Skip to content

„Natur“ und „Gesellschaft“

16.10.2015

Von theoretisch überflüssigen, aber praktisch unentbehrlichen Begriffen

Soziologen machen Aussagen wie diese: „Die von mir erhobenen Daten über die Herkunft des Verdächtigen, seine familiäre Situation, seinen Bildungshintergrund, seine Beschäftigungssituation sowie seine Integration in soziale Kontexte wie Gruppen oder Vereine passen zum Täterprofil, wie wir es von unseren Kollegen aus der Kriminalistik erhalten haben.“ Durch Aussagen dieser Art wird suggeriert, man könne aus Daten über soziale Fakten und Kontexte Handlungen von Individuen sei es ursächlich ableiten oder prognostizieren.

Doch wenn ich weiß, daß Herr X aus einer randständigen, unterprivilegierten oder armen, bildungsschwachen Problemfamilie mit einem trunksüchtigen Vater und einer querulatorischen Mutter stammt, halte ich es wohl für nicht unwahrscheinlich, daß Herr X nicht ins leitende Management eines Großkonzerns aufsteigen wird – bis ich in Erfahrung bringe, daß er in katholischem Milieu aufwuchs, die großzügige Förderung durch die Kirche genoß und sich über den zweiten Bildungsweg an der kirchlichen Hochschule bis zur Erlangung der Doktorwürde in BWL durchschlug: Kürzlich wurde er für den Aufsichtsrat eines Konzerns optiert.

Was Soziologen mit ihren Hypothesen über recherchierte Daten und Fakten über soziale Kontexte wie Herkunft, Bildung, Konsumverhalten oder Kriminalität im besten Falle zu erfassen gelingt, sind Aussagen über typische Muster des Verhaltens oder typische Muster von Einstellungen, die keinen genuin wissenschaftlichen Anspruch auf Erklärung oder fundierte Voraussagen über die Handlungen und Einstellungsmodifikationen einzelner Individuen erheben können.

Weil Menschen keine Automaten sind, können wir ihr Verhalten weder berechnen noch voraussagen. Der Arbeiter, der Akademiker, der Unternehmer stehen in der Wahlkabine und machen ihr Kreuz bei der Partei, von der der Soziologe wissen wollte, daß sie mit ihrem sozialen Profil nicht übereinstimme.

Wenn die Physiker im CERN über ihre Booster und den großen Ring Protonen auf beinahe Lichtgeschwindigkeit beschleunigen und aufeinanderprallen lassen, untersuchen sie mit komplexen Analyseapparaten wie ATLAS die neu entstehenden Teilchen und Antiteilchen. Dabei gehen sie ihrer Theorie gemäß davon aus, daß mit hoher Wahrscheinlichkeit die Materiestücke auftauchen werden, welche die Theorie voraussagt. Dabei können sie allerdings auch ein Teilchen aufspüren, das bisher kein Detektor erwischt hatte, weil es erst vor wenigen Jahren Eingang in die Theorie gefunden hat und nach dem zuvor überhaupt nicht systematisch gesucht worden war, das dann aber von einem schlauen Theoretiker als existent postuliert wurde, wie das Higgs-Boson, dessen Existenzannahme eine Lücke in der Theorie der Schwerkraft gefüllt hat und dessen Existenzbeweis den Technikern und Physikern am CERN gelungen zu sein scheint. Das wissenschaftliche Verfahren bestand also darin, etwas zu suchen, wonach man bisher nicht gesucht hat: Dieses Etwas füllte die Lücke in einem theoretischen Konzept, die seine Auffindung geschlossen hat. Wäre dieses Etwas nicht auffindbar, entstünde ein zunehmender Druck, die Theorie als ganze in Frage zu stellen.

Die gleichsam letzten Realitäten der Physik lassen sich nicht unmittelbar beobachten, sondern folgen aus komplexen Annahmen und werden aus komplexen Abläufen physikalischer Meßgeräte erschlossen. Ob wir den Rahmen all unserer Annahmen und Folgerungen hinsichtlich physikalischer Vorgänge mit dem Namen „Natur“ benennen, ist ohne Relevanz und nur eine façon de parler.

