Notizen zur Geschichte als Wissenschaft
Eine Kritik des hermeneutischen Dogmas
Diese Notizen umkreisen essayistisch das methodologische und wissenschaftstheoretische Kerngebiet der Geschichtswissenschaft. Sie dienen aber einem weiterreichenden Zweck, nämlich dem seit beinahe zwei Jahrhunderten aufgestiegenen und in der Philosophie durch Schleiermacher, Nietzsche, Dilthey, Heidegger und Gadamer aufgerichteten, bis dato zur herrschenden Überzeugung in allen Geistes- und Kulturwissenschaften behaupteten Dogma von der Notwendigkeit des theoretischen Apriori der Interpretation zu widersprechen. Die These lautet: Die sogenannte philosophische Hermeneutik ist ein Irrweg der Theorieentwicklung. Wer verstehen will, aus welchen Motiven die historisch Handelnden getan haben, was immer sie taten, muss sein sogenanntes Vorverständnis und die seiner Gegenwart entstammenden interpretativen Muster ausklammern und das beachten und in die Erklärung historischer Begebenheiten als kausalen Faktor aufnehmen, was jene Akteure selbst zu ihren Motiven und Handlungen geäußert haben oder was an Motiven und Intentionen aus den über ihre Taten und deren beabsichtigte Folgen und Wirkungen ermittelbaren Quellen und Dokumenten zu ersehen ist.
Die Geschichtswissenschaft (GW) ist wie jede Wissenschaft eine Form des Wissens. Gewusst werden kann nur das Wahre, der Inhalt eines Satzes der Form (F)x. Sätze, die als wahre in den Thesaurus der Geschichtswissenschaft eingehen, haben die Form: F(a), wobei a für einen historischen Namen steht (Caesar) und F für eine Relation, die angibt, was der Genannte zum Zeitpunkt t am Ort l getan hat (überschritt am 10. Januar 49 v. Chr. den Rubikon an der Grenze zwischen Gallia Cisalpina und Italien). Ein Satz dieser Form ist wahr, wenn er durch unabhängige Belege wie historische Dokumente und Zeitzeugen als wahr bestätigt worden ist. Sind keine Belege vorhanden, die den Satz bestätigen, gilt er nicht als wahr, sondern allenfalls als Vermutung. Tauchen Belege aus den Quellen auf, die den Satz als falsch erweisen, wird er von der GW verworfen.
Der Inhalt der Sätze der GW ist das Vergangene im Sinne menschlicher Geschichte. „Caesar überschritt am 10. Januar 49 v. Chr. mit seinen Truppen den Grenzfluss Rubikon“ ist ein wahrer Satz der GW. Der Satz ist wahr, weil er durch historische Quellen bezeugt ist, so durch die vom römischen Senat autorisierten Aufzeichnungen über das politische Geschehen, die Annalen. Der Annalist könnte sich bei der Angabe des Datums geirrt haben: Mindestens eine weitere Quelle muss demnach die erste Quelle bestätigen oder ihre Falschheit belegen. Die zweite Quelle, die den Satz bestätigt, sind die Aufzeichnungen Caesars über den Bürgerkrieg.
„Alea iacta est“ – diesen Satz habe er beim Überschreiten des Rubikon geäußert, bezeugt Caesar. Damit ordnet er das einzelne Geschehen, ein kollektives Handeln auf Geheiß seines imperialen Marschbefehls, in die umfassendere Einheit der römischen Geschichte ein: Mit der Weigerung, den Befehl des Senats vom 7. Januar 49 v. Chr., sein Imperium über die Provinzen Gallien und Illyrien niederzulegen, und dem aus Sicht des Senats ungesetzlichen Überschreiten des Rubikon und dem Truppenaufmarsch auf Rom hat Caesar den Bürgerkrieg zwischen der alten senatorischen Macht und seinen Truppen entfacht, der schließlich zum Untergang der senatorischen Republik und der Errichtung der Kaisermacht in Rom führen sollte. Diese deutende Einordnung des singulären Geschehens am Rubikon ist sinnvoll und konnte von neueren Historikern übernommen werden.
