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Philosophie und Grammatik IV

04.05.2019

Aus der Lehre vom Satz

Mittels Analyse der Grammatik des Satzes entdecken wir Wesenszüge des menschlichen Geistes. Oder besser gesagt: Was wir denken und was wir sind, enthüllt sich uns bei der Betrachtung der Art und Weise, wie wir Sätze bilden und anwenden.

Was wir sind, können wir nicht entdecken, wenn wir den Schädel öffnen und ins Innere schauen; denn wenn einer sagt, dies hier ist die Hirnregion, mit der wir sprechen, hat er bereits vorausgesetzt, daß er weiß, was sprechen bedeutet, nämlich, das, was er gerade tat, ohne es kausal aus dem Wirken bestimmter Neuronen abgeleitet zu haben. Wenn einer glaubt, das Sehen damit zu erklären, daß er sagt: „Schau mal, dies hier ist das Sehzentrum!“, weiß er längst, was sehen bedeutet, nämlich das, was er gerade tut, beziehungsweise das, wozu er den anderen auffordert.

Die Grammatik des Satzes enthüllt uns, was wir meinen, wenn wir sagen: „Es regnet.“ Sie verknüpft das Neutrum des Personalpronomens im Singular mit einem Verb, das im Indikativ Präsens ein Ereignis benennt. Ob dieses Ereignis stattfindet oder nicht, verrät uns der Satz nicht, denn er könnte auch ein Übungssatz in einer Grammatik des Deutschen sein oder in der Deutschstunde an der Tafel stehen, während draußen die Sonne scheint. Der Satz an der Tafel bedeutet nicht, daß es hier und jetzt regnet, sondern er verweist als Beispielsatz und musterhaftes Exemplar auf eine Klasse von Sätzen mit ähnlicher Struktur wie „Es schneit“, „Es blitzt“, „Es donnert“, „Es geschah gegen Abend, daß …“, „Es verging kaum ein Moment, da …“, „Es klarte auf“, „Man mußte Schlange stehen“, „Man hätte nicht sagen können, ob …“, „Man hörte sagen“ und viele andere ähnliche.

Wenn der Übungssatz an der Tafel steht und es gleichzeitig zufälligerweise regnet, können wir nicht sagen, der angeschriebene Satz bedeute die Tatsache, die wir feststellen, wenn wir aus dem Fenster des Klassenzimmers blicken.

Wodurch erhält der Satz seine Bedeutung? Dadurch, daß er von der geeigneten Person in der richtigen Situation korrekt verwendet wird. Klappt einer seinen Regenschirm auf und sagt: „Es regnet“, während die Sonne scheint, sagen wir vielleicht, er sei exzentrisch oder verrückt.

Wir können also mit Sätzen (jedenfalls Sätzen der genannten Art) virtuelle Ereignisse benennen und wir benennen mit denselben Sätzen aktuelle Ereignisse, wenn wir sie in der geeigneten Situation anwenden.

Die Bedeutung des Satzes ist unabhängig von dem, was der Sprecher sich bei seiner Äußerung denkt oder vorstellt; denn wenn einer meint, „regnen“ bedeute das, was wir „schneien“ nennen, gehen wir wohl rechtens davon aus, daß der Sprecher des Deutschen nicht völlig mächtig ist, und weisen ihn darauf hin, daß der Satz „Es regnet“ nicht korrekt verwendet wird, wenn es schneit.

Ein anderer Wesenszug unserer Denkungsart oder Denkform zeigt sich darin, wie wir Sätze verbinden. Der Satz „Es regnet und wir gehen spazieren“ verknüpft zwei Vorgänge, die innerlich nicht zusammenhängen; denn wir können spazierengehen, ob es regnet oder schneit oder die Sonne scheint, und es mag regnen oder schneien oder die Sonne scheinen, ohne daß wir uns bemüßigt fühlen, das Haus zu verlassen.

Welche Bedeutung die Satzverknüpfung „Es regnet und wir gehen spazieren“ hat, ist mangels fehlenden Anwendungskontextes nicht ersichtlich. Er könnte beispielsweise von Peter, der während des Regens mit seinem Freund Hans spazierengeht, geäußert werden, um Hans auf die ungewöhnliche Tatsache aufmerksam zu machen, daß sie sich vom Regen haben nicht abschrecken lassen, einen gemeinsamen Spaziergang zu unternehmen; er könnte mit dem Satz auf die Innigkeit ihrer Freundschaft hinweisen, wenn die beiden womöglich unter einem Regenschirm einherwandeln.