Die gleichsam letzten Realitäten des bewußten menschlichen Handelns sind Enervationen von Bewegungsmuskeln, die die Hand dessen in Bewegung bringen, der sein Kreuzchen auf dem Wahlzettel macht und ihn in den Schlitz der Wahlurne einwirft. Die Annahme, die wir machen, um die Steuerung der Handbewegung als bewusste und willkürliche Handlung zu erklären, ist der Willensimpuls oder die Intention des Handelnden, und die Folgerung, die wir aus der Tatsache ziehen, daß ein Wahlzettel von Herrn X in der Wahlurne aufgefunden wird, ist die Annahme, daß er sie aufgrund seiner Wahlentscheidung dort eingeworfen hat. Ob wir den Rahmen all unserer Annahmen und Folgerungen hinsichtlich sozialer Vorgänge mit dem Namen „Gesellschaft“ benennen, ist ohne Relevanz und nur eine façon de parler.

Natürlich schlendert Herr X ins Wahlbüro und gafft absichts- und hemmungslos in der Gegend umher oder läßt sich von seinen obszönen Zwangsideen piesacken. Die meiste Zeit verbringen wir in dieser Weise, gleichsam vom Leben gelebt oder das Leben verbummelnd, außerhalb des lichten Reichs unseres intentionalen Vorstellens und Wollens. Aber was im Leben zählt, muß durch den feinen Spalt unserer Intentionen fallen und auf dem Schirm unseres Bewußtseins auftreffen.

Allerdings bemerken wir hier einen wesentlichen Unterschied: Es könnte sein, daß Herr X am Wahltag unter Alkoholeinwirkung stand und seine Wahlentscheidung in einem Zustand verminderter Zurechnungsfähigkeit getätigt hat, sodaß er sie am nächsten Tag bereut. Die Möglichkeit von Fehlentscheidungen, willkürlichen oder unwillkürlichen Täuschungen, Wahrnehmungs- und Bewußtseinsstörungen spielen auf der Bühne unseres intentionalen Lebens eine nicht unwesentliche Nebenrolle. Protonen dagegen irren sich nicht.

Wir benötigen nicht den Begriff der Natur, um Konzepte darüber zu entwickeln, wie schwarze Löcher und Galaxien entstehen, wie sich Wasserstoff und Sauerstoff zu Wasser verbinden oder welche Struktur der DNS-Strang besitzt. Dagegen verstehen wir intuitiv, was einer meint, wenn er sagt: „Er ist von Natur aus reizbar“ oder: „Die Industrialisierung der Landwirtschaft hat das natürliche Landschaftbild gravierend verändert.“ Mit dem ersten Begriff weisen wir auf die Beschaffenheit oder Art eines Gegenstands hin, mit dem zweiten auf den Gegensatz von natürlich und künstlich oder Natur und Konvention oder Natur und Kultur, wobei wir in beiden Fällen uns an die Praxis des Sprachgebrauchs halten können, ohne auf theoretische Fundierungen zurückgreifen zu müssen.

Hölderlins Gebrauch des Begriffs „Natur“ ist ein Erbstück oder eine Resonanz seiner Lektüre der Schriften Rousseaus und der Gedichte Schillers, die den Gegensatz von Natur und Konvention in neuer und radikaler Weise ausspielen. Das mit dem Begriff der Konvention Gemeinte bezieht sich bei dem Inspirator der französischen Revolution und dem Autor von „Kabale und Liebe“ auf die Korsetts und Reifröcke der Damen bei Hof, das künstliche Gebaren, das formelhafte und gespreizte Gerede und das höfische Schranzentum und Intrigenwesen, das Zurechtstutzen der Büsche im Barockgarten oder die Behandlung der Kinder als kleine Erwachsene, ohne ihrer kindlichen Gemütslage und seelischen Entwicklung Beachtung zu schenken. Hölderlin seinerseits hüllt diesen Begriff der Natur in den kühlen Glanz der antiken Götterwelt und die Aura des romantischen Konzepts der göttlichen Natur und der Weltseele.