Das Überschreiten des Rubikon ist eine Handlung, die eine komplexe (zusammengesetzte) Absicht voraussetzt: Caesar gibt seinem Wagenlenker den Befehl, den Wagen in Richtung jenseitiges Ufer in Gang zu setzen. Indem Caesar den Fluss überschreitet, verwirklicht er die Absicht, mit seinen Legionen nach Rom zu gelangen. Indem Caesar mit seinen Truppen auf Rom marschiert, verwirklicht er die Absicht, dem Senat seine Weigerung, das Imperium abzulegen und seine Truppen zu entmachten, vor Augen zu führen. Indem Caesar in Rom einmarschiert und dem Senat feindlich gegenübertritt, verwirklicht er die Absicht, die Macht des Senats zu beschneiden und seinem Imperium zu unterstellen. Indem Caesar den Senat seinem Imperium unterstellt, verwirklicht er die Absicht, den Senat als institutionelle Trägerschaft des republikanischen Patriziats zu entmachten. Indem Caesar die senatorischen Familien ihrer angestammten staatlichen Repräsentanz beraubt, verwirklicht er die Absicht, eine neue Herrschaftsform, die man vage als „Caesarismus“ benennen könnte, zu institutionalisieren. Bis hierin kann die GW die komplexe Handlungsabsicht Caesars, die ihn zum Überschreiten des Rubikon bewog, mit dem guten Grund analysieren, als sie annehmen darf, dass die analysierten Elemente der komplexen Absicht Caesar selbst mehr oder weniger deutlich bewusst waren. Dabei nimmt der Grad an Bewusstheit der komplexen Absicht für den Handelnden mit dem Grad der Entfernung von der Basisabsicht ab, die zur physischen Basisaktion und Primärleistung, hier also der Flussüberquerung, führte. Caesar zu unterstellen, seine komplexe Handlungsabsicht enthielte als Letztelement auch die Absicht , in Rom das Kaisertum im Sinne des Augustus zu etablieren, wäre ersichtlich falsch, da Caesar von der Struktur augusteischer Herrschaft nichts gewusst haben konnte.
Um seine Absicht mit der Überschreitung des Rubikon zu verwirklichen, muss Caesar die Verfügung über ein komplexes System von wahren Meinungen zugeschrieben werden. Er muss annehmen, dass der Rubikon jenen Grenzfluss darstellt, der sein Herrschaftsgebiet von Italien, dem Einfluss- und Machtbereich des römischen Senats, trennt; dass seine Legionen ihm in Treue und Loyalität verbunden und verpflichtet sind; dass seine militärische Stärke und sein militärisches Know-how der militärischen Stärke der Senatspartei und dem militärischen Know-how ihres Generals Gn. Pompeius überlegen seien und manches andere dieser Art. Wahre Meinungen dieser Art, die der Verwirklichung von Absichten zugrundeliegen, beruhen bei biologischen Wesen wie Menschen auf den Funktionen der Wahrnehmung und der Erinnerung: Caesar hat sich die wahre Meinung von der Loyalität seiner Truppen aufgrund der Wahrnehmung ihres ergebenen und gehorsamen Verhaltens gebildet; er wusste von der Bedeutung des Rubikon als des Grenzflusses zu Italien, weil er ihn bereits bei seinem Aufbruch nach Gallien im Jahre 58 v. Chr. gesehen hatte. Die wahre Meinung über den Fluss beruht in diesem Falle also auf einer aktuellen Wahrnehmung, die durch eine im Gedächtnis gespeicherte erste Wahrnehmung, eine Erinnerung, bestätigt wird. Caesar kann auch der falschen Meinung gewesen sein, durch seine göttliche Abstammung sei er zu Höherem berufen. Auch Irrtümer und mythische Vorstellungen können handlungsorientierend sein und Absichten zur Entscheidung führen. So könnte die mythische Vorstellung seiner göttlichen Abstammung Caesar zu der weiteren wahren Ansicht geführt haben, er sei im Vergleich mit der gemeinen Menge zu Leistungen fähig, die den eigenen und den Ruhm Roms weithin nach Ort und Zeit erstrahlen ließen. Der Mythos könnte hier einen Menschen zu Höchstleistungen getrieben oder verpflichtet haben, die sich im historischen Kalender als Ereignisse und Daten in Großschrift oder Versalien lesen.
