir schauen,
das rein Empfundne denken, ordnen, sagen.
Doch fühlen wir es aus dem Dunkel ragen,
wie Knospen, die sich uns zu öffnen trauen.
Gestalthaft spricht uns an der Grund des Lebens,
daß wir ihn fassen im geprägten Wort.
Ist es auch nur ein Augenblick des Schwebens,
wie zarten Falters, Nektar sich zu saugen,
und rinnt zur Urnacht es wie Tränen fort,
wir sahen uns im Spiegel feuchter Augen.
Die Wegzehr der Mythen
Wir zehren dichterisch von Hellas Mythen.
Uns münden Seufzer noch in Meergesängen.
Die auf den Triften Mytilenes blühten,
sind Veilchen auch auf unsren Wehmuthängen.
Hoch schwellen Adern unter den Asphalten,
ward auch der Gaia Herz zu grauem Quarze.
Noch rinnt in Daphnes zarten Lorbeerfalten
ein goldner Vers von schwermutzähem Harze.
Frierst, Dichter, du im Schnee der Hyazinthe,
wärm dich am edlen Blut, dem sie entsproß.
Streicht auf Selenes Lid Nyx schwarze Tinte,
gedenk des Mohnes, Morpheus Gnadengabe,
dank der dein Vers in Orphisch-Blau zerfloß,
des Traumgesumms um Hypnos Honigwabe.
Schüsse in Arkadien
Das alte Mädchen, lallend auf der Bank,
und keine Schulter, sich daran zu lehnen,
vor ihr die Flasche, Fusel, den sie trank.
Wie fern die nahen Amsel-Kantilenen.
Die Tätowierte mit dem Nasenring,
an ihren zarten Schläfen hämmert Dröhnen,
daß Traum ihr Leben sei, ein tumbes Ding.
Sie spuckt darauf, daß Feen in ihr stöhnen.
Mag, Dichter, Nachttau dir die Stirne kühlen,
siehst treiben deine Blüten du im Fluß,
ein geisterhaftes Wehen läßt dich fühlen,
wie sie zerpflückt der wilden Windsbraut Kuß.
Umsonst, ins Kissen tief den Kopf zu wühlen,
hörst fern du in Arkadien Schuß um Schuß.
Alte Frau am Fenster
Im Schoß die Hände, Warzen, Schründe,
still sitzt sie, Sonne, späte, scheint.
Sie zählt sie auf, die letzten Gründe,
warum sie lächelt, wem sie weint.
„Nun bin ich wie die alte Truhe,
drin schläft der Schleier und das Kleid,
oft knarzt sie wie im Firnschnee Schuhe,
mach ich sie auf, weht Duft von weit.
Im Spiegel seh ich all die Falten,
die mir den frühen Schmelz zerknüllt,
doch will dem Aug noch nicht erkalten
der Tau, der manchen Schmerz gestillt.
Wie ausgemergelt sind die Brüste,
und machte keine Milch sie prall,
war tief ein Durst doch, der sie küßte,
und ungestillt ward ihr Vasall.
Jetzt sind verblaßt die dunklen Düfte,
zerwühlte Knospe bleibt geneigt,
steif ward der Schwung der jungen Hüfte,
der volle Mund hängt schief und schweigt.
Doch hab ich noch den Blick ins Freie,
des Laubwerks Flimmerlabyrinth,
und sagt die Wolke mir, ich schneie,
reck ich die Hand hin wie ein Kind.
Ich habe noch den Weg zum Grabe,
wo ich die Veilchen ihm gesetzt.
O daß ich noch die Wunde habe,
die Tauglanz des Erinnerns netzt.“
Nun dunkelt es im kahlen Zimmer,
die Kerze ist herabgebrannt.
Es spielt im grauen Haar ein Schimmer,
vom Geist der Nacht zu ihr gesandt.
Schwärzliche Körner des Grams
Wie es wohl sein kann, daß mehr als Fülle die Leere uns tröstet?
Hör das Geratter des Tags, lausch in die Stille der Nacht.
*
Wie es die Wimpern beschatten, wie sich ihr Auge befeuchtet,
denn was sie las, war der Brief mit seinem Lilienemblem.
*
Was denn noch lesen, es bröckeln die Zeichen, die Namen verwittern,
überwuchert hat Moos, Flechte die Schrift auf dem Mal.
*
Kehlig erschallt der Ruf des Muezzins von Minaretten.
Sind wir in Mohammeds Reich? Nein, in germanischem Gau.
*
Blendender Muschel entstiegen, die selige Göttin der Liebe,
bald von den Salzen zersetzt, bitteren Tränen des Grams.