Wir sagen ohne Weiteres: „Er war in Gesellschaft“ oder „Er treibt sich in einer Gesellschaft herum, die seinem Ruf abträglich ist“ oder „Die gesellschaftlichen Verhältnisse haben sich nach dem Krieg grundlegend verändert“, wobei wir mit dem ersten Ausdruck einfach sagen wollen, daß er nicht allein war, mit dem zweiten, daß der Umgang mit einer Gruppe von Kriminellen oder Halbstarken oder Terroristen seinem Ruf schadete, und mit dem dritten Ausdruck, daß viele oder die meisten Menschen sich nach dem Krieg in Lebensumständen wiederfanden, die sie bisher nicht gewohnt waren.

Der weltumgängliche oder alltägliche sowie der poetische Begriff der Natur ist theoretisch vollkommen opak und unzureichend, aber praktisch wie bei der Lektüre Schillers und Hölderlins oder unserer Alltagskonversation unentbehrlich.

Wenn wir erfahren, daß eineiige Zwillinge, wie die Beobachtung von getrennt in unterschiedlichen Milieus heranwachsenden Zwillingspaaren ergibt, VON NATUR AUS dazu tendieren, dieselben Vorlieben und Gewohnheiten bei der Partner- und Berufswahl, ja sogar für die Wahl der Namen ihrer Ehepartner sowie den Geschmack von Speisen und Musiktiteln zu entwickeln, und diesen Sachverhalt mit dieser Aussage bekräftigen, worin genau läge der Unterschied zu der Aussage, daß eineiige Zwillinge dazu tendieren, dieselben Vorlieben und Gewohnheiten bei der Partner- und Berufswahl, ja sogar für die Wahl der Namen ihrer Ehepartner sowie den Geschmack von Speisen und Musiktiteln zu entwickeln? Wir können wohl davon ausgehen, daß diese Aussage denselben Sachverhalt ausdrückt wie jene, denn wenn diese falsch wäre, wäre es auch jene.

Wir ersehen daraus die verblüffend oder paradox anmutende Tatsache, daß wir Fakten und Daten aus dem Umfeld des berühmten Nature-Nurture-Unterschieds darstellen können, ohne die Begriffe Natur und Kultur zu verwenden.

Famose Großtheoretiker haben geglaubt, die Soziologie für immerdar mit dem höchsten Rang einer unantastbaren Wissenschaft durch den Trick oder Bluff nobilitieren zu können, daß sie um die wesentlichen sozialen Tatsachen, die aus den Begriffen der menschlichen Handlung und der menschlichen Absicht oder Intention ableitbar sind, einen großen Bogen machen und das verschwommene Ganze durch den scheinbar kristallklaren und lupenreinen Begriff des Systems oder der Struktur ersetzen.

Aber dies ist nicht nur eine Scheinlösung, sondern eine ähnlich große Dummheit, wie den Begriff der Person durch den Begriff des neuronalen Systems ersetzen zu wollen. Wenn du den Betrug als kriminellen Akt, zu dem du zur Verantwortung gezogen werden mußt, als solchen mit dem Hinweis darauf bestreitest, daß nicht du selbst absichtlich den Check gefälscht hast, sondern die Fälschung aus einem Kurzschluß in deinem neuronalen Netzwerk resultierte, ist der theoretische Gewinn dieser Begriffskonfusion genauso null und nichtig wie der Hinweis darauf, daß nicht bestens ausgebildete und integrierte islamische Terroristen die Flugzeuge in das World Trade Center in New York haben stürzen lassen, sondern daß der Einsturz der Türme eine Folge des Zusammenpralls gegensätzlicher kultureller Systeme gewesen sei.

Natürlich haben die Terroristen so gehandelt, wie sie gehandelt haben, weil sie von den Vorstellungen und Ideen eines Umfelds geprägt waren, das wir mit dem begrifflichen Kürzel der islamischen Kultur zusammenfassen. Aber diesen theoretischen Scheinbegriff, der uns praktisch unentbehrlich ist, können wir analytisch auflösen bis hin zu den Vorstellungen und Ideen, den Taten und Handlungen des Stifters dieses unseligen Vereins, der glaubte, man dürfe und solle dem höchsten Gott Menschenopfer darbringen.