Eine Absicht hegen, heißt nicht sie verwirklichen, einen Plan schmieden nicht, ihn in die Tat umzusetzen. Gewiss hat Caesar nach oder schon während der Pazifizierung Galliens und der Ausdehnung seines Herrschaftsgebietes die Absicht gehegt, sein Imperium über die vom Senat zugebilligte Frist zu verlängern. Er hätte freilich diesen Plan aufgeben können, als er sich dem Rubikon näherte. Für die tatsächliche Entscheidung, den Grenzfluss zu überschreiten, bedurfte es also zumindest eines zusätzlichen Antriebs, der über die Motive der zeitlich zurückliegenden Primärabsicht hinausging. Dieses Motiv kann von der guten Laune oder Tagesform bis zu Informationen reichen, wie von der Schwäche des Gegners berichten.
Caesar hat den Rubikon überschritten, den Grenzfluss zwischen Kernitalien und der Provinz Gallia Cisalpina und durch diese Handlung „Geschichte geschrieben“. Flüsse sind wichtige Gegebenheiten für den Stoff der GW. An den großen Flüssen und Deltas wie Ganges oder Nil entstanden die frühen Hochkulturen. Flüsse bilden Nahrungsquellen, dienen der Schifffahrt und bilden natürliche Grenzen. Allein dieses Thema verweist die GW auf ihre Hilfsdisziplin Geographie. Aber auch Fachgebiete wie Ernährungswissenschaft, Medizin (Immunologie, Epidemiologie) und Humangenetik unterstützen die GW neben den Hausdisziplinen Archiv- und Quellenkunde sowie Archäologie bei ihrer Arbeit, wahre Sätze über die HG zu finden.
Die GW ist eine systematische Verknüpfung von wahren Sätzen, deren Inhalt das Vergangene im Sinne menschlicher Geschichte (Humangeschichte) darstellt. Das für die GW relevante Vergangene ist nicht die Geschichte der Entstehung der Materie und ihrer Bestandteile, nicht die Evolution des Kosmos, der Galaxien und Sternsysteme wie des Sonnensystems mit dem Sonnenplaneten, den wir bewohnen, nicht die Evolution der Organismen bis hin zur Entstehung der Hominiden und auch nicht die Evolution der Hominiden bis zur Entstehung des Homo Sapiens. Der Inhalt der wahren Sätze der GW muss von schriftlichen oder mündlichen Quellen belegt sein. Deshalb muss die GW die Anfänge der HG mit den frühesten Aufzeichnungen in Keilschrift markieren, die die Sumerer anfertigten. Völker, die keine Aufzeichnungen über ihre historischen Taten hinterlassen haben, sogenannte schriftlose Völker, sind daher kein Gegenstand der GW, sondern Gegenstand der Ethnologie, die ihre Geschichte per Analogie heute lebender schriftloser Völker rekonstruiert. Dieses Verfahren muss wegen des Mangels an historischen Belegen im Ungefähren bleiben und führt nicht zu Wissen im Sinne des Wissens der GW.
Nur der Mensch gibt sich und seinesgleichen Namen, er ist das namengebende Tier. Mit dem Namen wird er gerufen, und er spricht den Nachbarn mit Namen an, denn er vertraut ihm und ist ihm Freund, er beschwört den Namen des Feindes, den er fürchtet und bannen will, er flüstert den Namen des Herrschers, vor dem er sich verbeugt und auf dessen Gnade er hofft, er ruft den Sklaven mit seinem Namen, auf dass er ihm befehle, er seufzt über sein Weh und jubelt über die Segensfülle vor dem Bild des Gottes, den er mit vielen Namen anruft und preist.
Die Zugehörigkeit zu einer Familie, einem Clan, einer Gruppe und einem Volk (genealogische Einheit = GE) wird durch Verleihung des Namens symbolisch ausgedrückt. Die Überlieferung des Namens einer Familie oder Gruppe ist der rote Faden, der sich durch die Geschichte spinnt. Zahllose Fäden dieser Art schlingen sich mit- und umeinander, verknäueln, verknoten und lösen sich. Die Abfolge der Generationen, die Tafeln der Stammbäume, die Genealogie steht am Anfang der GW. Die Geschichte einer GE endet, wenn der Name aus dem Gedächtnis der Geschichte getilgt oder allmählich vergessen wird.