Hieße der Satz oder die Satzverknüpfung: „Es regnete und wir gingen spazieren“, so haben wir einen Wechsel des Tempus zur Vergangenheitsform des erzählenden Imperfekts.

Es ist erhellend für unsere Art zu denken, daß wir sinnvolle Sätze und Satzverknüpfungen in allen Zeitformen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bilden können, deren Bedeutung virtuell ist oder gleichsam in der Luft schwebt und erst aktuell und somit beispielsweise wahrheitsfähig wird, wenn wir eine geeignete Anwendung eines solches Satzes finden.

Die Zeitformen schränken allerdings das Feld der bedeutungsverleihenden Anwendung unserer Sätze ein: Die Sätze „Es regnete“ und „Wir gingen spazieren“ sowie ihre Verknüpfung erhalten eine klare Bedeutung, wenn wir sie in ein Tagebuch notieren und mit ihnen festhalten, was gestern oder heute morgen geschah. Die hier gewonnene Bedeutung ist eine chronologische, annalistische oder historische, denn der Ausdruck „gestern“ beziehungsweise „heute morgen“ muß sich auf den vom Schreiber aus gesehen heutigen mit einem Datum versehenen Kalendertag beziehen.

Wären wir nicht gestern, sondern vorgestern im Regen spazierengegangen, beruhte die Tagebuchnotiz auf einem Irrtum, der leicht durch Nachschlagen im Kalender behoben werden könnte.

Nun betrachten wir folgendes: Der zusammengesetzte Satz „Es regnete und wir gingen spazieren“ steht nicht in einem Tagebuch und erhält seine Bedeutung solchermaßen nicht durch seine Einbettung in einen chronologischen oder annalistischen Kontext, sondern findet sich in einer Erzählung, einer Novelle oder einem Roman, kurz in einem fiktionalen Kontext.

Wie lesen und verstehen wir diesen Satz, dessen Bedeutung durch keine eindeutige Chronologie oder einen Kalender gesichert wird, der außerhalb des fiktionalen Rahmens, in dem er auftritt, Geltung beanspruchen könnte? Denn in der Erzählung mag es auch ein Gestern und Heute und Morgen geben, doch diese Zeitangaben beziehen sich auf die Perspektive des jeweiligen Protagonisten und diese stimmt nicht mit der unseren, der des Lesers, überein. Nur wenn es sich um einen historischen Roman im strengen Sinne handelt, können wir die in ihm enthaltenen Zeitangaben mithilfe unseres gewöhnlichen Kalenders verifizieren.

Wenn es im Roman heißt, daß es regnete, bezieht sich diese Angabe nicht wie bei der Tagebuchnotiz oder einem historischen Bericht auf ein aktuelles Ereignis; sie KANN demnach überhaupt nicht verifiziert, und wenn nicht verifiziert, so auch nicht falsifiziert werden.

Der Satz über ein fiktives Ereignis ist weder wahr noch falsch, er meint gleichsam nur sich selbst und hat somit einen ähnlichen logischen Status wie eine Tautologie oder eine Definition der Art „Wenn Peter Junggeselle ist, dann ist er unverheiratet“ oder auch wie der sprachliche Ausdruck einer Sinnesempfindung wie „süß“ und „bitter“, „grün“ und „blau“ oder einer Gemütsbewegung wie „zornig“ oder „traurig“. Aber dennoch wollen uns die Sätze einer fiktiven Erzählung etwas sagen, sie wollen uns etwas mitteilen; indes, sie teilen uns etwas mit, das wie eine Traumerzählung nicht bezweifelt und infragegestellt werden kann.

Hier treffen wir anhand der grammatischen Analyse auf einen singulären Wesenszug des menschlichen Geistes, der sich in der Anwendung scheinbar ganz normaler Sätze im gleichsam paranormalen Kontext der Fiktion enthüllt. Wir können von Pseudo-Gegenständen und Pseudo-Ereignisses reden und erzählen, und zwar in der gleichen Form von Sätzen, mit denen wir über gewöhnliche Gegenstände und Ereignisse berichten wie einen Spaziergang im Regen.

Sollen wir sagen, Sätze in fiktionalen Anwendungskontexten teilen uns mit, was hätte sein können, und beflügeln auf solche Weise unseren Möglichkeitssinn? Das wäre unrichtig; denn die normalen Anwendungskontexte von Sätzen über das, was möglich ist, schließen offenkundig alles aus, was unmöglich ist, und so auch beispielsweise zu sagen, wir hätten gestern im Regen spazierengehen können, wenn gestern die Sonne geschienen hat.

