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Philosophie und Grammatik II

02.05.2019

Mit der Möglichkeit der Substantivierung des Verbinfinitivs, die auf der einen Seite zu fruchtbaren Begriffsbildungen geführt hat wie „das Wandern“, „das Weinen“, „das Verstehen“, „das Benehmen“, „das Versprechen“, „das Bereuen“ oder „das Vergehen“, haben sich auf der anderen Seite dem Denken auch dornige und labyrinthische Irrwege aufgetan, von denen uns nur sprachliche Besinnung auf den Pfad der Vernunft zurückbringt.

Du hast dem Freund das Geschenk überreicht und er lächelt; du siehst ihn lächeln und auf die Frage, welchen Gesichtsausdruck du wahrgenommen hast, sagst du, ein Lächeln. Doch du könntest nicht beschreiben, was der Ausdruck meint, könntest ihn nicht definieren. Aber sobald du wieder solch ein strahlendes Gesicht siehst, erkennst du das Lächeln.

Das Lächeln ist schlicht der Gesichtsausdruck und das Mienenspiel, das wir in allen Fällen als solches bezeichnen, wenn einer lächelt. Doch der eine lächelt sanft, der andere kess, der eine verschmitzt, der andere verlegen. Wenn wir die unterschiedlichsten Arten des Lächelns mit demselben Wort bezeichnen, meinen wir dann stets dasselbe oder etwas, das in jeder Art dasselbe ist? – Auf solche Weise werden wir zu der „philosophischen“ Frage nach dem Wesen des Lächelns gebracht oder verleitet; denn was immer als dasselbe in den unterschiedlichsten Variationen seines Erscheinens sich durchhält und gleichsam im Hintergrund anwest, gilt uns ja philosophisch betrachtet als das Wesen der Sache.

Freilich sind wir in einem Falle geneigt zu sagen, einer lache, im anderen einer grinse, feixe, griene oder schmunzle. Und ist es im Grunde dasselbe Lächeln, wenn wir sagen, daß der eine aus Verlegenheit lächle, der andere aber ironisch, nur weil wir beides Lächeln nennen?

Gibt es eine haarscharfe Grenze zwischen Lächeln und Lachen oder ist es nicht eher ein fließender Übergang, sodaß wir manchmal nicht zu sagen wissen, ob einer lächle oder lache? Der Unterschied ist nicht immer so sichtbar und offenkundig wie in den Fällen, wenn wir sagen, der eine lächle still vor sich hin, der andere lache aus vollem Halse. Das breite Lachen kann in ein verhaltenes Lächeln übergehen. Sehen wir die Schwelle, wo das eine in das andere übergeht?

Wir sagen: Es muß doch einen Wesensunterschied zwischen Lachen und Lächeln, zwischen Lächeln und Grinsen geben und dieser Unterschied hat seine Ursache in den unterschiedlichen physischen Phänomenen des jeweiligen Gesichtsausdrucks, in dem physiognomischen Anteil der Gesichtsnerven und der Anspannung der Gesichtsmuskeln an Augen, Wangen und Mund. – Doch das gemalte Lächeln der Mona Lisa und das geschnitzte oder getöpferte Grinsen der Zwergenfigur aus Holz oder Ton, aber auch das imaginäre Lächeln einer Traumerscheinung erkennen wir durchaus, ohne daß uns Muskeln und Nervenfasern zu Hilfe kämen.

Man hört oft auch sagen, das Lachen und Lächeln seien Wirkungen gewisser Hirnvorgänge, und diese verliefen jeweils nach ähnlichen physiologischen und elektrochemischen Mustern ab, wir aber seien darauf konditioniert, diese zu erkennen, weil uns die Evolution, die große Lehrmeisterin, gelehrt habe, bei einem freundlichen Gesicht fänden wir Schutz, vor dem finsteren müßten wir uns in Acht nehmen. – Hier könnten wir wieder antworten: Ja, gewiß, doch das kleine Kind erfreut das Lächeln, die Attrappe eines Lächelns, an der Puppe, und in deren Kopf ist Stroh; ja, das kleine Kind schrickt nicht zurück, sondern delektiert sich am bösen Grinsen der Teufelspuppe im Kasperltheater.