Namen sind die frühesten und wichtigsten Quellen der GW: Erst der Fund der Gravur des Namens David in Jerusalem hat die Existenz und Datierung des Königtums bezeugt. Erst die namentliche Unterschrift besiegelt die Echtheit des Dekrets, des Gesetzes, der Bulle. Und erst für die Glorifikation des großen Namens werden Feinde besiegt, Reiche errichtet, Throne zerschmettert.
Wer sich und seinesgleichen Namen gibt, ist nicht nur der Sprache mächtig, sondern auch seiner selbst bewusst – in beiderlei Sinne: Er ist seiner Wahrnehmungen, Erlebnisse und Handlungen bewusst, und er will selbstbewusst das enge Gehäuse seiner Lebensfrist öffnen auf ein Bleiben in der Zukunft. Er weiß, er wird sterben und mit seinem Leib wird sein Name vergehen. Deshalb gibt er den Namen an seine Kinder weiter, deshalb baut er Haus und Monument, deshalb gründet und zerstört er Staaten und Reiche.
Galaxien, Sterne, Mineralien, Zellen, Organismen existieren unabhängig davon, ob wir sie beobachten oder nicht. Sie sind ontologisch objektiv. Sitten und Gebräuche wie Heiratsregeln, Spiele oder das Geld, Rechte und Pflichten, Gesetze und Gerichte, Herrschaftsformen und Verfassungen, Erlasse und Dekrete, alle die menschliche Gemeinschaft konstituierenden sozialen Institutionen existieren nur, insofern sie von Menschen als solche wahrgenommen und anerkannt werden. Institutionen, die ihre Existenz der Wahrnehmung und Anerkennung durch den Menschen verdanken, sind ontologisch subjektiv. Ihre Existenz erlischt, wenn die Wahrnehmung nachlässt und die Anerkennung zusammenbricht.
Wenn ein Paar vor einer gesetzlichen Instanz wie dem Richter, Priester oder Standesbeamten und einbestellten Zeugen seinen Willen zur Ehe bezeugt und durch Zusage, Austausch von Symbolen und Abgabe von durch die Zeugen beglaubigten Unterschriften besiegelt, gilt die Ehe als geschlossen. Wird sie gebrochen, ergeben sich je nach gesetzlicher Vorgabe mehr oder weniger einschneidende Folgen wie Ächtung, Eigentumsverlust und Verlust des Sorgerechts an den Kindern. Weil das Institut der Ehe nur kraft Anerkennung durch die Gemeinschaft existiert, stellt es naturgemäß eine ontologisch subjektive Gegebenheit dar. Dennoch können die Auswirkungen und Wandlungen dieser sozialen Einrichtung über kurze und lange Zeiträume hin objektiv betrachtet und analysiert werden. Genau diese objektive Betrachtung und Analyse ist die Aufgabe der GW, die auf den Erwerb von historischem Wissen und die Erweiterung ihres Wissensbestands um wahre Sätze strebt. So kann der Historiker in den Archiven von Kirche und Amt die Genealogie der Namen im Medium des Instituts der Ehe an den Registern verfolgen. Diese Register mit Datierung, Namenseinträgen, Stammbäumen und Amtssiegel sind die echten Quellen einer auf Objektivität und Wahrheit zielenden GW. Das Institut der Ehe ist demnach ontologisch subjektiv, aber erkenntnismäßig (epistemologisch) objektiv, weil es den Kriterien der objektivierenden Erkenntnisverfahren der GW offensteht.
Die GW hat kein anderes Interesse als die Wahrheit ihrer Sätze, sie blickt in keine andere Perspektive als die Erweiterung ihres Wissens um wahre Sätze über die HG. Das hindert sie nicht, sondern motiviert sie, die in alle historischen Handlungen eingebetteten Interessen und Perspektiven der zeitgenössisch Agierenden ins Auge zu fassen und objektiv darzulegen. Mit welcher Perspektive überschritt Caesar den Rubikon? Um das von ihm durch Gebiets- und Machtzuwachs in Gallien und der Schweiz angereicherte Imperium zu bewahren und auch auf Kosten eines verheerenden Bürgerkriegs gegen den Senat zu verteidigen. Aus welchem Interesse hat sich der römische Senat mit Pompeius verbündet? Um in dem bedeutenden Militär einen starken Gegner und General der senatorischen Truppen im Krieg gegen Caesar zu gewinnen.
