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Objektivität und Wahrheit VI

25.01.2015

Grundlinien einer Kritik des erkenntnistheoretischen und kulturalistischen Relativismus

Wir gelangen zu wahren Sätzen auch ohne die Umwege von Verfahren der Objektivierung, rationalen Begründung oder logischen Ableitung. Dabei handelt es sich um augenscheinliche oder unmittelbar einsichtige, das heißt evidente Sätze über unsere Gedanken und unsere Existenz. Wir nennen solche Phänomene, die uns ohne großes Nachdenken von selbst einleuchten und einsichtig sind, Selbstevidenzen.

Selbstevident ist uns die Tatsache, dass wir hier und jetzt in dieser Umgebung existieren und dass wir einen sogenannten intentionalen Inhalt unseres Denkens, Fühlens, Empfindens und Wollens unmittelbar auffassen. Wenn du an deinen Freund denkst oder dich deprimiert fühlst oder ein Kribbeln im Magen spürst oder den Wunsch hast, spazieren zu gehen, ist es sinnlos zu fragen, ob du dir auch sicher und gewiss über diese intentionalen Inhalte deines Denkens, Fühlens, Empfindens und Wollens bist.

Selbstevidenzen liegen auch bei Sprechhandlungen vor: Wenn du behauptest, dass es regnet, oder mir versprichst, mich morgen zu besuchen, oder wahrheitsgemäß angibst, meinen Namen vergessen zu haben, dann wäre es töricht von mir, deine Äußerungen in Frage zu stellen. Wenn es deiner Behauptung zuwider nicht regnet, kann ich dich gewiss darauf hinweisen, dass du etwas Falsches behauptet hast, aber sowohl dir wie mir ist evident, dass du jene Behauptung geäußert und jenen intentionalen Inhalt aufgefasst hast.

Schon dieses Beispiel zeigt, dass sich Selbstevidenzen nicht auf sogenannte Tatsachen des Selbstbewusstseins beschränken müssen. Versprechen ist eine bisweilen durch Konventionen abgesicherte öffentliche Handlung, deren Evidenz sich eben daraus ergibt, dass sich ihre Erfüllungsbedingungen außerhalb des scheinbar verschlossenen Bewusstseinsraumes befinden: Wenn du dein Versprechen nicht einlöst, obwohl dich nichts daran hindert, können wir zurückfragen, ob du deine Sprechhandlung mit der nötigen Einstellung der Aufrichtigkeit bekundet hast. Ist dies nicht der Fall, ist evident, dass du die Handlung nicht regelkonform ausgeführt oder nur so getan hast, als würdest du etwas versprechen.

Allerdings sind bestimmte Bezugnahmen auf intentionale Inhalte nicht selbstevident. Wenn du äußerst, dich daran zu erinnern, Fritz vorgestern im Park gesehen zu haben, ist nicht evident, ob du dich tatsächlich daran erinnerst oder es dir bloß so vorkommt, als würdest du dich daran erinnern. Ob die Erinnerung wahrheitsgemäß ist, können wir nur unter der zusätzlichen Annahme von Kriterien entscheiden. Eine Zeugenaussage eines glaubwürdigen Augenzeugen wäre ein solches Kriterium.

Jemand hat viele Jahre an einem Ort gelebt, dort als Lehrer in der Grundschule gearbeitet, eine Familie gegründet, einen Freundeskreis gepflegt und war Mitglied verschiedener Vereine. Für die Person selbst und alle, die sie gut kennen, sind diese Tatsachen augenscheinlich. Würde nun jener Mensch sich zu fragen beginnen, ob er all dies nicht geträumt habe und die genannten Begebenheiten Teil eines großen Irrtums sind, würden wir ihm nicht die Berechtigung zu solchen Zweifeln attestieren, sondern vermuten, dass er beginnt den Verstand zu verlieren.

Selbstevidenzen der Existenz nennen wir fundamentale Annahmen wie die folgenden: die Annahme, ein Mensch zu sein, zu leben, jung oder alt zu sein, männlichen oder weiblichen Geschlechts zu sein, diesen oder jenen Beruf auszuüben oder sich in einem bestimmten Land und einem bestimmten Ort auf der Erde aufzuhalten. Hartnäckige Zweifel an einer oder mehreren solcher fundamentalen Annahmen pflegen wir nicht als Zeichen relativistischen Scharfsinns, sondern eines zerrütteten Verstands anzusehen. Menschen in solchen betrüblichen Lagen können meist nicht durch empirische Belege oder logische Beweise vom Gegenteil überzeugt werden, sondern in günstigen Fällen durch therapeutische Verfahren.

Wir bemerken, dass Aussagen, die sich nicht auf Verfahren der Objektivierung unserer Wahrnehmung berufen und stützen, deshalb nicht ohne Evidenz im luftleeren Raum schweben müssen. Sie erhalten ihre Rechtfertigung nicht durch die objektivierende Feststellung der Wahrheit des Ausgesagten, sondern durch ihren unmittelbaren Bezug zu der Person, die die Aussage macht. Wenn du Sätze beginnst mit „Ich denke“, „Ich fühle“, „Ich empfinde“, „Ich will“, wissen wir, dass du unter normalen Umständen dich auf den intentionalen Inhalt eines Gedankens, eines Gefühls, einer Empfindung oder eines Wunsches beziehst, gleichgültig ob der mitgeteilte Inhalt wahr oder falsch ist. Das ist es, was wir evident oder selbstevident nennen.

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