Objektivität und Wahrheit VII
Grundlinien einer Kritik des erkenntnistheoretischen und kulturalistischen Relativismus
Unsere Überlegungen und Gedanken sind eingebettet in unsere Lebensfunktionen – nur aus diesem Grunde können sie wahr oder falsch sein. Wären sie von jedem Lebensboden abgeschnitten und hingen gleichsam in der Luft, wüssten wir nicht zu sagen, an welcher Stelle wir unsere Gedanken überprüfen könnten. Es wäre seltsam anzunehmen, dass die Tatsache des Zusammenhangs unserer Gedanken mit unseren Lebensbedingungen ein Argument gegen die Möglichkeit ihrer Wahrheit darstellen könnte.
Du fragst dich ja nicht, mit welcher Bahn du am schnellsten in die Innenstadt gelangst, weil du keinen besseren Zeitvertreib hast, als topographische Rätsel zu lösen. Du hast vielmehr in der Innenstadt eine Verabredung, zu der du nicht zu spät kommen willst. Nun klärst du die Lage, indem du anhand geeigneter Modelle und Hilfsmittel deine Überlegungen zur Lösung der Frage anstellst: Du checkst die Verkehrsführung und das U-Bahnnetz auf einem möglichst aktuellen Stadtplan. Du recherchierst auf Google-Map. Du blätterst in einem offiziellen Fahrplan der städtischen Verkehrsbetriebe und findest die Bahnlinie, die dich von deinem Ausgangspunkt am schnellsten zum Zielpunkt bringen wird.
Es leuchtet ein, dass du viel Wissen in diese eine Überlegung einbringen musst, wie du am schnellsten von A nach B kommst. Du musst Karten und Stadtpläne lesen können. Dazu wiederum musst du ein Modell von dem unterscheiden können, was es abbildet. Du verstehst es, mit Maßstäben umzugehen, und weißt, dass die abgebildete Strecke um eine bestimmte Proportion zur realen Strecke verkürzt und extrem idealisiert dargestellt ist. Du verstehst dich auf Chronometrie und weißt, dass beim Fahrplan die Abfahrts- und Ankunftszeiten jeweils untereinander aufgelistet werden. Du musst deine Überlegung so weit führen, dass du dich für eine bestimmte Abfahrtszeit einer bestimmten Bahn an einem bestimmten Bahnsteig entscheidest und gemäß dieser Entscheidung all deine Aktionen koordinierst, indem du rechtzeitig das Haus verlässt und dir eine Fahrkarte vor Ort ziehst und schließlich in die richtige Bahn einsteigst, die du an der Ausschilderung zu identifizieren in der Lage bist.
Wenn du up to date mit der modernsten Technik bist und über den Navigator deines Smartphones über Daten des globalen Satellitensystems GPS verfügen kannst, magst du dich von der digitalen Stimme des Handys von deinem Ausgangspunkt zu deinem Zielpunkt führen lassen. In diesem Falle setzen deine Überlegungen, die dir zur Orientierung dienen, die Mathematik von Euklid bis Riemann und die Physik von Archimedes bis Einstein voraus.
Wir sehen, unsere Überlegung hat einen Anlass und Grund (die Frage nach der besten Zielerreichung) und einen Abschluss (die Entscheidung, das oder jenes zu tun, zum Beispiel die U4 um 13 Uhr 15 an der und der Station in der und der Stadt zu nehmen) sowie eine innere Struktur, die wir durch Angabe der verwendeten Methoden und Verfahren wie Modellen oder Karten beschreiben können. Unsere Überlegung kann nur richtig oder falsch sein, wenn sie eine Überlegung hinsichtlich des gegebenen Anlasses und Grunds und mit der geeigneten Entscheidung ist. Das gilt auch für die innere Struktur: Wenn wir ungeeignete Methoden und Verfahren verwenden, kommen wir nicht zum Ziel und unser Denken verliert sich im Ungefähren. Wir müssen zum Mindesten ein Analogon zu unseren Karten oder Zeitmessern benutzen, um bei Fragen zur Orientierung in Raum und Zeit klarzukommen.
Wenn uns nun einer mit der scheinbar aufrüttelnden und kühnen These kommt, das zur Struktur unserer Überlegungen Ausgeführte gelte nur für UNSERE Art zu überlegen und zu denken, für UNS als Bewohner des westlichen Kulturraums mit seinen modernen Verkehrssystemen und Bildungseinrichtungen, gelte nur für Leute, die sich auf abstrakte Verfahren der Raum- und Zeitmessung verstehen – führt er uns mit dieser Frage an den Rand des Abgrunds, in dem sich uns die vollständige Kontingenz und Unvergleichbarkeit der Denkweisen unterschiedlicher Kulturen offenbaren? Oder sagt er uns nichts weiter als eleganten Unsinn und schicke Sottisen, mit denen eingebildete Eierköpfe auf Partys Seminaristinnen beeindrucken möchten?