*
Zeugen wollen sie nimmer, weder im Geist noch im Fleische,
sondern des Kommenden Saat zehren sie auf vor der Zeit.
*
Feinde ziehen sie groß, am Busen die zischende Natter,
bis sich der giftige Zahn wühlt in das staunende Herz.
*
Bacchus umringte die Schar der fackelschwingenden Frauen,
er aber brachte den Wein, goldene Trauben des Lieds.
Heute siehst du auf Foren kurzgeschorene Mädchen
schwärzliche Körner des Grams streuen aus aschfahlem Vers.
*
Grenzen wahren sie nicht, sie wollen die Schwelle nicht hüten,
durch die offene Tür stieben die Flocken des Wahns.
*
Aus dem Dunkel der Erde nähren die Wurzeln die Krone,
aber die Wurzel der Luft reißt die erstickte hinab.
*
Sklaven hochtönender Phrase hörst du kläffend verkünden
aus dem Maulkorb der Angst, rein sei ihr eitriges Wort.
*
Unbeschworen zerfließen die Worte wie gleißende Tropfen,
heil aus dem Brunnen geschöpft hat sie dein Becher, Horaz.
*
O ihr Tränen, feuchte Glut auf den Wangen, mondbleichen,
weicher Lippen o Hauch, seufzt uns noch einmal im Traum.
*
Heilszeit schimmerte heimlich ins Lied von der rettenden Gnade,
Sternenlied des Vergil, war ihm auch Israel fern.
Die Blüten des Sublimen
Die frühen Keime, die noch immer sprossen
zu Liedes Blattwerk, mahlt man nun zu Staub.
Die Blüten, wo der Tau des Lichts geflossen,
die Sinnbegriffe: roher Mächte Raub.
Sie haben Wurzeln, die im Dunkel wohnen,
ihr grader Stamm reckt auf sich himmelwärts,
und Früchte schimmern in den hohen Kronen.
Das Wort hat Adern, Dichtern singt das Herz.
Nun mischt man Tag und Nacht, und alle Farben
zu fahlem Grau. Die von Verlaine gerühmten
Nuancen, Blüten des Sublimen, starben.
Nun sticht man in der Anmut weiche Wangen
mit geilen Blicken, rüde-unverblümten,
Apollos Locken rupfen Prosa-Zangen.
Sonett vom Liebestraum
Am Morgen sind am Ufer wir gegangen,
es hingen Fetzen Dunst noch überm Rhein,
die Vögel in den Schilfen aber sangen,
die Sonne stand, Monstranz vor offnem Schrein.
Wir stiegen durch das Feuer goldner Trauben
bis an des Eichenhaines kühlen Saum.
Wir sanken unterm Säuseln dunkler Lauben,
du in den deinen, ich in meinen Traum.
Und unsre Träume waren wie zwei Blüten,
vom Seufzen grüner Wellen sanft bewegt.
Es mischten sich, die kreisend sie versprühten,
die Düfte und die Schimmer unentwegt.
Der Mond hat ihnen, daß sie nicht verglühten,
auf ihre heißen Lippen Tau gelegt.
Der züngelnde Dämon
Der frühen Schöpfung Strahl brach sich die Schneise
durch Dunst und Angst, die Nacht hat er geballt
zu muschelheller, zarter Sinngestalt,
der Rose gab er Duft, Gesang der Meise.
Der hohe Geist hat Chiffren eingeschrieben
im Wolkenknäuel und im Farngezack,
schrieb mit dem Mond auf Wassers schwarzem Lack.
Im Schlaf der Tiere ist er wach geblieben.
Er lieh dem Dichter seinen Garten Eden,
wo er, von goldner Trauben Tau genährt,
das Wahre unter Schauern mochte reden.
Doch ließ er auch den glatten Dämon züngeln,
daß sich des Sängers lichter Sinn bewährt.
O Verse, dunkles Raunen, eitles Ringeln.
Der schwarze Parasit
Ein Dämon hat den Wurm ins Herz gesenkt.
Er nährt vom dunklen Blut sich und vom hellen,
er scheidet Säfte aus, die uns entstellen,
trübt unsern Blick, vom Schönen abgelenkt.
Solange sein Gespiele pocht und schwingt,
kann satt der schwarze Parasit sich saugen.
Ein Wurm der Nacht bedarf er keiner Augen,
doch zuckt er, wenn das Blut voll Wehmut singt.
Die Worte wäge, Dichter, wähl die reinen,
prüf, ob nicht Geifer in sie eingedrungen,
ob zwischen ihnen schon der Abgrund klafft,
den Orpheus Klagesang nicht übersungen.
Kein Schrei zieht ihn ins Licht, kein kindlich Weinen,
stürzt in die Nacht der Geist, vom Gift erschlafft.