Das Interesse ist neben dem System der subjektiven Annahmen (Glaubenssystem) ein wesentliches Analysandum der GW. Sie fragt: Cui bono? Das Interesse lässt die Entscheidung des unter Handlungsdruck Agierenden zu einer Seite ausschlagen: Sollte Caesar dem Befehl des Senats willfahren und hinfort ein bequemes Rentnerdasein führen, dem Luxus frönen und seine Libido kitzeln, oder sollte er alles auf eine Karte setzen und trotz der anstehenden Mühen und Herausforderungen den Schicksalsfluss überschreiten?
Was für Caesar den Ausschlag gab, ist klar: Bei seiner Herkunft, seinem Charakter und seinen großen Ambitionen stand nur der Weg zum Ruhm offen. Neben dem gewichtigen Faktor des Interesses an der Erlangung von Ruhm (gloria, Verewigung und Vergöttlichung des Namens) und der Ausdehnung der Macht spielte das Glaubenssystem bei der Entscheidungsfindung wohl eine wenn auch aparte Nebenrolle: Glaubte Caesar doch oder imitierte den Glauben an seine mythische Herkunft von der Göttin Venus, die ihm wie dem gemeinsamen Urahnen der Römer Aeneas auf die Glorifikation seiner göttlichen Genealogie verpflichtete. Interessen und subjektive Annahmen (seien es triviale Wahrheiten oder Mythen) sind als Motivatoren und Hintergrundannahmen von hoher Relevanz für die Entscheidungsfindung der historisch Handelnden – und demgemäß ein Hauptthema der objektiven Analysen der GW.
Um die Glaubwürdigkeit von Zeitzeugen bewerten zu können, bedarf die GW eines oft erheblichen Ausmaßes an subtilen Analysen. Der einfachste Fall ist derjenige, bei dem ein Zeuge durch andere Zeugen bestätigt oder widerlegt wird. Komplex sind die Fälle interessegeleiteten Handelns und Redens. An den Extremfällen von Siegern und Besiegten (Opfern) lässt sich das klarmachen: Der Sieger wird den Einsatz von brutalen und unmenschlichen Mitteln zur Erlangung des Sieges leugnen, bemänteln oder als ungewollte Folgeschäden verharmlosen, um sich reinzuwaschen und sein Image als lauterer Herrscher und vertrauenswürdiger Bündnispartner zu wahren. Der Besiegte wiederum wird, wenn ihm die Aufmerksamkeit eines moralisch verfeinerten Publikums sicher ist oder ihn gar Entschädigungen gemäß der Schwere seiner Leiden locken, allen rhetorischen Aufwand bemühen, um das Erlittene mit den grellsten Farben und blutrünstigsten Detailschilderungen zu vergrößern. Hier abzuwägen und die Mitte des Plausiblen und Wahrscheinlichen zu finden ist ein heikles Unterfangen und lässt die GW zu Recht davor zurückschrecken, solcherart ermittelte Sätze vorbehaltlos ihrem Vorrat an wahren Sätzen hinzuzufügen.
Die im eigenen Namen handeln, handeln immer auch im Namen anderer. Der einsame Entschluss Caesars, den Rubikon zu überschreiten, ruft bald die Bildung einer Gruppe von Anhängern hervor, die von sich sagen: „Wir Caesarianer“. Die Feinde in der Senatspartei sagen von sich: „Wir Republikaner“. Der Humus und Fundus solcher Gruppenbildungen ist ein Komplex genalogischer Einheiten (GE): Auf Seiten der Caesarianer der Stamm der alten Gens der Julianer, auf Seiten der Republikaner die Elite der senatorischen Familien Roms. Um diesen engeren Kreis der GE fügen sich zwanglos Mitglieder, die aus je eigenen Interessen und Ambitionen wie Gier nach Geld, Prestige und Macht unabhängig von Verwandtschaftsbeziehungen sich der einen oder anderen Gruppe anschließen.