Von jenen, denen Tränen aus den Augen rinnen, sagen wir, daß sie weinen. Doch einen allgemeinen oder Wesensbegriff des Weinens will uns nicht einleuchten. Jenem kullern die Tränen über die Wangen, weil er scharfe Zwiebeln schneidet, das kleine Mädchen heult los, weil seiner Lieblingspuppe der Arm gebrochen ist, der Genesende tritt in den glitzernden Tau des Frühlingsmorgens und sein Auge wird feucht, der Depressive beneidet den Freund um die Tränen, die ihm beim Anhören des Requiems von Mozart kommen, der Liebhaber läßt sich von den falschen Tränen der Geliebten nicht beeindrucken, und der Dichter nennt die weichen Tränen trügerisch und diebisch, weil sie ihm das Gedächtnis an das Schöne, dessen Verlust ihn weinen machte, auszulöschen drohen.

Nun aber: Denken und Sein. Als könnten wir die semantisch-grammatische Mannigfaltigkeit all der Anwendungen von „denken“ wie der Botaniker die vielen Arten von Moosen in eine Gruppe oder wie der Zoologe die Menschenaffen in eine Familie zusammenfassen. Doch wenn wir an ein Ereignis zurückdenken, erinnern wir uns, wenn wir daran denken, dem Freund ein Geschenk zu machen, beabsichtigen wir, etwas zu kaufen, wenn wir denken, es sei heute ein Feiertag, es ist aber ein Werktag, haben wir uns geirrt, wenn wir nicht daran dachten, die Geldbörse oder den Regenschirm mitzunehmen, haben wir etwas vergessen, und wenn wir denken, im Kühlschrank müsse es noch ein Bier geben und wir öffnen ihn und finden die Flasche, haben wir etwas Wahres gedacht.

Die Täuschung, Denken müsse etwas Einheitliches sein und stets auf dasselbe hinauslaufen, ist das Ergebnis der Fixierung und des Starrens auf ein logisch-grammatisches Bild: das Bild als Abbild dessen, was wir denken, des gedachten Gegenstandes im Denkerlebnis oder der Vorstellung und im sprachlichen Ausdruck des Denkens, der Aussage. Der gedachte Gegenstand wird zum Bild des Gegenstands und dieses wird faßbar in seinem Namen oder er wird zum Bild der Tatsache und diese wird faßbar in der wahren oder falschen Kombination von Namen, dem Wahren oder Falschen.

Doch denken wir an die Freude und das Glücksempfinden, die uns ein unverhofftes Wiedersehen bescherte, haben wir dann eine Vorstellung von dieser Freude, ein Bild jener glücklichen Empfindung vor dem geistigen Auge? Wenn wir sagen, Hans steht zwischen Peter und Helga, haben wir dann ein Bild von dieser Relation „zwischen“ im Kopf, und wenn wir die Ähnlichkeit zwischen Peter und Hans bemerken, ein Bild dieser Ähnlichkeit?

Die Grammatik unserer Verwendung von Ausdrücken der Gemütsbewegung, von Relationen und Ähnlichkeitsbeziehungen ist nicht die Grammatik der Verwendung von mentalen Bildern und Vorstellungen.

Es waren, stellte er mit Bedauern fest, schon viele Tage verstrichen, seit er sie zum letzten Mal gesehen hatte. – Von Zeitspannen haben wir genausowenig wie von räumlichen Abmessungen (der Abstand zwischen Erde und Saturn) und anderen Maßeinheiten wie Temperatur, Geschwindigkeit, Masse oder Kraft eine Vorstellung, ohne daß uns dies daran hinderte, an sie zu denken oder über sie nachzudenken. – Doch können wir uns nicht in Form von Diagrammen ein Bild der vermessenen Tatsachen machen? Wir können die Temperatur an der Skala in Celsius ablesen, aber genausogut in Fahrenheit, und diese sieht ganz anders aus. Wir können das Gemessene in Zahlen und die Weise ihrer Berechnung in mathematischen Formeln ausdrücken. Doch wenn wir kopfrechen, dann ohne uns eines Bilds der Zahlen zu bedienen; und die mathematischen Formeln sind keine Bilder, sondern Anweisungen oder operationale Vorschriften, wie wir mit den eingesetzten Werten zu verfahren haben.