Postscriptum
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Wir fanden nur das Postscriptum, das eigentliche Schreiben ging verloren; aber in der Nachschrift äußert sich oft das drängende Bedürfnis, ein lang Verschwiegenes, eine das Gemüt oder Gewissen bedrückende Last doch noch mitzuteilen und loszuwerden.
Als fiele zwischen den Wörtern Schnee, so dehnt sich der Raum ins Grenzenlose, Unabsehliche.
Wenn ihnen nichts mehr einfällt, präsentieren sie ihr Geschlechtsteil.
Weil sie nicht mehr zeugen, vermehren sie die Geschlechter.
Wer ohne Tabu dahinlebt, hat nichts mehr zu verlieren.
Wer nichts zu verlieren hat, ist arm dran.
Mißgestalten verketzern den Schönheitssinn.
Was wären Archilochos, Catull und Martial, was der geniale Maulheld Luther und gar der leidenschaftliche Heißsporn Kleist ohne die Funken, Stacheln und Granaten der polemischen Rede, die sie nunmehr als Haßrede verunglimpfen?
Frau Welt zeigt ihre schimmernden Brüste, dreht sich dann um und wackelt mit ihrem von Geschwüren verunstalteten Hintern: Sie eilen schon, aufgeregt, schnatternde Gnome, mit den samtenen Tüchern der Heuchelei und eines neuen Puritanismus, sie schamhaft zu bedecken.
Geistige Va-Banque-Spieler und Bankrotteure wollen die Welt retten, unter dem Narkotikum des Heilswahns Schwankende sie ins Lot bringen.
Gespaltene Zungen, die mit der Taube des Heiligen Geistes girren wollen.
Die Neu-Sprech-Hysterie seelisch frigider Amazonen und die Logophobie geistig impotenter Mannweiber werden die greise Mutter der Sprache, die Poesie, wie eine unverständlich lallende demente Seniorin ins Pflegeheim stecken und ihr mittels Verabreichung von Morphium und verordneten Konsums von TV-Literatur-Talk- und Rap-Shows zur Rekreation verhelfen.
Vergleichen wir den schrillen, den verhunzten Ton eines unangemessenen Ausdrucks und einer übertriebenen Metapher mit dem Mißgriff des Pianisten oder Geigers.
Die ihr Instrument nicht beherrschen, werden für unerhörte Grenzüberschreitungen gefeiert.
Sokrates, Hamann, Davila, die surrende Bremse am Ohr des irre die Augen verdrehenden, vergebens davongaloppierenden Kleppers öffentliche Meinung.
Welcher Wahn, den Graben zwischen den Geschlechtern mit erfundenen neuen verdecken zu wollen.
Der Dichter tänzelt über den alltagsplatten Boden wie der Akrobat über das Seil.
Aufgrund öffentlicher Auszeichnungen innerlich ausgezehrt.
Die da locken, Preisgelder und Stipendien, sie verführen meist dazu, dem, der sie vergibt, dem Zeitgeist mehr und mehr in den Arsch zu kriechen, bis das Talent gänzlich in ihm verschwunden ist.
Die nachts als sirrende Schwärme die Träume des Dichters heimsuchen, die Mücken der Worte, tags haften sie mit glitzernden Flügeln am Klebestreifen seines rachsüchtigen Verses.
Die moralische Entrüstung ersetzt leider nicht den Mangel an künstlerischer Reife.
Das Haus der Sprache, wie man es im Roman Musils finden könnte, als Ruine einer einst mit einem Park umgebenen klassizistischen Villa mit Jugendstilanbauten inmitten einer Industriebrache.
Parasiten bedürfen des langen Atems der Wirtspflanze, die sie trägt, und die dämonische Natur waltet gerecht, denn wenn diese atemlos ins Knie bricht, hat auch für jene die letzte Stunde geschlagen. – So auch die parasitären Eliten des Gesellschaftskörpers.
Der Punkt am Ende des Satzes, das Verstummen des Sterbenden, verwischt nicht die Spur seines Daseins.
Der im Bernstein des Gedichts auf ewig erstarrte Falter einer ephemeren Lebensekstase.
Enthusiasmus und der Rausch der Massen sind kein Qualitätssiegel, sonst stünden die von einem diabolischen Klumpfuß inszenierten Aufmärsche in einer Reihe mit den Triumphzügen der Cäsaren.
Das sentimentale Fiepen einer Maus, die vor dem Stampfen des tragischen Chores davonhuscht.
Der geistig Schwache läßt sich unmittelbar beeindrucken: Es muß wahr sein, weil jener es sagt, um den die blausten Gerüchte wogen, weil diese es bestätigte, deren Lächeln keiner widersteht.