Schauen wir uns an, wie Menschen ohne unsere Kulturtechniken wie Karten und Uhren mit ihrer Situation klarkommen. Nehmen wir an, es ist etwas Wahres dran an dem, was Bruce Chatwin über die Traumpfade oder Songlines der Ureinwohner Australiens herausgefunden zu haben glaubte. Ohne Mythenbeschwörung sehen wir eines deutlich: Die Nomaden weit diesseits unserer Zivilisation haben sich kultureller Techniken der Orientierung in Raum und Zeit bedient, die zum Mindesten ein entferntes Analogon zu unseren Karten und Uhren darstellen. Ihre Lieder besingen die Schöpfung der ursprünglichen Natur, und in den tatsächlich gegebenen und auffindbaren Felsen, Hügeln und Quellen der Landschaft finden sie die Spiegelbilder dieser Schöpfung, die vor Urzeiten stattfand, aber jetzt in ihrer aktuellen Erfahrung verlebendigt wird. Sie singen Lieder, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden, und finden hier in dem Felsen und dort in der Quelle die wichtigen Themen, die ein solches Lied enthält. Gleichzeitig identifizieren sie in den beschriebenen Landmarken die Zielobjekte, die sie mit ihrer Wanderung erreichen wollen – und auf diese Weise auch meist erfolgreich erreichen.
Erinnern wir uns an die Schnitzeljagden unserer Kindheit: Da ging es in nuce um dasselbe. Wir markierten die Pfade für diejenigen, von denen wir wünschten, dass sie uns nachfolgten und uns wiederfänden, durch abgebrochene Zweige, Bindfäden oder Papierschnipsel. Dabei gewahren wir auch die Störanfälligkeit solch primitiver Orientierungssysteme: Diese Papierschnipsel könnten zufällig herbeigeweht worden sein, jene Zweige von einem Gegner in unserem Jagdspiel, der uns in die Irre führen will, geknickt worden sein. Wenn wir die Zeichen falsch zuordnen oder missverstehen, gelangen wir nicht ans Ziel.
Wer demnach annimmt, die Aborigines verfügten über Orientierungssysteme und von ihnen geprägte mythische Denkweisen, die uns prinzipiell fremd und unzugänglich bleiben müssen, verkennt nicht nur die Leistung europäischer Ethnologen bei der rationalen Rekonstruktion dieser Orientierungssysteme. Er verkennt auch die Universalität der menschlichen Situation, die durch die Tatsache konstituiert wird, dass wir unabhängig von der jeweiligen kulturellen Umgebung Lebewesen sind und bleiben, die aufgrund ihres körperlichen Daseins in die Grundstrukturen von Raum und Zeit integriert und deshalb darauf angewiesen sind, durch geeignete Methoden und Verfahren sich in diesen Strukturen zu orientieren, um jene Lebewesen, Objekte und Situationen zu meiden, die uns schaden, und jene Lebewesen, Objekte und Situationen aufzusuchen, die unser Leben heute oder morgen erleichtern können.
Hätte das Orientierungssystem der Ureinwohner Australiens in ihren alten Liedern kein Gran Objektivität in sich, dann wären sie schon längst ausgestorben, lange bevor der weiße Mann ihnen das Leben schwergemacht hat. Was meinen unsere hartgesottenen Relativisten also, wenn sie von der Inkompatibilität der Denkformen grundlegend verschiedener Kulturen reden? Nun, sie sind von einem Trug-Bild der Sprache gefangen und obsediert. Und diese Obsession übertragen sie auf alle Bereiche der Kommunikation und Erkenntnis. Das Trug-Bild ist das naive Bild der privaten Zuordnung von Bedeutungen an Laut- und Vorstellungsbilder in unserem vermeintlich nach außen hermetisch abgedichteten Raum des Bewusstseins: Wenn WIR unsere Empfindung dieses Rottones „Ui“ nennen könnten, was könnten JENE nicht alles Abenteuerliches anstellen, das unsere Vorstellungen weit übertrifft! Aber wir wissen ja nicht, ob wir bei nächster Gelegenheit diesen neuen Rotton mit derselben Bedeutung ansprechen sollen! Wie wenig dann aber auch JENE!
Das Bild des privaten Bewusstseins mit seinen privat etablierten Bedeutungen führt in die Irre und Relativisten zu falschen Annahmen. Wenn das Mentale aber öffentlich ist, können wir die Zuordnung von Bedeutungen in gewissen Grenzen kontrollieren und nachvollziehen. Deshalb sind wir in der Lage, andere Sprachen – und seien sie noch so exotisch wie die Sprache der Ureinwohner Australiens – zu erlernen und zu verstehen, was ihre Sprecher damit ausdrücken, Leute, die nicht wissen, was ein Smartphone, das GPS, die nichteuklidische Geometrie oder die Relativitätstheorie ist.
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