Skip to content

Norm und Perversion

04.08.2020

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Wäre wie in der frühen Christenheit Keuschheit und sexuelle Askese das höchste Ideal, könnte der Widersacher keinen moralischen Stich mit dem Argument machen, würden es alle beherzigen, stürbe die Menschheit aus. – Denn daß es die Menschheit geben soll, läßt sich nicht aus der Tatsache ableiten, daß es sie gibt.

Die Existenz einer Sache ist kein Argument, weder für sie noch gegen sie.

Der Biologe definiert Sexualität als Verhalten, das im darwinistisch günstigen Fall zur Vereinigung von männlichen und weiblichen Gonaden, von Samenzellen und Eizellen führt. – Gott aber, so sagt es die biblische Offenbarung, schuf sie nach seinem Bilde, als Mann und Weib erschuf er sie und trug ihnen auf: „Wachset und mehret euch!“

Wenn Sexualität ein natürliches Verlangen darstellt, ist es nicht töricht, sie zum moralischen Ideal zu erheben? – Doch weshalb sollten moralische Gebote ihr Kriterium an der Tatsache finden, daß wir sie nur widerstrebend erfüllen?

Wer wie Sigmund Freud zu wissen glaubt, daß gewisse natürliche Verhaltensneigungen, wie die sexuelle Anziehung zwischen Mann und Frau, zugleich eine Norm begründen, muß die davon abweichenden Neigungen wie Homosexualität, Sadismus, Masochismus oder Fetischismus folgerichtig als Perversionen betrachten.

Und Freud tut genau dies; doch kann er Perversionen nicht als Naturwissenschaftler diagnostizieren: Der seriöse Biologe kann ja nur statistische Aussagen treffen, nämlich, daß die Mehrheit der Mitglieder der menschlichen Spezies heterosexuelle Neigungen aufweist und eine Minderheit davon abweichende. Freud kann von abweichenden Neigungen als Perversionen nur als Psychiater reden, dem ein gewisses Ideal seelischer Gesundheit und Krankheit vorschwebt.

Ist aber seelische Krankheit nicht ein Symptom körperlicher Krankheit, wie die Psychose ein Symptom degenerativer Veränderungen des Gehirns?

Von einem Dementen erwarten wir nicht, daß er ein gegebenes Versprechen hält. Wir betrachten ihn in dieser Hinsicht nicht (mehr) als moralische Person. – Der Mörder, der seine Tat unter dem Einfluß eines psychotischen Verfolgungswahns begangen hat, wird strafrechtlich nicht belangt.

Der Unterschied von Mensch und Tier läßt sich auch so fassen, daß wir Tiere nicht als moralische Personen gelten lassen, die ein Versprechen einlösen oder brechen, einen Mord begehen oder verhüten, sich für eine Untat schämen oder sie wiedergutmachen oder sie mit fadenscheinigen Gründen bemänteln.

Mord ist kein natürliches Vorkommnis, moralische Personen sind keine natürlichen Personen.

Das Tier unterscheidet sich vom Menschen darin, daß es weder Verbrechen begehen noch geisteskrank werden kann.

Der Ehebrecher scheint aus dem Schneider zu sein, wenn seine Frau ihm den Seitensprung nicht verargt oder ihn mit gleicher Münze heimzahlt; der Straftatbestand des versuchten Mordes bleibt bestehen, auch wenn der Betroffene in christlicher Demut dem Schurken die Tat verzeiht.

Der Unterschied von Mensch und Tier läßt sich auch so fassen, daß wir Tiere nicht als natürliche Personen gelten lassen, deren seltsames Gebaren und Verhalten wir als Folge einer seelischen oder geistigen Erkrankung erklären.

Der vereinsamte alte Mann wird unwirsch, herrisch, aggressiv; das Verhalten des Schoßhündchens, das zu knurren beginnt und bissig wird, werden wir nicht als Symptom einer Neurose erklären.

Wie Nietzsche markig zu behaupten, alle unsere moralischen Begriffe würden hinfällig, wenn man den Gott des mosaischen Gesetzes vom Thron stößt, ist ähnlich begrifflich konfus und töricht, wie zu sagen, eigentlich lebten wir in einer farblosen und gestaltlosen Welt, denn die Weise, wie wir die Welt sehen, nämlich farbig und perspektivisch, sei nur die Folge unserer zufälligen subjektiven Beschaffenheit.

Die Röte der Rose ist genauso ein echter Bestandteil unserer Welt wie ihr Duft und ihre Schönheit oder die Tatsache, daß sie jemanden als Geschenk eines Freundes erfreut.

Wir können sagen, daß diese Rose rot ist, ohne uns über ihr Sein an sich zu betrügen, denn dieses ist eine Chimäre.

Nichts verpflichtet uns, irgendwelche Theorien der Naturwissenschaft, ob der Physik oder der Evolutionsbiologie, als unabdingbare Muster unseres Alltagsverständnisses zu übernehmen.

Ich gehe nicht als Mitglied der Spezies Homo sapiens spazieren, sondern als der Mensch dieses Namens mit dieser Biographie.

Wir können sagen, daß uns diese Tat für einen Mord gilt, ohne uns darum zu scheren, daß sie im Tierreich, dem Stamm X oder unter Robotern keinen Gegenbegriff hat.

Freud ist insofern begrifflich konfus, als er naturkundliche oder statistische Begriffe wie abweichendes Verhalten mit normativen Begriffen wie Perversion und Geisteskrankheit vermengt.