Der neue Gedanke soll uns nicht überfallen und überrumpeln, sondern gleichsam zögernd auf der Schwelle weilen, sodann an die Türe pochen (aber nicht mit knöchernem Finger) und erst eintreten, wenn er auf unser Nachfragen seinen Namen genannt hat.
Ein Legato gilt den Atonalen schon als Ausweis neurotischer Harmoniesucht, ein Vibrato als heimtückische Verführung durch den längst bloßgestellten Geist der Tradition.
Das von anmutiger Hand entzündete Licht am nächtlichen Fenster sehen wohl viele, aber es gilt nur dem einen.
Beschneide die Ilias um die Stimmen der Heroen, bleibt nur ein unartikuliertes Schreien und Johlen, das Stimmengewirr der Soldateska, das Schmettern von Schwertern und Schilden, das Schwirren der Pfeile, das Flackern der Flammen bei den Totenfeiern, das Brausen des Meers.
Wo kein Quell mehr singt, verkarstet die Landschaft der Seele.
Die abendlichen Schönwetterwolken sind uns ein Vorzeichen für einen heiteren Sommertag. Das schöne Wetter des darauffolgenden Tages ist uns kein Zeichen, sondern eben der heitere Sommertag.
Das freundliche Lächeln ist uns kein Zeichen, daß der Freund sich freut, uns wiederzusehen, sondern Ausdruck, Moment und echter Teil seiner Freude.
Der unwillkürliche Ausruf „Aua!“ ist kein sprachliches Zeichen für das Schmerzempfinden, sondern Ausdruck, Moment und echter Teil dieses Empfindens.
Die Degeneration bestimmter neuronaler Synapsen steht in kausalem Zusammenhang mit dem Ausbruch einer Geistesstörung; aber die scheinbar wirren Reden des Psychotikers ordnen sich uns auf dem Hintergrund der Geschichte seiner Seele und der mit alten Symbolismen überzogenen Semantik der deutschen Sprache.
Der schleppende Gang, der gesenkte Blick und der versteinerte Gesichtsausdruck sind keine Zeichen einer Depression, sondern Ausdruck, Moment und echter Teil eines depressiven Zustandes.
Der Psychoanalytiker glaubt anhand der Deutung des manifesten Trauminhalts den latenten erfassen zu können. Wir aber lesen die Manifestationen dessen, was wir die Seele nennen, unmittelbar an Mimik, Gebaren und Verhalten ab.
Doch wir können uns irren, können uns „verlesen“: Das freundliche Lächeln, das uns als Ausdruck freudiger Unbefangenheit galt, erweist sich als Symptom der Verlegenheit und Scheu; der heiter wirkende Plauderton erweist sich als rhetorische Maske tiefsitzender Traurigkeit.
Der spontane Ausruf „Aua!“ kann als Selbstausdruck betrachtet werden, dessen Wahrheitsgehalt wir gewöhnlich nicht in Abrede stellen, während die Äußerung „Ich habe Schmerzen“ auch eine Unwahrheit darstellen kann.
Der spontane Selbstausdruck läßt sich nicht widerlegen; jedoch gewichten, beispielsweise als die Äußerung krankhafter Empfindlichkeit.
„Ich habe es selbst gesehen“ – eine solche Aussage gilt uns, bei freier Lizenz, die Sehfähigkeit des Sprechers zu testen und seine Glaubwürdigkeit unter Beweis zu stellen, als authentische Quelle zu dem Bereich, den wir Wirklichkeit nennen.
„Ich habe es selbst gesehen“ bedeutet: „Ich habe gesehen, wie dies und das geschehen ist“, und dies impliziert die Aussage „Ich habe gesehen, daß dies und das geschehen ist.“ Der Inhalt der Wahrnehmungsurteile hat die semantische Form der Faktizität.
Ironie und Zynismus im Gedicht wie bei Benn und Heine sind Symptome erkälteten Sentiments und enttäuschter Erwartung. In den dichterischen Prototypen wie der Bibel oder der Ilias finden wir weder Ironie noch Zynismus, aber Humor.
Als hätte das Organ für die Wahrheit des Eindrucks eine Verletzung davongetragen, und der unzulänglich Empfängliche schämte sich dessen.
Im Zeichengebrauch tritt uns augenscheinlich das Wirken eines fremden Willens entgegen; denn ein unwillkürlich hinterlassenes Anzeichen einer fremden Lebensregung gilt uns vielleicht wie die große Unordnung in einem Zimmer als Symptom einer gewissen Verwahrlosung seines Bewohners, aber nicht als willkürlich herbeigeführte Mitteilung wie der Zettel an der Tür mit der Aufschrift „Bin für zwei Wochen verreist.“
Ein Rundbogen macht noch keinen romanischen Stil, ein Spitzbogen noch keinen gotischen.
