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Normative Ordnungen

20.02.2023

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Einer sagt: „Schreibe mir bitte den Namen des Platzes, wo wir uns treffen sollen, auf ein Blatt.“ Der andere schreibt es auf und reicht ihm das Blatt, doch stehen nur rätselhafte Hieroglyphen darauf.

Der Lehrer sagt: „Teile 27 durch 3“, der Schüler antwortet: „1“ – dies ist kein trivialer Rechenfehler, sondern ein systematischer Fehler, denn der Schüler hat so gerechnet: 27 : (3 x 3 x 3).

Der Klient bittet: „Bringen Sie mir den Bildschirm möglichst bald!“ – Der orientalische Dienstleister bringt ihn endlich nach mehrfachen dringenden telefonischen Nachfragen in zwei Wochen.

Wir schreiben weder in Bilder- noch in Silbenschrift, sondern in jener Buchstabenschrift, die uns von den Phönikiern (durch die semitische Konsonantenschrift) und den Griechen (durch die Vokalzeichen) überliefert worden ist. – Wir, das heißt: wir Menschen der abendländischen Kultur, die durch die normative Ordnung der indogermanischen Sprache und ihrer Darstellung in Lautschrift geprägt sind.

Wir rechnen nach Regeln, die sich aus dem Zehner-Stellen-System unserer normativen Zahlenordnung ergeben, nicht beispielsweise nach dem Sechziger-Stellen-System der Babylonier.

Wir haben eine Zeitordnung entwickelt, die, auch wenn sie Ausdrücke wie „nach einer Weile“, „morgens“ oder „bald“ nicht präzise festlegt, doch ausschließt, daß sie „nach einem Jahr“, „um 15 Uhr“ oder „in zwei Wochen“ bedeuten.

Was „wir“ sagen, umfaßt alles, was die Ordnung einer sozialen Gruppe und einer kulturellen Gemeinschaft bestimmt.

Autos fahren hier rechts, so schreibt es die Straßenverkehrsordnung vor.

Doch sind die normativen Ordnungen der Gemeinschaft keine konkreten Gebilde, keine Individuationen, sondern strukturelle Schemata, Muster und Modelle, die einen Spielraum ihrer Konkretion und Erfüllung offenlassen; die Autos könnten auch auf der linken Seite fahren.

Was wir unter Malerei und Plastik verstehen, begegnet uns erstmals vor einigen zehntausend Jahren in den Höhlenmalereien von Lascaux und Altamira, in der Venus von Willendorf und der Elfenbeinfigur des Löwenmenschen aus der Stadel-Höhle am Hohlenstein im Lonetal auf der Schwäbischen Alb; wir wissen nicht genau, ob diese Kunstwerke den Zwecken der Magie oder Idolatrie dienten, doch haben wir an ihnen das Schema und Muster dessen, was wir auch heutzutage Kunstwerke nennen.

Malerei, Plastik, Musik und Dichtung verkörpern normative Ordnungen, die in unseren biologisch bedingten Wahrnehmungs- und Ausdrucksmöglichkeiten verankert sind, aber intentional und spielerisch an spontanen oder willentlich fixierten Ordnungssystemen ihren Sinngehalt zur Geltung bringen. Der Symbolgehalt von Farben und das Projektionsverfahren der Malerei, die Raumbeherrschung und der suggestive Gestus der Plastik, die Notensysteme und Formensprachen der Musik sowie die rhythmisch-metrischen Gliederungen der Dichtung sind Beispiele normativer ästhetischer Ordnungen.

Überlieferte ästhetische Normen können von genialen Erfindern an eine Grenze geführt werden, wo sie in neue ästhetische Ordnungen übergehen; das zeigt der Tristan-Akkord von Richard Wagner.

Indes, bloße zufällig aufgenommene Alltagsgeräusche wiederzugeben, ohne sie in eine neuartige musikalische Ordnung einzufügen, sodaß die entscheidende Frage nach ihrem ästhetischen Wert sinnlos wird, überschreitet nicht das Gewohnte in neue Ausdrucksbereiche, sondern unterschreitet es ins Diffuse und Unterkomplexe. – Das ästhetisch Unterkomplexe kann schon aus dem Grund keinen Kunstanspruch erheben, weil es – ein nur scheinbares Paradox – keinen Fehler oder Schnitzer erlaubt (wenn es an jedweder normativen Ordnung als eines Kriteriums mangelt).