„Naturwissenschaft“ ist ein Etikett auf Studienbögen und Türen von Instituten und Laboren, mit denen nicht mehr als die Tatsache angezeigt wird, daß dahinter Leute das spezifische Gewicht von Atomen und Molekülen bestimmen oder eine Lösung elektrisch in Säure und Lauge trennen oder die neuronale Schaltung untersuchen, die dazu führt, daß eine Information im Mandelkern ankommt.

Ansonsten ist „Natur“ eine Redewendung oder ein Topos, mit dem man eine Polemik gegen mißliebige Gepflogenheiten unterfüttern kann, wenn sie einem die Laune wegen unbequemer Kleidervorschriften oder blutleerer Rhetorik verderben, oder dem Wunsch metaphorischen Nachdruck verleihen mag, der zivilisatorischen Öde in ein scheinbares Unschuldsidyll oder in die verlogene Utopie einer Welt entrinnen zu wollen, in der das Lamm neben dem Löwen grast.

Eine Wissenschaft von der Gesellschaft dagegen kann es nicht geben, weil ein theoretischer Gegenstand dieses Namens nicht auffindbar und nicht konstruierbar ist, und wäre er es, auf ihn wissenschaftliche Methoden der Untersuchung nicht anwendbar wären.

Es scheint nur eine Wissenschaft von den Gruppen, ihren Untergliederungen und Beziehungen sinnvoll konstruierbar zu sein. Denn wir können nur Gruppen von Menschen anhand empirisch erhobener Daten über ihre Einstellungen und ihr Verhalten identifizieren und in der Dynamik ihrer zeitlichen Veränderungen beobachten. Aber dazu müssen wir einzelne Vertreter dieser von uns theoretisch konstruierten Gruppe wie der Gruppe der Studenten oder Akademiker oder Jungunternehmer befragen. Dann stoßen wir bald auf Differenzierungen unseres Begriffs, weil wir genötigt sind, Feindaten zu bestimmen: Studenten, die aus verschiedenen Milieus stammen, die neben dem Studium jobben, die verheiratet sind oder nicht, die ein klares Berufsbild haben oder nicht. Wir falten den Begriff der Gruppe auseinander, indem wir Untergruppen und weitere Untergliederungen bilden. Natürlich werden wir auch die Beziehung einer solchen Gruppe zu anderen Gruppen im Auge haben: Wir entnehmen unserem Fragebogen die Angaben über die konfessionelle Zugehörigkeit und vergleichen sie mit der allgemeinen Statistik über religiöse Bekenntnisse. Dann stellen wir fest, in welchem Grad und Maß die spezifischen Angaben zur Konfession bei Studenten mit den Angaben anderer oder aller von uns erfaßten Gruppen übereinstimmen oder abweichen. Wir können uns die Zeit auch mit Fragen vertreiben wie: Gibt es unter Studenten der Physik mehr Atheisten als unter Studenten der Theologie? Was wäre, wenn unsere Intuition tröge?

Aber es wäre ein theoretischer Mißgriff, den Begriff der Gesellschaft dadurch konstruieren zu wollen, daß wir alle uns bekannten und von uns untersuchten Gruppen in der Menge aller Gruppen zusammenfassen wollten. Wir verfangen uns dann in den bekannten Antinomien des Mengenbegriffs: Gilt, was für eine einzelne Gruppe gilt, auch für die Gruppe aller Gruppen? Wenn es gilt, verliert die einzelne Gruppe ihr Spezifikum und damit ihre Identität. Gilt es nicht, verliert die Gruppe aller Gruppen ihr Spezifikum und damit ihre Identität.

Von dem befragten Studenten, der angegeben hat, Mitglied im hiesigen Tennisclub und wenn auch als sogenannte Karteileiche Mitglied der katholischen Kirche zu sein, zusätzlich zu sagen, er sei Mitglied der Gesellschaft, ist merkwürdig sinnlos – es sei denn, dies gelte als Hinweis darauf, daß er einer mafiosen Bande angehört.

Comments are closed.

Top