Erst die Reihung von Spitzbögen im Bau der Kathedrale, kombiniert mit anderen charakteristischen Merkmalen dieser Baukunst wie dem Kreuzrippengewölbe, der Verwendung von die hohen, schlanken Säulen stützenden Strebepfeilern und der dekorativ über den Giebeln, Nischen und Türmen aufgepflanzten zierlichen Kreuzblume lassen uns zurecht von einem Muster des gotischen Stiles sprechen.
Wir können den gotischen Stil der Kathedrale als Mitteilung über den sakralen Charakter des Bauwerks lesen.
Der Eindruck des Wuchtigen, Lastenden und Gravitätischen, die Würde der schweren, kompakten Massen der Rundsäulen und das vom Schein der Kerzen kaum durchbrochene Dämmerlicht des romanischen Baues lassen uns eine andere Konzeption des Sakralen gewahren als das lichtdurchflutete Kirchenschiff des gotischen Doms, dessen hohe Fenster mit den farbigen Bildern der Glasscheiben die Andacht der Frommen in eine sanft schillernde Ekstase entrücken.
Sie zwinkerte mit den Augen und er dachte, sie habe ihm ihr Einverständnis mitgeteilt; aber ihr war nur ein Staubkorn ins Auge geraten.
Der Maler kann dem Blau Anteile von Weiß, Rosa oder Purpur beimischen; der Dichter taucht den Farbbegriff Blau in ganz unterschiedliche metaphorische Atmosphären; die Meereswellen Homers können hell aufschäumen, die Ströme Eichendorffs wirken umso dunkler, je heller sich der Mond in ihnen spiegelt.
Der gelehrte Archäologe und Altertumsforscher sucht in den auf einen Stein gravierten Zeilen einer fremden, noch nicht entzifferten Schrift nach der Wiederkehr bestimmter Zeichen, in denen er einen Namen vermutet, meist den Namen des Königs oder Regenten, der seinen Erlaß hat einmeißeln lassen. Damit beginnt die mühsame, aber nicht aussichtslose Entzifferung der alten Schriftzeichen.
Wir füllen die verderbte, unleserliche Stelle des Papyrus versuchsweise oder divinatorisch mit Wörtern, die wir dem gesicherten Corpus der Werke des Autors entnehmen.
Lesen heißt sich der Führung durch die Hinweise des Autors zu überlassen; das tun wir nicht ohne einen gewissen Vertrauensvorschuß, der ihm schon nach wenigen Minuten der Lektüre zuwachsen mag, wenn wir stilistisch sicheren Grund unter den Füßen verspüren oder uns eine lichte Schneise mit einer beglückenden Aussicht verlockt hat. Warum aber weiterlesen, wenn wir halb schon in sumpfigem Gelände versinken oder uns die Disteln und Dornen trockener, spitzer, wuchernder Metaphern stechen, die Aussicht von einem trüben Dunst und Nebel versperrt ist, den keine ferne Sonne zu durchdringen sich anschickt?
Seltsam zu fühlen, zu begreifen, daß lesen eine Art freiwilliger Unterwerfung unter einen fremden Willen darstellt.
Ein Berg nicht gelesener Klassiker warf seinen Schatten auf das Angesicht des sterbenden Lesers.
Wir ziehen das Zelt des der Schrift unkundigen Beduinen, wo Karaffen aus getriebenem Silber und Säbel und Dolche dekorativ vor zartbestickten Teppichen schweben, und vor dem Zelt spielen Kinder, tollen Hunde, der dumpfen Studierstube des kinderlosen Intellektuellen vor, wo von den vollgestopften Regalen Bücher in den Staub des Vergessens stürzen und auf dem Fenstersims ein eingegangener Kaktus steht.
Die Häßlichkeit geht Hand in Hand mit der Unfruchtbarkeit.
Die schönste Frau war das Blutopfer wert.
Goethe feiert in der Epiphanie Helenas die Wiedergeburt der geopferten Geliebten.
In der ersten Reihe lümmeln und krakeelen nun die Kretins, in der hintersten gähnen die Hochbegabten.
Je seltener, umso kostbarer.
Die großen Dichter Roms kommen aus der Provinz und oft aus kleinen Verhältnissen; aus diesem Befund läßt sich folgern, daß die Elitenselektion der römischen Republik einen hohen Grad der Perfektion erreicht hatte.
