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Noch einmal: Verstehen

17.07.2016

Du zeigst der Kellnerin das leere Salzfaß mit den Worten: „Das ist leer!“ – Sie antwortet: „Soll ich Ihnen ein neues holen?“

Hier ist etwas gründlich schiefgelaufen. Die Kellnerin versteht natürlich, was du meinst, wenn du sagst, das Salzfaß sei leer, nämlich: daß das Salzfaß leer ist. Wir nennen diese basale Ebene des Verstehens das Bedeutungsverstehen oder das Sinnverstehen und meinen damit, einen Satz oder einen sprachlichen Ausdruck anhand seiner semantischen und syntaktischen Zusammensetzung verstehen zu können.

 

1. Bedeutungsverstehen oder Sinnverstehen

Es ist offenkundig, wie unser Beispiel zeigt, daß wir im alltäglichen Umgang mit dem reinen Bedeutungsverstehen nicht auskommen. Auch die wohlmeinende Empfehlung, zur Vertiefung unseres Sinnverstehens den sprachlichen Kontext zu Rate zu ziehen, fruchtet nicht, sondern führt uns an der Nase im linguistischen Kreis herum. Denn wenn ich mich über das Salzfaß verbreite und mit einem Bezugswort auf dieses Substantiv verweise, weißt du zwar, daß mit der Wendung „Das ist leer“ gemeint ist „Das Salzfaß ist leer“ – aber was ich der Kellnerin damit bedeuten will, erschließt sich aus diesem hermeneutischen Winkel keineswegs, ja der ausschließlich hermeneutische Ansatz des Bedeutungsverstehens führt uns geradewegs in eine Sackgasse.

 

2. Logisches Verstehen

Wir gehen davon aus, daß logisches Verstehen eine vom Bedeutungs- und Sinnverstehen unabhängige und autonome Form des Verstehens darstellt, die sich vor allem aus der Anwendung der Negation und der regelhaften oder systematischen Ableitung von Sätzen aus anderen Sätzen durch die Anwendung von Konjunktionen wie „und“ und „oder“ ergibt: „Das ist leer“ ist ja ein semantisches Kürzel der logischen Vollform: „Es ist nicht der Fall, daß dieses Ding gefüllt ist.“

Wenn wir zwei Sachlagen voraussetzen, die unsere Entscheidung, spazieren zu gehen, begründen, können sie entweder beide gelten oder zumindest eine von ihnen: Wir gehen nach draußen, wenn die Sonne scheint UND wir Regenschirme dabeihaben, oder wir gehen spazieren, wenn die Sonne scheint ODER wir Regenschirme dabeihaben. Im ersten Falle gehen wir weder spazieren, wenn die Sonne nicht scheint, noch wenn wir die Regenschirme vergessen haben. Im letzten Falle gehen wir auch spazieren, wenn die Sonne nicht scheint und es regnet, denn wir haben uns mit Regenschirmen bewaffnet.

Wenn wir abgemacht haben, einen Spaziergang zu unternehmen, falls die Sonne scheint oder das Wetter freundlich ist, und ich mit einer Geste auf das Fenster den Satz äußere „Es regnet“, kannst du aus diesem Hinweis logisch den Schluß ziehen, daß wir unter Voraussetzung der strikten Einhaltung unserer Abmachung nicht spazieren gehen werden:

A: Wenn die Sonne scheint, gehen wir spazieren
B: Wenn die Sonne nicht scheint, gehen wir nicht spazieren
C: Es regnet
Ergo: Wir gehen nicht spazieren

Übertragen in die logische Vollform:

A: Es ist nicht der Fall, daß die Sonne nicht scheint: Wir gehen spazieren
B: Es ist nicht der Fall, daß die Sonne scheint: Wir gehen nicht spazieren
C: Es ist nicht der Fall, daß die Sonne scheint
Ergo: Wir gehen nicht spazieren

Wenn wir abgemacht haben, daß wir nur dann spazieren gehen, wenn die Sonne scheint, können wir unter normalen Umständen (die abnorme Umstände ausschließen wie, daß wir plötzlich beide tot umgefallen sind, das Haus über uns zusammengestürzt ist etc.) aus der Tatsache, daß wir unsere Plauderstunde unverdrossen fortsetzen, auch wenn die Zeit unseres gewöhnliche Spaziergangs längst angebrochen ist, FOLGERN, daß die Sonne nicht scheint oder das Wetter unfreundlich ist.