Es ist bemerkenswert, daß wir Sätze in fiktionalen Kontexten wie einem Roman, die das erzählende Imperfekt verwenden, dann mit Verständnis lesen, wenn wir sie nicht auf Ereignisse beziehen, die im Hinblick auf unsere aktuelle Gegenwart (da wir den Roman lesen) in der Vergangenheit liegen , sondern in der vergangenen Gegenwart der Erzählung ansiedeln: „Es regnete und wir gingen spazieren“ bedeutet, in der vergangenen Gegenwart der erzählten Zeit GEHEN die beiden im Regen spazieren.

Die lateinische Grammatik sieht für den Fall des Berichts über vergangene Ereignisse, deren Bedeutung der Leser sich verlebendigen und vergegenwärtigen soll, die Möglichkeit vor, ihr Tempus tatsächlich ins Präsens, das sogenannte historische Präsens, zu setzen.

Fiktionale Sätze sind keine gewöhnlichen Sätze, sondern gleichsam verstauchte oder verrenkte Sätze, die ihrer konventionellen Mitteilungsfunktion beraubt wurden und nun im Imaginären schweben, Sätze, mit denen wir den Raum des Unwahrscheinlichen erobern, in dem die Alltagsmoral unseres üblichen Sprechens wie die Wahrheitsbedingung, die Aufrichtigkeit, die Verpflichtung auf bestmögliche Begründungen und die konventionell geregelte Chronologie und Zeitenfolge vorübergehend, nämlich für die imaginäre Zeit der fiktionalen Erzählung, suspendiert ist.

Betrachten wir noch folgenden Satz beziehungsweise die Satzverknüpfung: „Es regnete, und trotzdem gingen wir spazieren.“ Er weist auf einen inneren Zusammenhang, der durch die konzessive Konjunktion „trotzdem“ Ausdruck findet. Wir könnten genausogut sagen: „Obwohl es regnete, gingen wir spazieren.“

Jetzt haben wir die Stufe einer entscheidenden Differenzierung oder Verfeinerung in der Grammatik des Satzes und damit einer Verfeinerung und Sublimierung unserer Denkungsart erreicht: die Verknüpfung eines Hauptsatzes mit einem durch eine Konjunktion eingeleiteten Nebensatz.

In diesem Falle handelt es sich wie gesehen um einen konzessiven Nebensatz, eingeleitet durch die Konjunktion „obwohl“, oder einen Nebensatz mit einschränkendem Sinn. Es ist erhellend, daß die lateinische Grammatik in solchen Fällen, wenn Haupt- und Nebensatz einen inneren Zusammenhang wie den der Begründung („weil“) oder der Einschränkung („obwohl“) zum Ausdruck bringen, die Verwendung des Konjunktivs für das Verb des Nebensatzes, das gewöhnlich mit „cum“ eingeleitet wird, vorschreibt. Wir müßten daher etwa schreiben: „Cum pluat deambulamus“ zum Ausdruck der Zeitgleichheit in der Gegenwart oder zum Ausdruck der Zeitgleichheit in der Vergangenheit: „Cum pluverit deambulavimus.“

Die Analyse der grammatischen Satzverknüpfung innerlich zusammenhängender Sätze enthüllt uns gewisse Züge unserer Art zu denken und gedankliche Verbindungen herzustellen. Denn der Satz: „Es regnete zwar, dennoch gingen wir spazieren“ oder „Obwohl es regnete, gingen wir spazieren“ hat andere Anwendungsbedingungen und drückt einen anderen Gedanken oder eine andere Bedeutung aus als der Satz: „Während es regnete, gingen wir spazieren.“ Im konzessiven Zusammenhang könnte beispielsweise unausgesprochen ein Gedanke mitschwingen oder angedeutet werden, der im rein temporalen nicht enthalten ist: Eigentlich ist es nicht ungewöhnlich, bei Regen gemütlich im Trockenen zu sitzen; doch wir sind anders gestrickt und aus anderem Holz geschnitzt, wir trotzen Wind und Wetter und bezeigen unser freundschaftliche Nähe, indem wir unter einem Regenschirm Arm in Arm einherwandeln. Doch könnte der Satz im Munde eines Kinds, das gezwungen ist, den Eltern trotz Regens bei ihren täglichen Gängen im Grünen zu folgen, Gängen, die nun einmal auf dem Programm solcher Gesundheitsfanatiker stehen, ob es regnet oder hagelt, eine ganz andere, ja gegensätzliche Bedeutung annehmen.

 

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