Kaiser Augustus pflegte dem Vortrag des Vergil aus seinem Epos sein Ohr zu leihen. Welcher zeitgenössische politische Führer würde der Rezitation der Duineser Elegien mit Anteilnahme und Verständnis folgen können, folgen wollen?
Beschränkte Köpfe suchen die Lösung eines Problems wie einen verlorenen Schlüssel unterm Lichtkreis der Lampe nur in dem von der Strahlkraft der approbierten Theorie schon ausgeleuchteten Bereich.
Die Quelle der Muse, an der Faunus die Flöte bläst, ist nicht nur präskriptural, sondern vorzivilisatorisch. – Doch ohne sie keine Oden des Horaz, des urbanen Römers, keine Sonette Baudelaires, des gebildeten Parisers.
Die symbolische Ordnung produziert das Weltbild, das wir nicht sehen.
Die Rose des Gedichtes duftet nicht. Die Rosen Monets welken nicht.
Demokratie: Die Stimme des Kretins, des Verbrechers, des Perversen wiegt so viel wie die Stimme des Weisen, Gerechten und Frommen.
Der Pöbelgeist und der vulgäre Geschmack werden als höchste Manifestationen der Aufklärung und der zwielichtigen Ideale der Französischen Revolution gepriesen.
Wer in der vom Pöbelgeist vergifteten Atmosphäre sogenannter demokratischer Öffentlichkeit die Wahrheit kundzutun sich erdreistet, wie jene schlichte von der Bipolarität der Geschlechter, lebt hierzulande gefährlich, er droht, bespuckt und verunglimpft zu werden, ja den sozialen Tod zu sterben.
Die Denunzianten hecheln vor den Bildschirmen, und auf ihr Geheiß machen sich die Häscher im Morgengrauen auf den Weg.
Die neuen Schreibtischtäter bellen nicht mehr, sondern säuseln, sie tragen die feine weiße Wäsche des verwöhnten Dandys oder die schicken Kostüme internationaler Couturiers, doch die unbedingte Hingabe ihrer Anhängerschaft ist genauso fanatisch, der Applaus, der ihnen entgegenbrandet, ist genauso frenetisch und ihr Lächeln genauso mephistophelisch wie ehedem.
Selbstzensur, die das Gebrüll des Triebes abwürgt und das Geschwätz der aufgebrachten Seele drosselt, ist die Nährmutter des erlauchten Worts.
Nur gehemmte Kraft fühlt sich und wird ihrer Möglichkeiten inne.
Eine Rebe ohne den Pfahl, an dem sie sich zum Licht emporwindet, verdämmert im fruchtlosen Dunkel.
Die das Unbedingte wollen, betrügen sich und andere um die schöne Fragilität, die inkommensurable Individualität und Subtilität der Dinge.
Die da frohgemut oder arglistig alle Farben mischen, wollen, daß wir im trüben Grau und gesichtslosen Einerlei verschmachten.
Die weltumspannende Kommunikation bewirkt die Abtötung des Sinnes für Nuancen.
Nur der Gott, der zürnen kann, kann auch Gnade walten lassen.
Alle pochen auf die Freiheit, immerzu die gleiche Meinung mit den gleichen Phrasen äußern zu können.
Der Dichter wandert durch die Auen und Wüsten, die fruchtbaren Ebenen und Steppen der Sprache, auch wenn er seine schäbige Hinterhauswohnung kaum verläßt.
Klar denken oder philosophieren ist eine Form sublimierter Grausamkeit.
In der rhythmisch gegliederten Wiederholung des Verses kehrt der Ausdruck des Gedankens, selbst bei wörtlicher Wiederholung wie im Refrain, verwandelt zurück; verwandelt schon aufgrund der vergangenen Zeit. – So wie in der Erinnerung das Vergangene zwar wiederholt wird, aber verwandelt durch die Atmosphäre und die Stimmung dessen, der sich erinnert.
Wir wollen den gedichteten Mond nicht blutig rot, sondern blaß, und so verschwimmt sein Bild im Wasser mit den dahintreibenden weißen Blütenblättern. Goethes bemalte Fensterscheiben tauchen wohl das Interieur in ein geheimnisvoll irisierendes Licht, aber hindern den Ausblick ins Freie. Den Nebel des schwach Gedachten und den Dunst des vagen Meinens muß der kühle Hauch des inspirierten Worts erst lüften, damit die offene Landschaft des Gedichtes sichtbar wird.
Liebesduett
„Wärst du der goldne Fisch, wär ich der Teich,
der dich mit grünen Schimmers Vlies umschmieget.
