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Philosophie und Grammatik V

05.05.2019

Aus der Lehre vom Satz

Warum, wäre man verleitet zu fragen, sind unsere Gedanken satzförmig oder laufen am Gängelband der Satzfunktion und warum scheinen gerade Sätze die gleichsam weich gefütterten Etuis für unsere Gedanken zu sein? Könnten sie nicht auch das harte Prokrustesbett darstellen, aus dem sie hervorstrampeln, und wir schneiden ihre überstehenden Teile ab, daß sie nur ja hineinpassen?

„Er hätte noch mehr sagen können, er hüllte sich aber in Schweigen.“ Hier wird von etwas ausgesagt, daß es nicht gesagt, von etwas Sagbarem gesagt, daß es verschwiegen wird. Dies ist nur scheinbar paradox; denn eine Kladde mit der Aufschrift „Geheimes Tagebuch“ läßt vermuten, dort stehe allerlei, was neugierigen und unwürdigen Blicken zu sehen nicht erlaubt ist – doch die Blätter hinter dem ominösen Titel könnten auch leer sein.

Wir können nicht denken, was wir nicht sagen können, und wir können das Undenkbare nicht sagen.

Die unverbundenen Worte „Regen“ und „Spaziergang“ drücken keinen Gedanken aus, die Wortverbindung „Spaziergang im Regen“ drückt keinen Gedanken, sondern eine Vorstellung aus, die Sätze „Es regnete und wir gingen spazieren“ sowie „Obwohl es regnete, gingen wir spazieren“ drücken Gedanken aus, der erste zwei innerlich nicht zusammenhängende, der zweite zwei innerlich zusammenhängende Gedanken.

Weder die Bedeutung von einfachen noch von komplexen Sätzen wie dem Satz „Obwohl es regnete, gingen wir spazieren“ ergibt sich aus der Verknüpfung von Vorstellungen, die mehr oder weniger sinnvoll zusammenpassen wie bei den Vorstellungsbildern „Regen“ und „Spaziergang“; denn mit der konzessiven Konjunktion „obwohl“ verbinden wir überhaupt kein Vorstellungsbild, ohne daß uns dies daran hinderte, den komplexen Satz „Obwohl es regnete, gingen wir spazieren“ zu verstehen.

Man sagt, der deutsche Satz „Es regnete und wir gingen spazieren“ habe dieselbe Bedeutung wie der englische Satz „It was raining and we went for a walk“, demnach müsse die Bedeutung etwas sein, was in beiden Fällen identisch ist, sich aber je nach Sprache oder Medium unterschiedlich manifestiere – ähnlich wie Wasser H2O ist, gleichgültig, ob es sich einmal als Regen, einmal als Schnee manifestiere.

Doch diese Erklärung der Satzbedeutung ist trügerisch, denn was Sätze meinen, ist keinem Objekt ähnlich, wie etwa die Person Peter, die wir mit seinem Namen benennen. Wäre die Bedeutung des deutschen Satzes „Es regnete und wir gingen spazieren“, ein Gegenstand, wenn auch ein abstrakter, wie die Formel H2O für alle Manifestationen dieses Stoffes, woher wüßten wir, daß die Bedeutung des entsprechenden englischen Satzes derselbe Gegenstand ist? Um zu entscheiden, daß beide Bedeutungen synonym sind, müßten wir die abstrakten Gegenstände, die ihre Bedeutung sein sollen, miteinander vergleichen, und ein dritter Gegenstand, dem sie wie ein Ei dem anderen glichen, müßte als Kriterium ihrer Identität herhalten; und so weiter ad infinitum.

