Objektivität und Wahrheit V
Grundlinien einer Kritik des erkenntnistheoretischen und kulturalistischen Relativismus
Wir erläutern, in welchem Maße und auf welche Weise wir zur Wahrheit, das heißt zur Möglichkeit wahrer Aussagen, gelangen, indem wir unsere Wahrnehmungen durch Anwendung von Methoden der Metrik und der Modellbildung oder der Simulation objektivieren. Dabei gelangen wir zu dem wichtigen Ergebnis, dass der Unterschied zwischen physikalischen und phänomenalen Modellen und Messungen (auch Unterschied zwischen primären und sekundären Qualitäten genannt) sowie der Unterschied zwischen Modellen der dinglichen oder gegenständlichen Welt und Modellen der sozialen Welt nicht die Relevanz und Bedeutung haben, die ihnen gewöhnlich zugesprochen werden.
Wir ertasten mit der Hand und insbesondere den sensorischen Nerven der Hand die Differentialfelder von Größe und Volumen eines Objekts, Kälte und Wärme, Härte und Weichheit, Trockenheit und Feuchtigkeit. Wir erfassen die Kapazität unseres sensorischen Systems, kleine und kleinste Differenzen und Nuancen unserer Wahrnehmungen abbilden zu können. Dieser Kieselstein ist größer, kälter, härter und trockener als dieser Lehmklumpen, der unförmiger, wärmer, weicher und feuchter in der Hand liegt. Wenn wir von der Existenz dieser beiden Gegenstände im Raum ausgehen, können wir unmissverständliche Anweisungen geben, indem wir etwa sagen: „Ergreife das kältere Objekt!“ oder „Bring mir das feuchtere Ding!“ Wenn wir den Raum mit dem kartesischen Koordinatensystem versehen, können wir die wahre Aussage bilden: „Der wärmere Gegenstand liegt auf dem geometrischen Ort mit den Koordinaten x1, y1, z1.“ Oder: „An dem geometrischen Ort mit den Koordinaten x2, y2, z2 findest du das größere Ding.“ Wir können also auf der Basis unserer phänomenalen Wahrnehmung Dinge im Raum durch Kennzeichnung ihrer Raumkoordinaten identifizieren und individuieren und wahre Aussagen über die Gegenstände unserer Wahrnehmungen bilden, indem wir sie durch Messverfahren objektivieren.
Wenn wir in einer Kiste fünf Steine verschiedener Art und Größe finden, können wir diese Objekte zählen, auch wenn wir nicht über die Metrik der natürlichen Zahlen verfügen, indem wir jeden Stein einem Finger unserer Hand zuordnen: Damit individuieren wir die Steine, denn wir können sagen: „Das ist der Daumen-Stein, das ist der Zeigefinger-Stein usw.“ Und wir können die Anzahl der Steine angeben und auf die Frage „Wie viele Steine liegen in der Kiste?“ unsere rechte Hand hochheben zum Zeichen, dass die Anzahl identisch ist mit der Anzahl der Finger einer Hand.
Nicht nur die Tastwahrnehmung kann durch Anwendung von metrischen Modellen objektiviert werden: Diese Möglichkeit gilt für alle sensorischen Systeme, soweit sie in der Lage sind, Differentialfelder der Wahrnehmung darzustellen. Natürlich können auch die metrischen Modelle der einzelnen Sensoriken miteinander abgeglichen und koordiniert werden: So können wir jedem unserer Steine einen Ton der wohltemperierten Tonskala zuordnen und dann die Anweisung geben: „Reiche mir den a-Stein!“ Oder: „Bringe mir den fis-Stein!“
Die Vorstellung, wir seien in der phänomenalen Welt eingeschlossen wie in einem Kino, in dem vor uns ein Film abläuft, dessen Figuren und dessen Plot in der Realität keine Entsprechung finden (das platonische Höhlengleichnis), ist die Urfabel der relativistischen Position und sie ist von Grund auf verfehlt. Denn wir selbst sind ja Teilnehmer und Akteure im Geschehen und wir nehmen nicht nur selbst unsere Umgebung wahr, sondern werden auch wahrgenommen – und insbesondere werden unsere Wahrnehmungen, Aktionen und Behauptungen von den Teilnehmern unserer Interaktionen und Kommunikationen in Frage gestellt, falsifiziert oder korrigiert. Wenn du mir auf meine Bitte nicht wie gewünscht den kälteren Stein oder den fis-Stein bringst, sondern einen anderen Stein, werde ich dich auf dein Versehen aufmerksam machen und deine Wahrnehmungsleistung korrigieren. Wenn ich ausrufe: „Schau mal, da drüben kommt mein alter Freund Fritz!“, kannst du meine Behauptung falsifizieren, indem du die korrekte Wahrnehmungsaussage dagegenhältst „Nein, da irrst du, das ist sein jüngerer Bruder.“
Es wäre indes barer Unsinn und lächerlich zu sagen: „Ja, das mag wohl der jüngere Bruder von Fritz sein, aber wir sehen eh bloß die Oberfläche der Dinge, was wirklich dahintersteckt, bleibt uns für immer verborgen!“ Aber solcher Unsinn oder Unsinn dieses Formats liegt der angeblich tiefen Einsicht des Relativisten zugrunde.
