Objektivität und Wahrheit III
Grundlinien einer Kritik des erkenntnistheoretischen und kulturalistischen Relativismus
Wir können nicht nur Wahrnehmungen, sondern auch Affekte, Gefühle, Stimmungen und unser Ausdrucksgebaren objektivieren. Wenn du bester Laune und mit fröhlichem Gesicht zum Treffen mit deinem Freund aufbrichst, ihn aber triffst du an, wie er betrübt dreinschaut und trotz deiner einfühlsamen Zureden wortkarg und missmutig bleibt, dann steht du angesichts seines Ausdrucksgebarens nicht vor einem undurchdringlichen Rätsel, als ob seine Gedanken und Gefühle in seinem Inneren vor dir verborgen und nur ihm selbst zugänglich wären – vielmehr liegt in seiner Haltung und Mimik alles offen zu Tage und du siehst ihm an, dass ihm eine Laus über die Leber gelaufen ist, und wenn du es genau wissen willst, was ihn bedrückt, nun: So frage ihn nach dem, was ihn bedrückt.
Wir hören von der Menis des Achilleus, dem Zorn und Groll des homerischen Helden der Ilias, und wie durch Kränkung des reizbaren Fürsten, dem der Heerführer Agamemnon die Kriegsbeute, das hübsche Sklavenmädchen Briseis, streitig macht, das Geschehen vor der Entscheidungsschlacht in Troja ins Rollen kommt. Die Tatsache, dass Götter und göttliche Mächte um das Geschehen und Schicksal der Menschen ein Netz aus Intrigen und Heimsuchungen spannen, stört uns nicht, denn das Netz ist grobmaschig und löchrig und lässt unsere Blicke auf das menschliche Treiben und seine Motive durchschlüpfen oder es markiert gerade die Konturen, die unser Verständnis befördern. Wir verstehen, was es heißt, wegen einer als ungerecht empfundenen Zurücksetzung gekränkt und bis zu einem emotionalen Gemisch aus Wut, Hass, Scham und Groll gereizt zu sein, auch wenn wir nicht mehr recht nachvollziehen können, dass ein großer Mensch sich wegen des vielleicht unberechtigten Anspruchs eines Machthabers in dieser Weise gehen lässt, dass er (lange kein Kind mehr) in seiner seelischen Not Zuflucht und Trost bei seiner Mutter sucht – und schließlich durch seinen Rückzug die militärische Lage seiner Verbündeten dermaßen ins Hintertreffen geraten lässt, dass sein bester Freund Patroklus sich seine als unüberwindlich geltenden Waffen ausleiht, an seiner Statt in den Kampf zieht und fällt. Wir verstehen aber, was es heißt, Trost aus mütterlichem Zuspruch zu empfangen, auch wenn wir nicht mehr recht nachvollziehen können, dass die Mutter des sterblichen Helden Thetis zugleich eine Meerfrau und göttlichen Wesens sein soll. Wir verstehen auch, dass Achilleus, nach dem Tod des Freundes in der Schlacht, von einem aus der Trauer aufgestiegenen Hass auf den Feind gereizt, wieder in den Kampf eingreift, um den Tod des Patroklus zu rächen.
Gemäß den radikalen Thesen des Kulturrelativisten wäre uns der Zugang zur homerischen Ilias verstellt, sind doch die sprachlichen und mythischen Voraussetzungen, die dem Epos zugrundeliegen und die Grundbegriffe und das begriffliche Bezugssystem zu seinem Verständnis bereitstellen, unserer kulturellen Gegenwart nichts als ein Rätsel mit sieben Siegeln. So haben nicht unbedeutende Altphilologen wie Bruno Snell aus der Verwendung des Begriffs Psyche im homerischen Text Annahmen über die Struktur des antiken Seelenlebens gefolgert, die von unseren Annahmen teilweise grundlegend abweichen sollen. Wir können aber einzelne in der Ilias geschilderte Taten und in Monologen geäußerte Gedanken und Gefühle auf die Struktur unserer Gedanken und Gefühle abbilden, weil die Gedanken und Gefühle der homerischen Helden denselben intentionalen und propositionalen Gehalt haben, den wir hätten, würden wir uns in der fiktiven Lage befinden, in der sie sich befinden. Achilleus treibt der Gedanke um, dass er durch die Wegnahme der Briseis eine kränkende Zurücksetzung erfahren habe, und der intentionale Gehalt dieses Gedankens ist die Tatsache der Wegnahme des Sklavenmädchens.
Was bedeutete die kulturrelativistische Grundannahme für die mühsame Arbeit der Übersetzung und der Übersetzer von Voss bis Schadewaldt? Sie hätten nicht eigentlich das Geschäft des Übersetzens betrieben und uns mit Hilfe der deutschen Sprache in die fremde Welt des antiken Mythos geleitet, sondern eine neue Interpretation des alten Stoffs der Fabel geliefert, wie es schon Homer getan hat, also angeregt durch die Vorlage mit ihrer Interpretation gleichsam eine neue Ilias kreiert – ohne dass wir über objektive Kriterien verfügen könnten, die uns ein Urteil darüber erlaubten, ob eine Interpretation mehr oder weniger gelungen oder eine Interpretation gelungen, die andere aber misslungen ist.