Wenn unsere Abmachung weniger rigid ausfällt und wir Handlungsalternativen (mittels der ODER-Konjunktion) einbauen, könnten wir am Ende aus der Tatsache, daß wir im Begriff sind und uns aufmachen, spazieren zu gehen, NICHT folgern, daß das Wetter freundlich ist, sondern daß wir uns angesichts der drohenden Wolken mit Regenschirmen bewaffnet haben.

Meine Geste auf das Fenster, hinter dem dunkle Wolken aufziehen, hat in diesem Falle entweder die Bedeutung zu deklarieren, daß unser Spaziergang ins Wasser fällt und wir somit nicht spazieren gehen, oder die Bedeutung, daß wir uns zu diesem Behufe mit Regenschirmen versehen und somit doch spazieren gehen.

A: Wenn die Sonne scheint, gehen wir spazieren
B: Wenn die Sonne nicht scheint, gehen wir nicht spazieren oder wir gehen spazieren
C: Es regnet
Ergo: Wir gehen nicht spazieren oder wir gehen spazieren

Wir weisen in diesem Rahmen nur darauf hin, daß solche und viele andere logischen Implikationen unser Alltagshandeln wie Grundmuster einen Teppich durchweben oder wie Grundfarben den Aufbau eines Gemäldes bedingen, ohne daß sie hinreichen würden, die Fülle der dargestellten Motive zu erschöpfen oder zu erklären.

 

3. Pragmatisches oder Handlungsverstehen

Natürlich ist deine Äußerung „Das ist leer!“ nicht die Feststellung der Tatsache, daß das Salzfaß, das du der Kellnerin vor die Nase hältst, kein Salz mehr enthält, sondern die in einem konstatierenden oder feststellenden Aussagesatz eingehüllte oder implizierte Aufforderung an die Kellnerin, doch bitte ein volles Salzfaß zu bringen oder das leere mit Salz aufzufüllen.

Der Reaktion der begriffsstutzigen Kellnerin mit der Frage, ob sie ein neues Salzfaß bringen solle, entnehmen wir, daß sie den pragmatischen oder Handlungsinn deiner Äußerung NICHT verstanden hat. Denn hätte sie ihn verstanden, hätte sie nicht mit einer Frage reagiert, sondern mit der Kundgabe ihrer Absicht, ein anderes gefülltes Salzfaß zu holen, indem sie etwa gesagt hätte: „Ich bringe Ihnen gleich ein neues!“

Wenn deine Äußerung „Das ist leer!“ als verständliche Aufforderung in der richtigen Situation von der richtigen Person richtig aufgefaßt werden soll, müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein, ohne die das pragmatische oder Handlungsverstehen leerläuft:

 

3.1 Wahrheitsbedingung

Deine Aufforderung muß die Wahrheit des Aussagesatzes implizieren, den sie enthält. Wenn du der Kellnerin ein volles Salzfaß vor die Nase hältst und äußerst „Das ist leer!“, scheitert die von dir (absurderweise) intendierte Aufforderung, ein neues gefülltes Salzfaß zu bekommen, an der Tatsache, daß der Aufforderungscharakter der Äußerung vom Adressaten nicht erkannt werden kann, weil die Wahrheitsbedingung nicht erfüllt ist.

Wenn du allerdings der Kellnerin das leere Salzfaß mit dem Kommentar vor Augen führst „Ihr habt ja mal wieder alles fleißig nachgefüllt!“, scheinst du der Wahrheitsbedingung zu widersprechen: Indes, weil du offenkundig und sonnenklar die Unwahrheit äußerst, wird deine Absicht, nach einem gefüllten Salzfaß zu verlangen, ohne weiteres erkannt. Wir nennen diese Form von Äußerungen, die ihre Intention mittels Negation der Wahrheitsbedingung anmelden, sprachliche Ironie oder einfach Ironie. Der ironische Sprachgebrauch hebt demnach die Wahrheitsbedingung nicht auf, sondern setzt sie voraus.

 

3.2 Regeln des Spiels oder Konformitätsbedingung

Wenn du statt der Kellnerin deinem Freund, mit dem du das Speiselokal aufgesucht hast, das leere Salzfaß mit dem Kommentar unter die Augen hältst „Das ist leer!“, wirst du nicht die Erwartung hegen, daß er deine Äußerung als Aufforderung versteht, dir ein volles Fäßchen zu besorgen. Es sei denn, wir versetzen uns in eine Welt mit der eigentümlichen Spielregel, daß dein Tischnachbar dein Knappe und Diener wäre und demgemäß deine Äußerung als Aufforderung verstehen sollte.