Wir können uns mehr vorstellen und denken, als es an empirisch überprüfbaren Tatsachen gibt, beispielsweise Mythen von Göttern und übermenschlichen Heroen oder Märchen, in denen Zwerge, Riesen, Feen und Einhörner herumtollen; und es gibt mehr an Dingen und Tatsachen, als wir uns vorstellen können, beispielsweise psychotische Zustände oder schwarze Löcher.

Die Welt der Fiktionen ist nicht minder wirklich als die Welt von Autos, Kühlschränken und Waschmaschinen. Das Eintauchen in die phantastischen Welten der Märchen oder der isländischen Sagen kann uns ebenso erregen und beglücken wie eine abenteuerliche Wanderung durch exotische Gefilde. – Wir haben kein eindeutiges Kriterium für das, was Philosophen die Wirklichkeit oder das Sein nennen, und wir benötigen keins. Das läuft auf dasselbe hinaus, wie zu sagen, wir können den Begriff der Wirklichkeit entbehren.

Es gibt keine einheitliche Methode oder Regel des Denkens, etwa nur wohldefinierte Begriffe zu benutzen und ihre eindeutigen Relationen in logischen Ableitungen darzustellen; denn die Definitionen münden im Unbestimmten und die logischen Ableitungen enthalten ein konventionelles Moment, beispielsweise die Entscheidung darüber, ob wir den Satz vom ausgeschlossenen Dritten akzeptieren oder nicht.

Das, was wir tun, sagen und denken, kann nicht vollständig in Regeln oder Algorithmen erfaßt werden. – Daher können wir keine digitalen Maschinen programmieren, die uns vollständig simulieren könnten, denn solche Maschinen verfahren allein aufgrund vorgegebener algorithmischer Regeln.

Mit den Regeln und Methoden des Denkens ist es wie mit den Schwimmhilfen für Kinder; am Anfang brauchen sie die Hilfen, um nicht unterzugehen, später können sie schwimmen und benötigen sie nicht mehr.

Sicher, der Maler hat im akademischen Unterricht gelernt, wie er Farben zubereitet und mischt, wie er nach Modellen und Aussichten auf Landschaften und Gebäuden perspektivisch zeichnet, wie er mit geschicktem Farbauftrag die Illusion von Licht und Schatten erzeugt; doch wenn er ausgelernt hat und frei seinem Impuls nachgibt, gehorcht er keinen expliziten Regeln, wenn er den Stift oder den Pinsel über die weiße Fläche führt. Ebenso der Musiker, der all das, was er in der Schule über Harmonielehre oder Kontrapunkt gelernt hat, nicht nach expliziten Regeln anwendet, wenn er seinen Einfällen freien Lauf läßt. Nicht anders der Dichter, der die Verslehre, die Lehre von den Tropen, Bildern und Metaphern nicht stur nach Regeln anwendet, es sei denn, was dabei herauskommt, ist ein monotones, ermüdendes und farbloses Wischiwaschi, ähnlich dem, was Computerprogramme ausspucken, wenn sie die ihnen eingetrichterten Algorithmen ohne jegliche Inspiration anwenden.

Keine Theorie kann das menschliche Leben erklären oder uns in dem, was uns angeht, auf die Sprünge helfen: bei wichtigen Verbindlichkeiten oder der sittlichen Ordnung wie im gemeinschaftliche Leben mit Freunden, Kollegen und Partnern und all den Entscheidungen, die sie an uns herantragen. Gehe ich diesen oder jenen Weg? Wir können die Vorteile und Nachteile abwägen, über die Chancen und Risiken grübeln; aber wir müssen die Gunst der Stunde oder den Kairos nutzen und – den entscheidenden Schritt tun.

 

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