Ich wär Gesang des Wassers, der einwieget,
bis neben dir der Mond schwimmt, lilienbleich.“
„Wär ich die reife Frucht, wärst du der Wind,
der kühl sie schüttelt, heiß vom Zweige pflücket,
die Anmut auch, die sich zur Erde bücket,
ihr Mund ist rot, und roter Tropfen rinnt.“
„Wärst du es, der das Rätsel Schmerz versteht,
bin ich die aus dem Dunkel Wachgeküßte,
in deines Blickes Helle mich zu wenden.“
„Du gibst, was lang mein karger Vers vermißte,
Duft, aus verwunschnem Garten hergeweht,
Licht, wie es Augen, tränenfeuchte, spenden.“
Die verschollenen Namen
Nun scheinen wie verschollen all die Namen,
den Blüten gleich, von rauher Hand zerrieben.
Die aus dem Schoß, dem unentweihten, kamen,
verblichen auf dem Karst, der uns geblieben.
Endymion und Traumes Licht Selene,
und den entrafft Zeus’ Adler, Ganymed.
O daß sich Schwermut an das Fenster lehne
und fühle, wie ein Wind vom Orkus weht.
Was nützt das Buch dir, Dichter, das gelehrte,
wo von Aither bis Pan und Okeanos
wie tote Masken sie vorüberschreiten,
hebt aus der Trübsal dich kein Flügelroß,
kann der von Tränen Keats noch unversehrte,
dein Vers auf Wellen nicht gen Lesbos gleiten.
Vertane Zeit
Vertan die Zeit mit Schlafen, Dämmern, Lesen,
die kurze Überfahrt von Nacht zu Nacht
im winterlichen Zwielicht hingebracht,
ein stummer Schatten unter Schattenwesen.
Dann diese Nächte, sternenlos verhüllte,
durch die kein Strahl vom Jenseitsufer dringt
und düstres Rascheln nur die Botschaft bringt
vom Blatt, das eine rauhe Hand zerknüllte.
Wollt ihr denn niemals wieder zu mir kommen,
o meines dunklen Daseins lichte Schwestern,
die blauem Sommertage vorgefühlt,
Narzissen, Hyazinthen, einst erglommen
in Edens fernem, märchenfernem Gestern,
die aus dem Staub das graue Herz gewühlt?
Der abgetane Talmiglanz
Wir sind der grellen Schminke überdrüssig,
koketter Blicke und verdrehter Lenden.
Wir wollen rein den Reim, die Verse flüssig,
wie Ströme, die ein fernes Echo senden.
Die manieriert sich winden, geile Ranken,
vor stiller Andacht Fenstern, streng vergittert,
die Blätter Siegel, die im Wahnwind schwanken:
Auch ihr Herbst kommt, der ausstreicht und zerknittert.
Laß, Dichter, Zwinkern, zwitterhaft Getue,
den fahlen Talmiglanz, der bald verraucht.
Erweckt von Strahlen schwebt der Vers voll Ruhe,
wie die auf grünen Wassern lichtvoll gleitet,
die Blüte, trunknem Dunkel jäh enttaucht,
wie Anmut, die einher im Wachtraum schreitet.
Cristina Campo, Amore
Amore, oggi il tuo nome
al mio labbro è sfuggito
come al piede l’ultimo gradino…
Ora è sparsa l’acqua della vita
e tutta la lunga scala
è da ricominciare.
T’ho barattato, amore, con parole.
Buio miele che odori
dentro i diafani vasi
sotto mille e seicento anni di lava –
ti riconoscerò dall’immortale
silenzio.
Liebe, heute ist dein Name
mir von der Lippe geschlüpft
wie der Fuß auf der untersten Stufe …
Nun ist das Wasser des Lebens verschüttet
und die ganze hohe Treppe
muß man wieder hinaufsteigen.
Ich habe dich, Liebe, eingetauscht gegen Worte.
Dunkler Honig, welcher Duft
in den diaphanen Vasen
unter tausendsechshundert Jahren aus Lava –
ich werde dich wiedererkennen am unsterblichen
Schweigen.
Die Schicksallosen
Er treibt noch Blatt um Blatt, der tief gespalten,
der Eichenbaum, vom Blitz geprüft, versehrt.
Doch welche Wurzeln sollten aufrechthalten,
die leicht wie Schatten kein Geschick beschwert?
Die Säfte aus der Nacht, die nähret, saugen,
entgegen wachsen sie dem hohen Licht.
Uns aber trübt erhellte Nacht die Augen,
verhüllter Tag verdunkelt das Gesicht.
Magst, Dichter, du in weiche Erde wühlen
verschwiegner Worte unversehrten Keim,
auf daß sie Reiser aus der Tiefe recken,
an deren Grün wir inniger erfühlen,
wie das Gemüt im Licht erblüht, im Reim,
wie unsre Wurzeln sich zum Himmel strecken.