Den Mißgriff des Pianisten bei der Interpretation einer Klaviersonate von Mozart, Beethoven oder Schubert hört das kultivierte Ohr des Kenners unmittelbar heraus; doch sind wir in der zweideutigen Lage, zwischen Ton und Mißton mangels ästhetisch-normativer Kriterien nicht mehr unterscheiden zu können, sind wir weder willens noch befugt, von Musik zu reden.

Normative Ordnungen sind weder ideale Modelle und ewig gültige, zeitlose platonische Formen und Ideen noch haben sie den Status transzendentaler Gesetze wie bei Kant; sie sind langlebig, doch können sie wie die strenge architektonische Ordnung der antiken Tempelanlagen und die musikalischen Vorschriften der phrygischen oder lydischen Tonskalen der Griechen mit deren Kultur untergehen oder aufgrund von auftretenden Inkonsistenzen ihren Anspruch auf formale Gültigkeit und Universalität verlieren, wie die Risse und Sprünge zeigen, die Kierkegaard zwischen dem Anspruch sittlicher Allgemeinheit und der Forderung religiöser Innerlichkeit entdeckt hat.

Die Norm ist kein empirisches Datum; die Sprache ist zwar empirisch in all den Verlautbarungen und Notaten vorhanden, die wir erfassen mögen; doch können wir in die normative grammatische Ordnung der Sprache nicht willkürlich eingreifen und beispielsweise dekretieren, daß wir nunmehr mit dem grammatischen Geschlecht das sexuelle Geschlecht bezeichnen, also mit dem Ausdruck „Sprecher“, „Bürger“ oder „Zuschauer“ nur Vertreter des männlichen Geschlechts; wir können ebensowenig durch Hinzufügung willkürlicher Zeichen den mitgemeinten Bereich großzügig, aber leider normwidrig, von der grammatischen Polarität vollständig ablösen und in ein schillerndes Spektrum zur Benennung realer oder imaginärer sexueller Geschlechter ausweiten.

Wir können sagen: „Sie fragte. – Er antwortete.“ Doch wir können nicht, was einzig unsere Grammatik noch hergäbe, sagen: „Es sprach“, denn das Neutrum des Pronomens bezieht sich auf eine stumme Sache.

Wenn wir in einer amtlichen Mitteilung aus den fünfziger oder sechziger Jahren lesen: „Alle wahlberechtigten Bürger der Gemeinde nahmen an der Kreistagswahl teil“, müßten wir die Wahrheit dieses Satzes anzweifeln, wenn wir das grammatische mit dem sexuellen Geschlecht identifizierten und unter „Bürger“ nur die männlichen Vertreter der Gattung verstünden.

Die normative Ordnung der Sprache zeigt sich daran, daß wir nichts sagen können, was nicht andere im Prinzip auch sagen könnten oder hätten sagen können.

Wir sind berechtigt, jemanden, der inkohärente und inkonsistente Behauptungen aufstellt, der Gedankenlosigkeit, der Falschmünzerei oder der Selbsttäuschung zu zeihen oder zu verdächtigen.

Wir nennen eine Person, die sich sträubt oder unfähig ist, sich einer normativen Ordnung wie den logischen Anforderungen an Kohärenz und Konsistenz der eigenen Überzeugungen zu fügen, uneinsichtig oder willensschwach.

Die Zusage, das Versprechen, die Vereinbarung sind der sprachliche Keim der sittlichen Ordnung. – Einer philosophischen Sonder- und Hypermoral wie der Moralphilosophie eines Kant oder der Diskursethik eines Apel und Habermas bedürfen wir nicht; die normativen Implikationen unseres alltäglichen Sprachgebrauchs genügen unseren bescheidenen, doch elementaren Ansprüchen als Zoon politikon.

Eine soziale Ordnung, in der das gegebene Wort nicht mehr zählt, ist zum Untergang verurteilt.

Normative Ordnungen beruhen auf einem sprachlich strukturierten Weltbild, das in unseren Äußerungen zumeist unausgesprochen, stillschweigend oder implizit vorausgesetzt wird: Wenn wir zusagen, unserem Freund das geliehene Geld in zwei Wochen auszuhändigen, gehen wir davon aus, daß sich die Bedeutungen dessen, was wir mit Geld, einem Kredit, einer Rückzahlung, ja mit Stunde, Tag und Woche meinen, bis dahin nicht geändert haben werden.

Freilich, der gleichsam apokalyptische Fall ist nicht undenkbar, daß mit einem plötzlichen Entzug der allgemeinen Anerkennung gewisser Münzen und bunter Scheine als Zahlungsmittel auch der Sinn der Begriffe „Kredit“ und „Rückzahlung“ vom Malstrom des Untergangs der sozialen Ordnung verschluckt wird.