Was im Jahre 49 v. Chr. am Rubikon geschah, erfüllte seinen Sinn – ist man zu sagen geneigt – im Jahre 31 v. Chr. mit dem Sieg des Octavian in der Seeschlacht von Actium, in der die Bahn zum Prinzipat des Caesar Augustus freigemacht wurde. Indes konnte Julius Caesar am Rubikon mangels prophetischer Gaben nicht antizipieren, was 18 Jahre später bei Actium geschehen sollte. Was Resultat unter anderem seines Handelns im Jahre 49 war, konnte nicht im Sichtfeld seiner damaligen Entscheidung und nicht Motiv seines Handels gewesen sein. Nur Octavian konnte nach seinem Sieg bei Actium post festum den Sinn der Ereigniskette der Jahre 49 bis 31 v. Chr. in der Errichtung des Prinzipats sehen. Das mythisch grundierte Großepos des Vergil feiert eben diesen Sinn und deutet die Inthronisation des Princeps Augustus und die Wiederauferstehung der Sacra Roma aus den Trümmern des Bürgerkriegs als den von der göttlichen Vorsehung verfügten Sinn der Geschichte Roms und der Römer überhaupt. Die christlichen Theologen typologisieren in dem in der vierten Ekloge des Vergil verkündeten Heilsbringer eines künftigen Friedenreiches den Christus und preisen den unter der Ägide des Augustus erschienenen Gottessohn als den endgültigen Sinn der Geschichte, deren Endzeit mit dem Tod und der Auferstehung des Erlösers begonnen hat und deren Erfüllung und Ende mit seiner Wiederkunft gehofft und erwartet wird.
Große Deutungen dieser Art, wie sie im Rommythos oder in der christlichen Heilsgeschichte und Eschatologie vorliegen, muss die GW als Glaubenssystem neben allen anderen Glaubenssystemen gleichmütig betrachten und auf ihre Kraft bei der Entscheidungsfindung und der Motivation der historisch Handelnden im Einzelnen befragen. Sie selbst enthält sich aller Rekonstruktion, die auf die Einordnung des einzelnen Geschehens in einen übergeordneten Deutungsrahmen abzielt, der selbst nicht durch die Verknüpfung wahrer Sätze im Sinne der GW, sondern durch mythische, religiöse und ideologische Inhalte geprägt ist.
Die GW verbleibt in analytischer Askese an der Front der Ereignisse in der jeweiligen historischen Gegenwart, an der die Linien immer wieder aufreißen und die Horizonte offen sind. Sie weiß um die Kontingenz der Ereignisse und der Folgen von Entscheidungen und Handlungen: Caesar hätte stürzen und im Rubikon ertrinken können – die alte Republik und die senatorische Macht hätten sich, gefeiert von geistreichen Ideologen und Propagandisten wie Cicero, noch ein oder zwei Zeitalter gehalten und wäre vielleicht unter dem ersten Ansturm der Germanen untergegangen. Weil der Ereignishorizont der HG keine übergeordneten Zwecke und Sinngebungen aufweist, sondern nur Zwecksetzungen und Sinngebungen, die sich die geschichtlich Handelnden selbst setzen, übt sich die GW je aufs Neue in moralischer und theologischer Abstinenz und zeigt den überhitzten Moralisten und Sinnsuchern die kalte Schulter des analytischen Nihilismus.
Die Sinnhorizonte, welche die GW als Orientierungen, Maßgaben und Motive für Handlungen ermitteln kann, sind diejenigen, die sich die historisch Handelnden selbst gegeben haben und denen sie im Ausnahme-, Konflikt- und Kriegsfalle ihr Eigentum, ihre Zukunft, ihr Leben als Unterfand anheimgestellt haben. Diese von der GW als nicht mehr nachgebendes erzenes Fundament zu ermittelnden Sinnhorizonte erwachsen einem biologisch fundierten, in das Bewusstsein der Handelnden in der Form des Mythos hineinragenden Grund: den Bestand der eigenen Daseinsform zu erhalten, ihre Macht zu vergrößern und mit dem weitesten Horizont an Zukunft zu verbinden. Dabei sind die Daseinsformen vielfältig, steigen aber auf einer Stufenleiter wachsender Komplexität von den herrschenden Familien über die sippenförmigen Gruppen über die durch gemeinsame Kulturtechniken und Traditionen verbundenen Gruppen bis zu Großformen wie Volk, Nation, Staat und Reich auf.