Daran ersehen wir en passant, daß sprachliches Verstehen im Sinne des pragmatischen oder Handlungsverstehens keineswegs durch anders aufgebaute historische Handlungs- und Spielräume relativiert wird, wie Kulturalisten und andere Relativisten zu meinen pflegen.

Unter Geltung unserer Spielregeln wäre der Sinn deiner Äußerung etwa: „In welchem feinen Restaurant sind wir hier gelandet, in dem man leere Salzfäßchen vorgesetzt bekommt!“ oder, wenn dein Freund das Pech hat, den Besuch eben dieses Lokals vorgeschlagen zu haben: „In was für ein feines Restaurant hast du mich da gelockt, in dem man leere Salzfäßchen vorgesetzt bekommt!“

Nun hat aber in der Welt unserer Spielregeln die Kellnerin die Rolle der „Dienerin“ oder Bediensteten und erweist sich damit als wahre Adressatin deiner Aufforderung. Würde sie dreist und unverschämt deine Äußerung „Das ist leer!“ mit dem Kommentar „Was schert es mich!“ parieren, hätte sie offenkundig die Regeln des Spiels verletzt oder die Konformitätsbedingung nicht erfüllt, deren Erfüllung für das Handlungsverstehen unverzichtbar ist.

 

3.3 Die Bedingung der Zeit

Als handelnde Wesen sind wir auf die unmittelbare oder fernere Zukunft ausgerichtet. Dich darauf hinzuweisen, daß es bald regnen wird, hat denselben pragmatischen Sinn wie die Äußerung, daß es zu regnen angefangen hat, nämlich: unseren geplanten Spaziergang zu vertagen oder sich mit Regenschirmen zu bewaffnen.

Als handelnde Wesen sind wir darauf angewiesen und mit dem sprachlichen Können vertraut, mittels syntaktisch-grammatischer Konstruktionen aus Wenn-dann-Gefügen Weltmodelle zu bilden, in denen wir Handlungsalternativen unterbringen können: „Wenn es nicht regnen wird, gehen wir spazieren“ können wir heute sagen, ohne zu wissen, was morgen für eine Wetterlage herrschen wird.

Aufforderungen (Wünsche) und Zusagen (Verpflichtungen) teilen unseren Handlungsbogen oder unseren Erwartungshorizont ziemlich genau ab: Deiner Erwartung, morgen mit mir einen Spaziergang zu machen, entspreche ich mit der Zusage, eben dies zu tun, falls keine außergewöhnlichen Ereignisse eintreten, die einen Hinderungsgrund darstellen.

Deiner Aufforderung an die Kellnerin, ein volles Salzfaß zu holen, entspricht ihre Zusage, eben dies zu tun. Dabei walten in unseren Äußerungen mit Aufforderungs- oder Verpflichtungscharakter die präsentischen und futurischen Verbformen vor, denn eine Äußerung wie „Dieses Salzfaß war gestern voll“ mag zwar die Wahrheitsbedingung erfüllen, nicht aber den pragmatischen Handlungssinn.

Wir ersehen daraus, daß unser pragmatischer Lebens- und Aktionssinn nicht auf die Vergangenheit oder die wahrheitsgemäße Abbildung vergangener Weltzustände geeicht ist: Erzählungen über Erlebtes und Geschehenes lassen wir gerne einfließen, um den Rahmen des gegenwärtigen und zukünftigen Erlebens zu füllen, wenn wir etwa vom zurückliegenden Strandurlaub an der Ostsee erzählen, um abzuwägen, ob wir wieder dorthin fahren sollen oder doch lieber in die Berge.

Die Wahrheitsbedingung und die Bedingung der Zeit konkurrieren gleichsam in unserem pragmatischen Weltumgang: Wahr oder falsch können unsere Aussagen insofern sein, als ihre Zeitstufe bis zur Gegenwart reicht – unser Leben und unsere intentionales Streben stehen aber immer an der Schwelle der Gegenwart, die unabsehbar ins Zukünftige reicht. Daher können wir unser Handlungswissen zwar durch Rückgriff auf logisches Verstehen und Implikationen aus wahren Aussagen über die Vergangenheit abzusichern versuchen, aber nie vollständig absichern und begründen, denn wir leben stets in einer Gegenwart, die in die Dimension der Zukunft und des mehr oder weniger Wahrscheinlichen mündet.