Der Tadel, der Verweis, der richterliche Urteilsspruch sind Instantiierungen des Sanktionsregimes, das jedem System sozialen Lebens eigentümlich ist. Derjenige, der befugt ist, den Schüler wegen eines Fehlers zu tadeln, den Linksabbieger im Kreisverkehr einer Ordnungswidrigkeit zu verweisen, den Delinquenten zu einer Haftstrafe zu verurteilen, muß über die Autorität verfügen, die ihn aufgrund seiner Funktion und seines Amtes als Lehrer, Polizist und Richter legitimiert, Sanktionen auszusprechen und wirksam werden zu lassen.

Ein Sozialsystem ohne ein Sanktionsregime, das die Einhaltung seiner Normen kontrolliert und reguliert, zerfällt; der Schüler wird aufmüpfig und die Schule ein Ort des sozialen Unfriedens und der Randale, der Verkehr bricht zusammen, unbescholtene, doch wehrlose Bürger, Frauen und Greise trauen sich im Dunkel nicht mehr auf die Straße.

Es gibt nicht nur das Fieber bei grippalem Infekt; es gibt auch das geistige Fieber, das durch die gefährlichen Viren fanatischer Ideologien und endzeitlicher Heilslehren ausgelöst werden und unbehandelt zu ebenso zerstörerischen Folgen für die Gemeinschaft führen kann wie das von einer schweren Grippe verursachte für das Individuum.

Die Ordnung des Ameisen- und Termitenstaates wird kausal durch die Wirkung bestimmter chemischer Duftstoffe aufrechterhalten, bei deren Versagen eine Art Bürgerkrieg zwischen den Kasten der in Anarchie gestürzten Insekten entbrennt; die Ordnung der menschlichen Gemeinschaft wird intentional durch die Wirkung der Anerkennung der geltenden normativen Ordnungen aufrechterhalten, bei deren Versagen ebenfalls ein Bürgerkrieg auszubrechen droht.

Normative Ordnungen können sich nicht ohne ihre symbolische Darstellung artikulieren und Geltung verschaffen; die Ursymbole traditioneller sozialer Ordnung sind die herrscherlichen Tiere Löwe und Adler, sie werden zu Emblemen der Souveränität. Die Verbindung mit der vergöttlichten Sonne leisten die edelsteinfunkelnde Krone, das leuchtende Szepter und der goldene Herrscherstab. – Pindar beschwört die Macht des hymnischen Gesanges, wenn er dem Adler des Zeus, der auf seinem Herrscherstab hockt, die Lider schwer werden und ihn die Flügel herabsenken und einschlummern läßt.

Souverän ist, wem man die Entscheidung in der Krise aufbürdet; ist sie glücklich, singt man sein Lied, kann sie dem Chaos nicht wehren, macht man ihn zum Sündenbock.

Nur wir sprachbegabten Lebewesen unterliegen normativen Ordnungen; wir folgen Verpflichtungen, die aus der Anwendung sprachlicher Fähigkeiten erwachsen; denn durch sprachlich artikulierte Normen gebunden sein heißt beispielsweise eine Zusage und ein Versprechen machen, kurzum, zu seinem Wort stehen.

Auszeichnung und Degradierung als Weisen der Statuserhöhung und der Statusminderung sind normativen Ordnungen von Gruppen wesentlich: daher die eminente Bedeutung von Abzeichen, Ehrenzeichen, Orden, Zeugnissen und Preisen.

Informelle und formale Inklusion und Exklusion als Weisen der Einbindung und der Ausschließung aus Gruppen, Verbänden und Organisationen sind für das Entstehen und den Erhalt von normativen Ordnungen konstitutiv; wer den Eignungstest bestanden und das Vorstellungsgespräch mit Bravour absolviert hat, wird in das Unternehmen aufgenommen, wer gegen die Hausordnung verstoßen oder seinen Aufgaben nicht gerecht geworden ist, entlassen.

Diskurse können normative Ordnungen nicht begründen (aber wenn sie unter großem Echo in Frankfurt stattfinden an ihrer Zersetzung mitwirken); vielmehr ist es die unter dem Risiko des Scheiterns und Mißerfolgs getroffene Entscheidung jener, die beispielsweise einen Verein gründen, nur Mitglieder aufzunehmen, die den Vereinsstatuten entsprechen.

Organisationen von Gruppen sind von Haus aus normativ und exklusiv ausgerichtet: Nur wer ihren Zwecken dient, ihre Traditionen anerkennt und ihre Sprache spricht, kann hoffen, in sie aufgenommen zu werden.