Wir legen eine Tonskala, ob tonal oder atonal, zugrunde und betrachten sie als Muster, das eine gegebene Komposition erfüllt oder nicht erfüllt.

Wir sagen, dieses Gedicht sieht so aus wie ein Sonett, ist aber keines, weil es das Muster, zwischen den Quartetten und Terzetten eine gedankliche und metaphorische Linie einzuziehen, nicht erfüllt.

Wir lassen es als Entschuldigung gelten, wenn unser Freund die Tatsache, grußlos an uns vorübergegangen zu sein, mit einer momentanen geistigen Abwesenheit erklärt; nicht aber, wenn der Schreiber des scheinbaren Sonetts uns den Pfusch mit seiner momentanen Zerstreuung zu erklären trachtet.

Es gibt keinen Begriff von Kunst ohne normative Implikationen; wenn wir darunter auch bloß eine Menge von Mustern verstehen und kein universal gültiges Ideal.

Wir erheben die Natur unserer Sexualität, verstanden als natürliches Verlangen nach Zeugung und Nachkommenschaft, zur Norm, wenn wir (etwa im Sinne Platons) Fruchtbarkeit als kulturelles Kriterium ansetzen und kulturell höherstufiges Verhalten kulturell unfruchtbarem, destruktivem und selbstzerstörerischem gegenüberstellen.

Wer ist dieses Wir, das die Natur zum normativen Muster erhebt? Nun, eine Elite, ein Volk, eine Kulturnation wie die Griechen, die Römer, die Franken.

Die Einsicht, daß Norm und Perversion begrifflich unauflöslich verflochten sind, ist so grausam und herrlich wie die Einsicht in die Todumfangenheit des Lebens.

Die Reduktion von fruchtbarer Sexualität oder produktivem Tun auf rein selbstbezügliche Erotik oder dem, was Kierkegaard die ästhetische Existenzform nennt, wäre in diesem Sinne eine Grundform von Perversion.

Wie wir die Dinge nicht ohne Farbe, Gestalt und Perspektive wahrnehmen können, so keine moralisch relevante Handlung und kein Kunstwerk, ohne sie an Wertmaßstäben und Mustern zu messen und zu gewichten.

Wir können uns im eigentlichen Sinn im Traum nicht verrechnen, denn auch die scheinbar angewandten Rechenregeln sind Bestandteil des Traums; geträumte oder bloß vorgestellte Regeln und Muster aber sind gar keine Regeln und Muster.

Der denkwürdige Vergleich der Hervorbringung des Kunstwerks mit dem sexuellen Akt, Zeugung und Schwangerschaft: das notwendige Dunkel, die Ungewißheit, die Nacht der Tragezeit; die Qualen der Geburt; die Freude über das Werk, wenn es das Licht der Welt erblickt, es sei denn, es war eine Eintagsfliege, eine Fehlgeburt oder eine Mißgeburt.

Daß einer mit einem Kunstwerk schwanger geht, läßt sich füglich nur vom Manne sagen.

Die kulturellen Relativisten sind ähnlich begrifflich konfus und bedeutungsblind wie die amoralischen Naturalisten. Die Naturalisten sagen, Farben und Werte seien Illusionen, die eigentliche Welt der physikalischen Dinge sei farblos und jenseits aller visuellen (und anderer ästhetischer) und moralischer Qualitäten. Die kulturellen Relativisten sagen, ästhetische und moralische Werte seien subjektive Zutaten zu dem Kuchen unseres Hier- und Soseins, der an sich nach nichts und daher jedem anders schmecke.

Kein Begriff von Fehler ohne Muster korrekten Verhaltens, kein Begriff von Perversion ohne normative Muster. Wenn wir den Begriff des Fehlers oder die Möglichkeit, Fehler und Fehlschlüsse zu machen, streichen, wird alles Rechnen, Argumentieren, Urteilen sinnlos. Wenn wir den Begriff der Perversion oder die Möglichkeit, moralische Fehler und Untaten zu begehen, streichen, wird alles Handeln, Rechtfertigen, Bewerten sinnlos.

Sokrates nahm an, gedankliche und moralische Fehler beruhten auf Geistesschwäche, der Unfähigkeit zur Einsicht in ein universal gültiges oder ideales Muster; doch bedürfen wir keiner allgemeinen Idee des Guten, um spontane Gewißheit darüber zu erlangen, daß unser Tun von Übel ist. Darüber hinaus ist sein Irrtum umso bedenklicher, als er den Hang zur Perversion oder der Herabwürdigung normativer Muster, ob ästhetischer oder moralischer Provenienz, als mentale Schwäche verkennt; er erweist sich indes als eine dämonische Macht, welche die biblische Offenbarung mit dem Bild von der Ursünde erhellt.

Dies scheint das Eigentümliche an der dämonischen Macht der Perversion, ob sexueller, ästhetischer oder moralischer Natur: Sie bezieht ein Großteil ihrer Energien und Antriebe gleichsam aus der Polemik oder dem Krieg gegen die normativen Muster des Feindes (der Mutter, des Vaters, der Familie, kurz des Patriarchats, der Schönheit, der liebenden Sorge, des Anstands). Ihre Exzesse der Obszönität, der Verhäßlichung und Degradierung werden von den medialen Voyeuren gierig aufgesogen und als Sprach- und Bilderbrei unter allgemeinem Applaus wieder erbrochen.

 

Comments are closed.

Top