Wir gelangen zur Wahrheit oder zur Möglichkeit wahrer Aussagen, indem wir unsere Wahrnehmungen objektivieren: So können wir unsere akustischen Wahrnehmungen objektivieren, indem wir jedem Ton einen bestimmten Ort auf der Tonskala zuordnen. Wir können auf diese Weise nicht nur die Tonhöhe angeben, sondern durch konventionelle Vereinbarung über die Verwendung visueller Zeichen auch die Tondauer, Tonstärke, Tonfarbe und anderes mehr. Die Partitur ist ein Modell der Erzeugung von Tönen und komplexen Klängen in einem zeitlichen Verlauf. Wir lesen die Zeichen der Partitur richtig, wenn wir sie als Anweisungen zur Erzeugung von Tönen in einem geordneten Mit- und Nacheinander lesen. Wenn wir die Geräusche auf der Straße mit einem digitalen Aufzeichnungsgerät speichern, haben wir eine ungefähre Kopie unserer originalen akustischen Wahrnehmung. Im idealen Falle müssten die von unserer Partitur dargestellten und auf ihrer Grundlage erzeugten Töne und komplexen Klänge im Zeitverlauf mit der digitalen Kopie des Originals übereinstimmen – natürlich nicht in jedem feinsten Detail, aber doch in großen Zügen. Ist dies da und dort nicht der Fall, wissen wir, wo der Fehler liegt: in unserer Aufzeichnung und Partitur. Wir sind demnach nicht nur in der Lage, unsere Wahrnehmungen zu objektivieren, sondern unsere Aussagen und Aufzeichnungen über das Wahrgenommene zu bewerten und gegebenenfalls zu berichtigen.
Kinder, die mit ihren Puppen spielen, simulieren ein Modell der sozialen Welt – denn Spiele haben die Funktion, durch freie Imitation in die Gepflogenheiten und kommunikativen Rollen und Ausdruckswerte der sozialen Welt einzuführen. Das Kind ruft: „Schau mal, Carla hat geweint! Bestimmt hat Fritz sie wieder geärgert!“ Dann geht es hin und wiegt die Puppe namens Carla in den Armen, wäscht ihr die imaginären Tränen aus den Augenwinkeln und küsst sie auf die Wange. Indem das Kind die Puppe wiegt und ihr Trost spendet, übernimmt es die mütterliche Rolle. Ein anderes Kind ruft: „Heute besucht uns der große Mumpitz!“ Wobei der Mumpitz ein kleines drachenartiges Fabeltier mit Flügeln und feuerspeiendem Atem ist, das zwar streng tut, dessen Herz aber letztlich für die Kinder schlägt. Da räumen nun alle Kinder die Puppenstube auf, kehren und fegen, und zwei sind schon eifrig in der Küche geschäftig, dem kleinen Drachen einen Kuchen zu backen. Das Kind, das den hohen Besuch in der Puppenstube angekündigt hat, beaufsichtigt die anderen Kinder und achtet darauf, dass sie ihre Aufgaben fleißig und akkurat erfüllen und alles seine Ordnung hat. Es mag auch hier und da einmal auffordern, den Kehricht nicht unter den Teppich zu kehren oder den Puppen Sonntags- und Festtagskleider anzuziehen. Indem das Kind die Ordnung und den geregelten Ablauf der Dinge überwacht, übernimmt es die väterliche Rolle.
Die Kinder objektivieren ihre Wahrnehmungen durch Projektion auf das soziale Modell des Spiels oder das kommunikative Modell des Spiels, das die sozialen Ordnungen abbildet. Sie sind keineswegs relativistisch in ihren Wahrnehmungen oder Rollenspielen befangen oder gefangen: Sie können nämlich Fehler machen und daraufhin korrigiert werden. Ja, man kann sagen, gerade dies gehöre zum Sinn kindlicher Spiele, Fehler zu machen und daraufhin zur Ordnung gerufen zu werden. So wird das Kind, das gerade noch ausgerufen hat, Carla sei traurig und vergieße Tränen, weil Fritz sie wieder geärgert habe, Tadel auf sich ziehen, wenn es dieser Wahrnehmung nicht durch eine spezifische Verhaltensmodifikation gerecht wird und die Kleine tröstet, sondern gleichgültig bleibt oder gar die weinende Carla wegsperrt, weil ihr, wie sie sich hartherzig ausdrückt, das ewige Geflenne auf die Nerven fällt. Die anderen Kinder werden ihr schon zeigen, dass es so nicht geht und wie sie es richtig macht, das heißt, was es bedeutet, die mütterliche Position korrekt zu übernehmen und auszufüllen.
Auf die Einrede des Kulturrelativisten, hier werde einseitig das soziale Modell der europäischen oder westlichen Kultur bevorzugt oder gar den armen Kleinen mit einer unzarten Disziplinarmacht verordnet, lässt sich erwidern, dass das elementare Modell der sozialen Rolle von Vater und Mutter universell ist – denn nicht nur gäbe es ohne Vater und Mutter nicht einmal Kinder, sondern ohne die Möglichkeit der Übernahme der väterlichen und mütterlichen Rolle in der sozialen Ordnung verlöre sie die primären Orientierungen und Erwartungshaltungen, die für ihren Aufbau notwendig sind. Ohne die spielerische Einübung in die väterliche und mütterliche Position würde die soziale Ordnung bald zusammenbrechen, denn die ständig Frustrierten würden zu rebellischen oder terroristischen Feinden der Ordnung und die Desorientierten und Undisziplinierten stürzten sie ins Chaos.
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