Wer sich aufs Angeln versteht, darf auch Anglerlatein sprechen.

Wir unterscheiden normative Ordnungen danach, ob ihre Verpflichtungen und Sanktionen informell zur Wirkung gelangen, wie beispielsweise in einem Orchester, bei dem der Dirigent und die Partitur den Maßstab des Vorgeschriebenen angeben, oder formal ausgearbeitet und fixiert sind, wie beispielsweise bei einer Handelsgesellschaft, für die der amtliche Gründungsvertrag Gegenstand, Zweck und anzuwendende Mittel und Methoden notariell beglaubigt und festhält.

Formale Organisationen unterscheiden wir nach der Dichte und Strenge ihrer Regularien, Auflagen und Richtlinien; so den Wanderverein vom Malerbund, den Sportclub vom Zirkel einer religiösen Sekte, das Unternehmen von der Heeresorganisation.

Normative Ordnungen gehorchen, soweit sie eben normativ sind, keinen kausalen Gesetzen; daher ist es widersinnig, von einer Befehlshierarchie innerhalb der Regionen und neuronalen Vorgänge des Gehirns zu reden oder von Regeln und normativen Regulationen tierischen Verhaltens bei Vogel- und Fischschwärmen, Insektenstaaten und Primatenhorden; denn diese sind keine informellen oder formalen Organisationen, sondern mittels unbedingter und bedingter Reflexe gesteuerte Tierverbände.

Formale Organisationen sind rechtlich und rechtskräftig kodifiziert; das erhellt eine ihrer hervorstechenden Funktionen, das Amt, bei dem wir von pflichttreuer Wahrnehmung, aber auch von Amtsmißbrauch sprechen.

Auch Streit, Konflikt und Krieg können wir nur verstehen, wenn wir sie als Teil und Moment normativer Ordnungen betrachten. Der Streit der Bauern um den Grenzverlauf ihrer Felder und der Streit der Erben und Miterben um die genaue Interpretation des im Testament niedergelegten Willens des Erblassers sind nur verständlich vor dem Hintergrund der im Bodenrecht und im Erbrecht explizierten normativen Ordnung des Eigentums.

Der Konflikt zwischen nomadisch geprägten und bäuerlich-städtischen Kulturen, der noch heute im Hintergrund der Auseinandersetzung zwischen islamischen und westlichen Gruppen, Nationen und Staaten mitschwingt, ist unauflösbar, weil er den Hintergrund zweier gegensätzlicher normativer Ordnungen ins Spiel bringt.

Der Krieg dagegen kann ein bewaffneter Konflikt zwischen Staaten oder im Falle des Bürgerkriegs zwischen sozialen und ethnischen Gruppen innerhalb einer Nation sein. In beiden Fällen können einander widersprechende normative Ordnungen ins Spiel und Feld geführt werden, die nicht miteinander verträglich sind; dann kann der Konflikt zu einem Kampf um Sein oder Nichtsein wie im Krieg der Römer und Punier und der Roten und Weißen nach der Russischen Revolution oder im Konflikt zwischen Bolschewiken und Menschewiken und den urbanen roten Garden und den Kulaken und Bauern in der Sowjetunion und in Rotchina ausarten. – Ein Verhandlungsfrieden oder ein sozialer Kompromiß dagegen setzt die Übereinstimmung der Kriegs- und Konfliktparteien hinsichtlich grundlegender Züge und Aspekte einer gemeinsamen normativen Ordnung voraus; dies ist offenkundig der seltenere Fall in jenen Blättern der Geschichte, in denen wie Hegel sagt das Glück nicht federführend zu sein scheint.

Jene, die mit der Utopie hausieren gehen, eine Abwälzung des lästigen Drucks normativer Ordnungen oder, wie Freud es hellsichtig nannte, des „Unbehagens an der Kultur“ eröffne der geplagten menschlichen Existenz das Tor zu einem goldenen Zeitalter der Egalität und Gerechtigkeit, gleichen Kynikern ohne das Salz sokratischen Witzes, also Hunden, die sich in der Sonne räkeln, doch die tragische Wahrheit verkennen, daß nur normative Ordnungen wie die Sprache, die Organisationen der Daseinsvorsorge und die Symbolisierungssysteme des künstlerischen Ausdrucks dem Menschen ein Maß von Selbstachtung, Größe und Souveränität zu vermitteln vermögen, ohne das er zur unwürdigen faulen Existenz herabsinkt.

 

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