Die Bedeutung von Sätzen ergibt sich weder aus der Verknüpfung von Vorstellungsbildern noch aus dem Bezug auf abstrakte Gegenstände; sie erhalten ihre Bedeutung erst durch ihre Einbettung in einen Anwendungskontext. So bedeutet der Satz „Es regnete und wir gingen spazieren“ genauso wie sein englischer Zwilling etwas anderes, wenn er als datierte Notiz eines Tagebuchs verwendet wird, etwas anderes, wenn er sich im fiktionalen Kontext einer literarischen Erzählung findet. Im ersten Fall kann sich der Tagebuchschreiber geirrt haben, weil er in Wahrheit nicht gestern, sondern vorgestern mit seinem Freund im Regen spazierenging; im zweiten Fall kann sich der Autor des Romans nicht irren, und der fiktionale Zusammenhang ließe es auch nicht zu, den Satz als irrig zurückzuweisen, weil einer herausgefunden zu haben wähnt, daß es in Wahrheit an dem betreffenden Tag, den die narrative Fiktion meint, nicht geregnet habe. Ein Kriterium unter anderen, die uns auf den Bedeutungsunterschied von Sätzen aufmerksam machen, ist demnach die vorhandene oder fehlende Geltung der Wahrheitsbedingung oder die logische Möglichkeit des Irrtums.

Betrachten wir folgende komplexe Sätze oder Satzverknüpfungen:

1. „Weil es regnete, blieben wir zu Hause.“
2. „Weil es regnete, schwoll der Bach an.“
3. „Weil Regen droht, fliegen die Schwalben niedrig.“

Satz 1 können wir so umformen: „Es regnete, und deshalb blieben wir zu Hause.“ Die adverbielle Bestimmung „deshalb“ zeigt den inneren Zusammenhang der beiden Sätze auf; die Tatsache, daß es regnete, war der Grund für uns, die Wohnung nicht zu verlassen. Für „Grund“ können wir auch sagen: Motiv, Beweggrund oder Anlaß. Wir können die Umformung noch weiter treiben und etwa formulieren: „Angesichts des Regens verwarfen wir die Absicht spazierenzugehen und blieben zu Hause.“

Der Grund ist nicht die Ursache für unser Verhalten; denn wir könnten auch trotz Regens unsere ursprüngliche Absicht verwirklichen und uns mit Regenschirmen bewaffnet nach draußen wagen. Wäre das schlechte Wetter die Ursache für unser Verhalten, hätten wir keine andere Wahl, als zu Hause zu bleiben. Doch dies sagt der Satz nicht.

Satz 2 können wir so umformen: „Es regnete und infolgedessen schwoll das Wasser des Baches an.“ Die Folge, die hier angesprochen wird, ist freilich keine logische Folge, sodaß wir etwa sagen müßten: „Immer wenn es geregnet hat, schwillt der Bach an“, denn es mag manchmal vorkommen, daß der Bach nicht anschwillt, obwohl es geregnet hat, oder daß der Bach anschwillt, auch wenn es nicht geregnet hat (und seine Quelle heftiger strömt).

Die Tatsache, daß der Bach anschwoll, so sagt uns der Satz, ist die Wirkung der Ursache des Regens; das den Nebensatz einleitende „weil“ ist demnach eine rein kausale Konjunktion. Das merken wir, wenn wir den Satz noch auf folgende Weise umformen: „Je mehr es regnete, desto mehr schwoll der Bach an.“

Die beiden Sätze 1 und 2 drücken demnach völlig verschiedene Gedanken aus, auch wenn die Gleichheit ihres grammatischen Baus diese semantische Tatsache verhüllt. Der erste macht uns mit dem Motiv bekannt, das uns dazu bewog, zu Hause zu bleiben; der zweite belehrt uns über die natürliche Ursache eines natürlichen Phänomens.

Es scheint, als könnten wir Satz 3 „Weil Regen droht, fliegen die Schwalben niedrig“ auf folgende Weise umformen: „Es droht Regen und aus diesem Grunde fliegen die Schwalben niedrig“; indes, die Tatsache, daß schlechtes Wetter im Anzug ist, bewegt oder beflügelt Schwalben nicht zum Tiefflieg. Auch mit der Umformung „Die Tatsache, daß Regenwolken im Anmarsch sind, bewirkt, daß die Schwalben niedrig fliegen“ kommen wir nicht weit, denn der mit einer Schlechtwetterphase verbundene niedrige Luftdruck bewirkt nicht den Tiefflug der Vögel, sondern drückt die Masse der Insekten Richtung Erdboden, und infolgedessen fliegen die Schwalben tief, denn Insekten sind ihre Hauptnahrung.