Das Nachbild des Gedichts
Nun rührt die weiße Blüte dich, ein Schaum,
der schmilzt und sich im Abendlicht versprüht.
Am Dämmervlies des Waldes zart erglüht,
schien sie wie eitle Rüsche nur am Saum.
Als Liebe süß gesenkten Lids die Hand
auf deine, einen Seufzer lang, gelegt,
ward nicht das müde Herz dir schön erregt,
daß es die graue Erde grüner fand?
Von Trübsal lüstern überhauchte Scheibe
läßt uns im Dunst nur schwanke Schemen sehen,
und lichten Daseins Knospe schläft verhüllt.
Laß, Dichter, Tau auf Blumenlippen wehen,
damit ein Nachbild dem Gedächtnis bleibe,
das uns der Sehnsucht Starrkrampf nicht zerknüllt.
William Blake, The Angel
I dreamt a dream! What can it mean?
And that I was a maiden Queen
Guarded by an Angel mild:
Witless woe was ne’er beguiled!
And I wept both night and day,
And he wiped my tears away;
And I wept both day and night,
And hid from him my heart’s delight.
So he took his wings, and fled;
Then the morn blushed rosy red.
I dried my tears, and armed my fears
With ten-thousand shields and spears.
Soon my Angel came again;
I was armed, he came in vain;
For the time of youth was fled,
And grey hairs were on my head.
Der Engel
Mein Traum war tief. Was war sein Sinn?
Ein Mädchen war ich, Königin,
in Obhut eines Engels mild:
Mein eitles Leid ward stets gestillt!
Bei Nacht und Tag das Auge naß,
er trocknet es ohn Unterlaß.
Ich weinte immer, Tag und Nacht,
verbarg mein Herz, wenn es gelacht.
So schwoll sein Flügel, er entschwand.
Der Morgen glomm, ein Rosenbrand.
Mich tränenlos der Furcht zu wehren
griff ich nach tausend Schilden, Speeren.
Und als mein Engel wiederkam,
stand wehrhaft ich, er flügellahm.
Zerronnen war der Jugend Tau,
das Haar auf meinem Haupt war grau.
Entblößt
Die nichts zu sagen haben, werden schrill,
und die sich selbst belügen, müssen schreien.
Wie ist es in der hohen Nacht so still,
wenn Flocken, die nicht blenden, lautlos schneien.
Die dreist sich preisen, wickeln Talmigold
um kalte Stümpfe, abgestorbene Phrasen.
Sein achtend nicht, dem Götzendienst abhold,
läßt der Psalmist die Schar der Verse grasen.
Die Schminke meide, Dichter, und das Schnalzen,
auch knirscht das spitze Knie im Hinkjambus,
will dein Gerippe mit den Schönen walzen.
Auf hoher Schwelle wird der Engel zischen:
„Ein Spritzer ist dein Wort aus trübem Fluß,
ein Fleck ist es, vom Tisch des Herrn zu wischen.“
William Blake, Love’s Secret
Never seek to tell thy love,
Love that never told can be;
For the gentle wind does move
Silently, invisibly.
I told my love, I told my love,
I told her all my heart;
Trembling, cold, in ghastly fears,
Ah! she did depart!
Soon as she was gone from me,
A traveler came by,
Silently, invisibly
He took her with a sigh.
Liebesgeheimnis
Die Liebe immerdar verhüll,
verschwiegne Liebe, sie besteht,
denn sanfter Wind, wie schleicht er still,
und wie so unsichtbar er weht.
Ich hab mein ganzes Herz enthüllt,
hab alle Liebe ihr bekannt.
Erbebend, kalt, vor Grauen krank
ist sie von mir davongerannt.
Kaum daß sie mir entflohen war,
ist ein Zigeuner gleich gekommen,
wie still hat er und unsichtbar
mit einem Seufzer sie genommen.
Die Phänomene retten
Die Meinung gleicht dem frühen Wasserdunst,
verhüllte Wesen schwanken ohne Grenzen.
Erst wenn von Lichttau Blumenlippen glänzen,
ermißt du Goethes sonnenwahre Kunst.
Verfaulte Mythen kleben auf der Haut
der Dinge, anämisch dank verstopfter Poren.
Hat es den grauen Grind erst abgeschoren,
macht Dichterwort sie fremd und doch vertraut.
Das geile Meinen stutzend siehst du klarer.
Weichst du zurück, wird auch der Schatten weichen,
dein eigner. Rupf die Phrasen ab wie Kletten,
denn Rilkes Sinngrün machen sie erbleichen.
Dein selbst vergessend bist du der Bewahrer,
nur Demut kann die Phänomene retten.
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