 

3.4 Pragmatische Implikatur und logische Implikation

Wie gesehen, müssen wir klar und streng zwischen logischem Verstehen und Handlungsverstehen unterscheiden. Logisches Verstehen ist die Voraussetzung dafür, den Handlungs- oder Aktionsmodus unserer Äußerungen in unsere alltägliche Weltorientierung und unsere alltäglichen Weltmodelle einzubauen. Dabei ist logisches Verstehen ein konstituierendes Element unserer Modellbildungen.

Verkehren die Züge im Stundentakt, ist evident, daß die im Fahrplan der Bahn unter der ersten Zeile aufgeführte Verbindung eine Stunde später am Zielort eintreffen wird. Wenn wir einen frühen Abzweig auf der Wanderkarte auswählen, müssen wir darauf gefaßt sein, die Hauptsehenswürdigkeit der großen Route zu verpassen. Wenn wir Geld auf einem Sparkonto parken, müssen wir in Kauf nehmen, bei stagnierenden oder fallenden Zinssätzen und gleichzeitig konstanter oder steigender Inflationsrate nicht ohne reale Verluste in der Bilanz davonzukommen.

Die Entscheidungen, einen späteren Zug zu nehmen, die frühe Abzweigung des Wanderwegs zu wählen oder Geld auf einem Sparkonto anzulegen, sind gleichsam in ein mehr oder weniger feinmaschiges Netzwerk logischer Implikationen eingebettet, aber aus keiner einzigen und auch nicht aus einer beliebigen Summe logischer Voraussetzungen ableitbar.

Unser Spiel- und Handlungsraum ist zwar ein Teil des logisch-semantischen Raumes, denn wir können alle unsere pragmatischen Äußerungen mit logischen Indizes der Implikation oder der logischen Voraussetzung versehen.

Doch wenn du im Büro im Beisein deiner Kollegen plötzlich ausrufst „Es zieht!“, und es zieht wirklich empfindlich durch das gekippte Fenster oder die einen Spalt offenstehende Tür, hast du eine logisch nicht ableitbare Entscheidung getroffen, deren pragmatische Implikaturen du nunmehr zu übernehmen und zu verantworten hast: Denn mit dieser Äußerung mit Aufforderungscharakter, nämlich das Fenster oder die Tür zu schließen, beanspruchst du eine einigermaßen herausgehobene Position, die deine Kollegen in die Rolle derjenigen drängt, deinen Wünschen ohne viel Federlesens nachzukommen – wärest du in einer Besprechung bei deinem Chef, würdest du, auch wenn es dich fröstelt, dir die Äußerung „Es zieht“ wohl verkneifen. Kommt dagegen dein Chef in dein Zimmer, um sich mit dir in Abwesenheit der Kollegen zu unterreden, wirst du seine Äußerung „Es zieht“ nicht nur richtig als Aufforderung verstehen, das Fenster oder die Tür zu schließen, sondern ihr auch ohne viel Federlesens nachkommen.

 

4. Symbolisches Verstehen

Du liest auf dem Fahrplan der Bahn den Namen zweier Städte und eine tabellarische Auflistung von Abfahrts- und Ankunftszeiten der Züge, die zwischen ihnen verkehren. Die Namen stehen für reale Orte wie Frankfurt oder Hamburg, sie werden durch die Schriftzeichen oder Kürzel wie FFM oder HH symbolisch vertreten oder repräsentiert.

Dabei spielt es keine Rolle, ob die Symbole eine Ähnlichkeit mit dem aufweisen, was sie repräsentieren, wie die Zeichen der Legende von Wanderkarten, bei denen blaue, sich schlängelnde Linien Flüsse oder Abbreviaturen von Türmen Kirchen oder Burgen repräsentieren, oder ob die Symbole keine Ähnlichkeit mit dem Symbolisierten haben, wie die Schriftkürzel FFM oder HH mit den Städten Frankfurt und Hamburg.