Die stärkste historisch wirksame Motivation ist diejenige, die zu wagemutigen Entscheidungen führt, welche das Opfer des eigenen Lebens und das von Verwandten und Mitgliedern der Eigengruppe in die Waagschale werfen. Hierbei zeigt es sich, dass der Mensch vorgeblich oder wirklich nicht für weltlichen Tand und bloße sogenannten materiellen Interessen zu sterben geneigt ist, sondern für Zeichen und Symbole. Mythische Identitätszeichen stehen für die Einheit, Geschlossenheit, Verschworenheit und Loyalität einer Gruppe und ihrer Mitglieder. Wie tief diese Zeichen in das dunkle Erdreich der Frühgeschichte reichen, lässt sich an der Bezugnahme der meisten alten Wappen- und Gruppenidentitätszeichen auf das Tierreich ablesen. Die römischen Legionen und Heere kämpfen um die Präsenz des Legionsadlers, die adligen Herrscherfamilien um die Markierung ihres Territoriums mit dem Löwen, dem Adler, dem Bär oder dem Stier. Florale Elemente wie die Lilien der Bourbonenkönige Frankreichs scheinen schon auf eine verfeinerte Lebensart hinzudeuten. Dass das abstrakte Zeichen des ungegenständlichen, der Tierwelt entrückten Davidsterns in das Zentrum der exotischen Heraldik des jüdischen Volkes aufgestiegen ist, sei als Beleg für die Singularität des monotheistisch definierten Gruppenbezugs am Rande vermerkt.
Die GW klammert methodisch streng jeden Anspruch einer Weltauffassung ihrer Zeitgenossenschaft auf epochenübergreifende Deutung der Geschichte aus den ihr zu Gebote stehenden methodischen Mitteln der Interpretation aus: Die Weltauffassungen ihrer Gegenwart sind der GW wie die Mythen der alten Völker nicht Mittel, sondern Gegenstand der Untersuchung.
Nachdem Alexander durch den Sieg in der Schlacht von Cheironeia die imperiale Überlegenheit des Makedonenreiches über die Griechen unter Beweis gestellt hatte, konnte er im Jahre 334 v. Chr. den großen Feldzug gegen den persischen Großkönig und seine Satrapen in Gang setzen. Die Entscheidung Alexanders hatte zwei Grundlagen: seine Befehlsgewalt als König und oberster Feldherr und der mythische Sinnhorizont, der mit dem Epos Homers um den trojanischen Krieg beginnt und sich mit dem realen Krieg, den die Griechen in den Jahren 490 bis 479 v. Chr. mit den Persern unter den Großkönigen Darius und Xerxes ausfochten, überlagert. Alexander hat sich von Jugend auf mit dem griechischen Kriegshelden der Ilias par excellence, Achill, identifiziert. Achill und alles von Homer in seinem Epos geschilderte Geschehen hatte für den Makedonenherrscher den Rang unbezweifelbarer Realität. So unternahm er als ersten rituellen Akt nach der Besetzung Kleinasiens einen Besuch der Grabstätte des von ihm aufs Höchste verehrten Heros.
Für Alexander und seine Zeitgenossen bildeten demnach die beinahe eineinhalb Jahrhunderte von den Perserkriegen bis zu ihrer Gegenwart ein Sinnkontinuum, eine unabgeschlossene Epoche, deren zeitlich datierbarer Abschluss im Sinnhorizont der historisch Handelnden allererst durch einen Rachefeldzug und die endgültige Unterwerfung des Erbfeindes zu erreichen wäre.
Nur der vom Bewusstsein der Zeitgenossen geprägte Begriff von Epochen und zeitlichen Perioden, die mehrere Generationen und viele Jahrhunderte, ja Jahrtausende, überbrücken können, ist nach seiner genauen Klärung und Analyse ein methodisch korrekt verwendbarer Begriff der GW. Die gilt naturgemäß auch von Epochenzuschreibungen, die in der Gegenwart von Gruppen vorgenommen werden, die ihr Dasein als Mitglieder ihrer Gruppe auf mehr oder weniger weit zurückdatierende Ursprünge zurückführen. Klerus und Laien der Römisch-Katholischen Kirche leben unter einem Sinnhorizont, dessen zeitliches Ausmaß etwa zwei Jahrtausende zurückreicht.
Die GW hat nichts weiter zu tun, als diese von den historisch Handelnden ausgeprägten Epochen- und Periodenbegriffe in Hinsicht auf formale Richtigkeit bei Datierungs- und Definitionsfragen zu klären und ihrem methodisch-begrifflichen Thesaurus ohne inhaltliche Modifikationen gutzuschreiben.