Weil der von unserem Satz suggerierte kausale Zusammenhang nicht gegeben ist, müssen wir ihn verwerfen und statt seiner korrekt formulieren: „Wenn Regen droht, fliegen die Schwalben tief.“

Manchmal sind wir geneigt, statt: „Weil es regnete, blieben wir zu Hause“ zu sagen: „Wenn es nicht geregnet hätte, wären wir nicht zu Hause geblieben.“ Doch verneinte Sätze im irrealen Konditionalis haben ihre Tücken, denn sie suggerieren uns einen inneren Zusammenhang der verknüpften Teilsätze, der in Wahrheit nicht vorhanden ist; denn wir hätten auch zu Hause bleiben können, auch wenn es nicht geregnet hätte. Die Verknüpfung der Gedanken, die jeweils vom Haupt- und vom Nebensatz ausgedrückt werden, ist in solchen Fällen, wider allen Anschein, kontingent oder rein hypothetisch wie in dem Satz: „Hätte er seine Geigenstunden nicht so sträflich vernachlässigt, wäre er bei seinem Talent heute Mitglied des Symphonieorchesters.“ Doch auch wenn er seine Geigenstunden immer brav absolviert hätte, wäre er vielleicht heute genau das, was aus ihm nun einmal geworden ist.

Mit der Konjunktion „weil“ oder „dadurch, daß“ eingeleitete Begründungssätze und Kausalsätze sind logisch weder symmetrisch noch transitiv, wie wir an folgenden Beispielen sehen: „Weil Sokrates der Lehrer Platons war und Platon der Lehrer des Aristoteles, war Sokrates der Lehrer des Aristoteles.“ Oder: „Weil Peter mit Hans befreundet ist und Hans mit Helga, ist Peter mit Helga befreundet.“ Oder: „Weil Wasser unter null Grad Celsius zu Eis gefriert und Eis aus Kristallen besteht, besteht Wasser aus kristallen.“

Weil die grammatische Form und die Verknüpfung der Gedanken in Begründungs- und Kausalsätzen oft intransparent und opak sind, müssen wir sie analytisch auflösen, um ihre Bedeutung ins rechte Licht zu setzen. „Weil Caesar den Rubikon überschritt, löste er einen Bürgerkrieg aus, der zum Ende der römischen Republik und der Entstehung der Monarchie führte.“ Der Satz enthält die logische Implikation: „Die Tatsache, daß Caesar den Rubikon überschritt, führte zur Entstehung der Monarchie.“ Doch dieser Satz ist falsch. Der unterstellte innere Zusammenhang kann intentional oder kausal verstanden werden: Caesar beabsichtigte mit der Überschreitung des Grenzflusses die Monarchie in Rom einzuführen; oder kausal: Caesar bewirkte durch den Marsch auf Rom die Entstehung der Monarchie. Doch weder konnte Caesar mittels der Überschreitung des Rubikon in Rom einen politischen Umsturz herbeiführen wollen noch konnte seine Handlung einen solchen zur Folge haben. Von dem komplexen Satz bleibt gültig nur der Teil: „Weil Caesar den Rubikon überschritt, löste er einen Bürgerkrieg aus“, und zwar gültig im zweifachen Sinne: der Absicht und der Kausalität.

„Weil der Sturm die Äste des Kastanienbaums schüttelt, fallen die Früchte zu Boden, und aus ihnen sprießen neue Triebe.“ Doch die logische Implikation, daß neue Triebe sprießen, weil der Sturm die Äste des Baums schüttelt, ist nicht gültig; denn neue Triebe wachsen auch aus den Früchten, die ohne die Wirkung des Unwetters von den Zweigen fallen.

Wir unterscheiden bei intentionalen und kausalen Zusammenhängen zwischen proximaler und distaler Wirkung und Folge; diesen Unterschied gilt es bei der Betrachtung und Analyse von Begründungs- und Kausalsätzen zu beachten. Der Satz „Weil er zu viel getrunken hatte, stolperte er über das Kästchen mit Briefen, das er lange nicht gefunden hatte“ impliziert nicht den Satz: „Weil er zu viel getrunken hatte, fand er das Kästchen mit Briefen.“

 

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