Bei allen symbolischen Modellbildungen spielt die Tatsache eine wesentliche Rolle, daß wir sie als unserer selbst bewußte Lebewesen entwickeln und anwenden: Handgreiflich wird dies bei den Wanderkarten am Rand von gehegten und mit Schildern ausgezeichneten Wanderbezirken, die den Standort des Betrachters eigens mit einem Pfeil kennzeichnen. Diese Form der Selbstrepräsentation steht für ein virtuelles Handlungsschema des Betrachters: „Wenn ich jetzt diesen Weg einschlage, komme ich in etwa 1 Stunde an mein Ziel.“

Dies gilt für alle symbolischen Formen, Muster und Schemata, auch wenn auf ihnen nicht eigens ein Sondersymbol für das virtuelle Aktionsfeld des Benutzers eingetragen ist: „Wenn ich einen Zug später nehme, werde ich 1 Stunde später an meinem Ziel ankommen.“

Auch Rituale, Schauspiele, Gedichte, Gemälde oder Musikstücke sind symbolische Modellbildungen, mit einem mehr oder weniger großen Grad der Ähnlichkeit zwischen den Symbolen und dem, worauf sie verweisen.

Der Täufling wird über das Taufbecken gehalten, der Priester spricht die Segens- und Weiheformel und begießt den Säugling mit einigen Tropfen geweihten Wassers. Der Sarg wird ins Grab gelassen, der Priester spendet den Segen und die Trauernden huldigen dem Toten ein letztes Mal, indem sie eine Blume auf den Sarg werfen oder ein wenig Erde darauf schütten. Der zum Mitglied einer Ehrengilde wie der Academie Française Erkorene wird feierlich mit einen Prunkgewand eingekleidet und setzt einen altertümlichen Hut auf. Diese und tausend andere rituellen Handlungsmuster bedienen sich realer Versatzstücke wie Wasser, Blumen, Erde und kostbarer Stoffe und Tücher, verwenden sie aber symbolisch, das heißt zum Ausdruck einer Handlungsabsicht wie derjenigen des Segnens, Weihens, Huldigens oder ruhmvollen Auszeichnens, die genau das sind, was sie sind, wenn sie eben diesen symbolischen Ausdruck finden – denn wie wollen wir einen Honoratior auszeichnen, ohne ihn in ein Festkleid zu stecken und ihn einen hohen Hut aufsetzen zu lassen?

Symbolisches Verstehen hat seine Voraussetzung in der Fähigkeit, den Typus der Zeichen zu identifizieren, die in symbolischen Handlungsfeldern abgesteckt und verwendet werden: Um die verschieden großen Punkte auf der Landkarte zu verstehen, müssen wir sie als Zeichen für Ansiedlungen und Städte nach Größen gestufter Einwohnerzahlen identifizieren; um die auf Rot stehende Ampel korrekt wahrzunehmen, müssen wir die Farbe Rot als Warn- und Alarmsignal identifiziert haben; um eine Pferdebild von Franz Marc zu verstehen, müssen wir den Blauton des Inkarnats als symbolisches Farbzeichen identifizieren, das uns an eine Art kosmisch-seelischer Harmonie erinnert; um die Namen heiliger Stätten und mythischer Wesen in Hölderlins Gedichten symbolisch verstehen zu können, müssen wir sie als Zeichen seelischer Haltungen und Eigenschaften identifizieren, also als Hinweise auf virtuelle Lebens- und Erlebensweisen in virtuellen dichterischen Welten; wenn in der Pastorale von Beethoven Hörnerklang ertönt oder Gewittergrollen durch die Becken und Trompeten schallt, müssen wir diese Anklänge an reale Geräusche als symbolische Tonzeichen identifizieren, die sowohl seelische Erlebnisweisen von Heiterkeit und Gelassenheit oder seelischer Krise und Anfechtung als auch die Möglichkeit ihrer geistigen Verarbeitung auf dem Hintergrund der Gesamtkomposition anregen.

 

5. Kleines Fazit

Natürlich verwechseln wir nicht Formen des Sich-Verstehens-auf-etwas (prozedurales oder funktionelles Verstehen) mit den bisher aufgeführten Formen sprachlichen und symbolischen Verstehens. Wir verstehen uns darauf, geschickt eine Schlaufe mit dem Schnürsenkel zu binden, wir verstehen uns aufs Fahrrad- oder Autofahren, Schwimmen und Skilaufen, wir verstehen es, im Kopf Wurzeln großer Zahlen zu ziehen, aus einem Holzklotz eine Plastik zu schnitzen, mit Tusche elegante oder monströse Visionen aufs Blatt zu werfen oder den Kontrapunkt im Kanon zu treffen. Alle diese Weisen des Verstehens kommen vielfach ohne Bedeutungsverstehen oder logisches und symbolisches Verstehen aus, denn sie sind Formen des Könnens, Fertigkeiten, die sich mit Gewohnheiten und Musterbildungen von Handlungen verbinden, allerdings sich auch wie Zeichnungen oder Gesangsdarbietungen sekundär mit symbolischen Leistungen und Äußerungen anreichern mögen.