Indes können wir dem zügellosen Argwohn des Relativisten entkommen und unsere Zuflucht bei der Tatsache finden, dass der Ausdruck menschlicher Gemütsbewegungen universell verbreitet und unserem Verständnis dieses Ausdrucks nirgends prinzipielle Grenzen gezogen sind, solange er Lebewesen betrifft, die wir als menschliche Personen beschreiben und identifizieren können. Wie bei den Begriffen der Subjektivität oder der wesentlichen Eigenschaft handelt es sich bei dem Begriff der menschlichen Person um eine absolute Wahrheit in dem schlichten, nicht metaphysisch überspannten Sinne, dass wir bei den Kundgaben mimischer und verbaler Natur, die wir als bedeutungsvoll ansehen und zu verstehen bemüht sind, diejenigen, von denen Signale dieser Art ausgesandt werden, als menschliche Personen betrachten dürfen und sollen, denen wir ähnliche Gefühle, Gedanken und Intentionen unterstellen und unterstellen dürfen wie die, die wir selbst haben.
Wir haben hier die Schwierigkeit, dass es sich bei unserem homerischen Helden um eine fiktive Person handelt, unerörtert gelassen. Wir dürfen die Vermutung äußern, dass wir irreale menschliche Gestalten, wie sie uns in der fiktiven Literatur begegnen, nach den Prinzipien der Analogie und Ähnlichkeit wie reale Personen identifizieren und verstehen können, auch wenn es uns nicht vergönnt ist, mit ihnen in einen realen Dialog zu treten, um unsere Ansichten über ihr Innenleben mit weiterem Gehalt zu unterfüttern. Doch bei großen Schriftstellern benötigen wir dies auch nicht. So bei Homer, wenn er uns an der rührenden Szene des Abschieds des trojanischen Heros Hektor von seiner Gattin Andromache und dem geliebten Söhnchen Astyanax teilhaben lässt, denn er eröffnet uns mittels pathetischer Monologe der Beteiligten das Innerste ihres Seelenlebens – und also auch das Innerste unseres eigenen Seelenlebens, denn den Worten der Eheleute angesichts des Abschieds auf immer entnehmen wir viele der emotionalen Werte und Gefühlsnuancen, die wir mit unserem Begriff der sich in Taten, Gesten und Worten kundgebenden Liebe verbinden. Sollen wir also töricht uns der Einsicht verweigern, dass der Dichter, wenn er seinen Helden Stimme verleiht, uns aus der Seele zu sprechen oder besser unsere Seele zur Sprache zu bringen vermag? Sollen wir unsere Überzeugungen und Gefühle hinsichtlich grundlegender Begriffe der menschlichen Lebenslage wie des Begriffs der Liebe auf spezielle und lokale kulturelle und begriffliche Rahmen- und Randbedingungen einschränken, die wir durch sogenannte Diskurse und Dispositive wie Macht und Sexualität definieren?
Es ist geradezu verblüffend und mutet paradox an, wenn wir den radikalen Relativisten, der sich gern als trotzig-rebellischen Neinsager und revolutionären Nihilisten geriert, als postmodernen Wiedergänger antiker und mittelalterlicher Teufelsanbeter zu fassen glauben. Aber was die frühen Menschen als Besessenheit von Schicksalsmächten erlebten und ausdrückten – der Glaube an die unhintergehbare und unbezwingliche Macht von Dämonen, Geistern und Mächten –, hält uns in sophistisch umgemünzter Form der Relativist als unhintergehbare und unbezwingliche Macht von Begriffssystemen, Interpretationsmustern, Lebens- und Handlungsstilen oder Weltanschauungen vor Augen.
Vielleicht verstehen wir die Lebensfremdheit und Lebensfeindseligkeit des skeptischen Relativisten und warum er aus den Stimmungen der Verzweiflung und Befangenheit heraus gern den Possenreißer mit der Narrenkappe spielt, etwas besser, wenn wir einen kurzen Blick in die ungeschriebene Genealogie dieser unheimlichen Sorte von Intellektuellen werfen. Er begegnet uns erstmals in der Figur des Satans im Buch Hiob, wo er das gute Leben des Frommen verleumdet und Gott mit der sophistischen Wette auf das Leid des Dulders in die Enge zu führen wähnt: als hätte der Glaubenszeuge Hiob umsonst gelitten, denn Leiden für Treu und Glauben heißt ja in seinen Augen, um einer Illusion willen leiden. Er begegnet uns sodann in den Figuren des Sophisten in den platonischen Dialogen, wo er die Sonne des Guten mittels der erkenntnistheoretischen und ethischen Relativierung verdunkeln zu können glaubt: als sei der Wahrheitszeuge Sokrates umsonst gestorben, denn für das Gute sterben heißt ja in seinen Augen, für eine Illusion sterben. Er schaut uns sicher auch mit den verschmitzten Blicken oder der kalt funkelnden Glut aus den Augen des Zynikers Mephistopheles in Goethes Faust an. Und wieder und nicht zuletzt begegnet er uns in den Masken des Denkers und des Denkens jenseits des Menschen: als sei der Liebeszeuge Christus umsonst gestorben, denn für die Erlösung des Menschen sterben heißt ja in seinen Augen, für eine Illusion sterben.
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