Wer nicht schwimmen oder Auto fahren oder Ski laufen kann, kann es eben nicht; immerhin ist der Bereich des Sich-Verstehens-auf-etwas oder das Können vor den Kalamitäten und Mißverständnissen im Umgang mit dem pragmatischen Handlungssinn geschützt. Das zeigt unser Beispiel von der Kellnerin, die sich ohne weiteres darauf versteht, unsere Bestellung auf einem Silbertablett sicher durch die Gänge zu balancieren oder uns bei der Abrechnung korrekt das Kleingeld herauszugeben, aber den Aufforderungscharakter der Äußerung „Das Salzfaß ist leer!“ nicht verstanden hat.

Wir können systematisch allen Weisen des Verstehens die korrespondierenden Weisen des Nichtverstehens oder Mißverstehens zuordnen. Wenn die Kellnerin deine Äußerung „Das ist leer!“ als Serbin, die noch nicht lange in Deutschland lebt, nicht versteht, scheitert die Kommunikation an ihrem Mangel an korrektem Bedeutungs- oder Sinnverstehen. Wenn du aus meiner Äußerung „Es regnet“ auf die vermeintliche Tatsache schließen solltest, daß wir nicht spazieren gehen werden, scheitert die Kommunikation an deinem Mangel an logischem Verstehen, denn mein Hinweis auf den Regen bedeutet, daß wir entweder zu Hause bleiben oder uns mit Regenschirmen bewaffnet nach draußen wagen. Wenn ich vor der Wanderkarte am Waldrand stehe und den roten Pfeil, der meinen Standort anzeigt, nicht als Zeichen der Selbstrepräsentation verstehe, scheitert mein Vorhaben am Mangel an symbolischem Verstehen. Wenn jemand vor einem Pferdebild von Franz Marc den Kopf schüttelt angesichts des blauen Inkarnats der Tiere, scheitert seine ästhetische Wahrnehmung am Mißverständnis der symbolischen Modellbildung, die ein Gemälde dieser Art darbietet.

Alle Mißverständnisse unserer Alltagskommunikation lassen sich jederzeit dadurch beheben, daß wir sie zunächst dem jeweiligen Typus des Bedeutungs- oder Sinnverstehens, des logischen oder symbolischen Verstehens sowie des pragmatischen Verstehens zuordnen und sodann ihre Gründe im Funktionsbereich des Verstehenstyps vermessen. Wenn du meine Äußerung „Gehen wir ein wenig spazieren?“ als Frage mißverstehst, dann weil du den Aufforderungscharakter dieser in eine Frage gehüllten adhortativen Mitteilung nicht verstanden hast. Wenn ich deine Äußerung „Wird sich das schöne Wetter halten?“ als Aufforderung mißverstehe, den geplanten Ausflug nunmehr zu unternehmen, dann weil ich den echten Fragecharakter deiner Äußerung nicht verstanden habe – Mißverständnisse, die offensichtlich durch weiteres Nachfragen leicht zu beheben sind.

Das gibt uns die wichtige Lehre mit auf den Weg, daß es keine prinzipiellen oder grundsätzlichen Mißverständnisse im Bereich unserer alltäglichen Weltorientierung geben kann – so wie es keine prinzipiellen und unbeantwortbaren Fragen im Bereich der Philosophie geben kann, denn Fragen, die so aussehen, sind Fragen, die aus den Maschen unseres logisch-semantischen Netzwerks fallen, und auch gut und gerne fallen gelassen werden können.

Wir sollten Intelligenz, wie es zu geschehen pflegt, nicht ausschließlich an der Fähigkeit des logischen oder prozeduralen Verstehens messen – der weite, verästelte und faszinierende Bereich des pragmatischen oder Handlungsverstehens einschließlich des symbolischen Verstehens ist ein genuines Feld, auf dem der Kluge sich immer wieder unter Beweis stellen und der Dumme immer wieder auf die Nase fallen kann.

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