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Nähe des Göttlichen

19.07.2020

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Man sieht so aus, wie man ist, und man wird, wie man aussieht.

Das Gesicht ist die Landschaft der Seele. – Hier finden wir alles, vom sanften Leuchten aus Eden bis zum harten Licht verkarsteter Steppen.

Der Pöbelinstinkt haßt die Form, die ein überlegener Geist aus der schlüpfrigen Knetmasse des Traums, aus dem Wasser des Unsagbaren sich zum Lied geballt hat.

Schimmernde Ranken geglückter Gesten.

Dornichte Pfade im Dämmerschein verworrener Zeichen.

Die sich nicht ertragen und verzeihen, ihrer selbst nicht entrinnen können, brauen das Gift der Ranküne und des Argwohns gegen das sich in leisen Gesten feiernde Leben, die Anmut der Bewegung und die rhythmische Fülle des Ausdrucks.

Das kollektive Unbewußte ist das Gewürm der Masse, das aus dem Untergrund und den Abwasserkanälen des Molochs Stadt hervorkriecht.

Das Unbewußte Freuds ist keine Naturkonstante, sondern trägt an der Wahn-Wucht, mit der es an den Dämmen der kulturellen Formen nagt, die historische Signatur des von ihm scharfsinnig diagnostizierten Unbehagens.

Die goldenen Blätter aus den Rokokogärten Verlaines, verweht in die Pfützen der großen Stadt.

Denke dir, eben seist du erwacht, und mit dir die Welt. Ist es dann nicht purer Zufall, wo und als was, als Mann oder Frau, als Kind oder alter Mensch, du dich wiederfindest? – Solcherart metaphysische Träume verführen uns zu den schiefen Begriffen von Kontingenz und Notwendigkeit.

Was sich logisch in einen Schluß knüpft, empfinden wir als unausweichlich, zwingend, notwendig; also den Status gewisser Sätze. Warum sollten wir all das, was sich nicht in diese Form bringen und zwingen läßt, als kontingent und zufällig betrachten?

Das Empfundene und Gefühlte hat keine Abmessungen physischer Natur; die physikalischen Gegenstände, einschließlich des Gehirns, sind ohne Rückgriff auf sensorische Merkmale beschreibbar. – Solcherart metaphysische Distinktionen verführen uns zu schiefen Gegensätzen wie dem von Geist und Materie.

Sollen wir, weil der Roteindruck nur einen Ort im Gesichtsfeld, aber keinen im physikalischen Raum hat, vom visuellen Bild der Rose sagen, es sei immateriell, und von der wirklichen Rose, sie sei gleichsam geistlos?

Die ionischen, dorischen, äolischen Völker der Griechen waren insofern begnadet, als sie die Nähe des Göttlichen in ihren Werken und rituellen Gebärden von der Plastik und Malerei bis zum Tempelbau und den Opfern, vom Epos bis zur lyrischen und tragischen Dichtung geradezu unwillkürlich zum Ausdruck brachten.

Der Mythos weiß von jenem Hirten Endymion zu berichten, der dem Kuß der Mondgöttin Selene sich hingab. – Vielleicht keine unwillkommene Form wonnigen Verscheidens. – Sollen wir nicht sagen, jener Dichter, der erstmals den Mondstrahl als erotisch-tödlichen Anhauch göttlicher Nähe empfand, habe damit den Grund dieses Mythos freigelegt?

Die kulturelle Blüte jener aristokratischen Hochkultur, wie sie uns aus der homerischen Odyssee immer wieder entgegenleuchtet, ist bis in Einzelzüge mit den höfischen Sitten, Riten und Gepflogenheiten der ritterlichen Kultur des hohen Mittelalters vergleichbar.

Die Odyssee zeigt im Motiv des dem Helden gewährten Nostos, der durch etliche Gefahren hindurch bewältigten Heimkehr, die Erfahrung göttlicher Gnade; darin geht sie im mythologischen Gewand über die Möglichkeit der Erkenntnis Gottes hinaus, die Paulus der natürlichen Vernunft zubilligt.

Emporgeschleudert von der hohen Woge des Geschicks, ein winziger Tropfen, in unsäglichem Augenblick an der schwarzen Wimper eines dämonischen Windes zitternd, und niedersinkend noch spiegelt er den Glanz der nächtlichen Sternwelt, der unerreichbar fernen, schönen: die tragische Erfahrung.

Die Hagia Sophia dämmert unter der Sichel des Halbmonds; im Westen brennen die Kathedralen.

Die apollinische Kultur durchtönte das Rauschen des Meers mit sanftem Strahl, der Leviathan schnappte vergebens nach den goldenen Blitzen und tauchte ins Dunkel zurück; schwarze Woge, zerteilt von den lichten Saiten der Leier. – Nun wird Nacht für Nacht das Brausen lauter, nun steigen die Ungeheuer der Tiefe ans Ufer und biegen das wehrlose Schilf auseinander.

Der öffentliche gereckte Phallus, in allen Farben grell schillernd, Geifer, Hohn, Spott ejakulierend, wird als neues Freiheitsemblem umjubelt; die blutenden Wunden des Gekreuzigten werden für anstößig und obszön befunden und von den Sittenwächtern der Schamlosigkeit verhüllt.

Die Tiara, die Gewandung, der Stab des römischen Bischofs glänzten im würdevollen Schimmer altlateinischer gravitas und dignitas; heute laufen närrische Pfaffen in Jeans und offenem Kragen durch die grinsende Gemeinde.

Der Widerwille und die ironische Verschmitztheit gegen das Feierliche und Festliche des hohen Ritus und der weihevollen Begehung entstammen der wahren Empfindung, ihrer nicht würdig zu sein.

Wie die Mutter Venus dem Äneas erscheint die Göttin Athene ihrem Schützling Telemach in Menschengestalt; und beide ahnen die Nähe des Göttlichem am süßen Duft und Anhauch ihrer Rede, an der sanften Flamme, die ihren trüben Sinn mit neuer Lebensglut behaucht.

Bei Mozart enthüllt sich manchmal die Nähe des Göttlichen in Tönen, die wie Glühwürmchen im Dunkel des Grases schwirren, in weißen Schaumkronen auf dämmernden Wellen, die wie selige Schmerzen unterm Mondlicht schmelzen, im weichen Niedersinken purpurner Mohnblüten auf die bleiche Stirn des Verlassenen; bei Bruckner, dem letzten Offenbarer, im Brausen eines Jenseitswinds, der die starren Zweige unserer Einsamkeit schüttelt und auseinanderbiegt, auf daß wir in der erschreckenden Leere das tiefe Nachtblau des Grenzenlosen gewahren.

Beschaut man sich die genealogischen Sagen der Griechen, findet man am Ursprung nicht nur von Flüssen, Bergen, Wettern und Gewächsen, sondern auch von Orten und Städten, Gesetzen und rechtlichen Ordnungen, Gerätschaften und Musikinstrumenten das Walten des göttlichen Geistes.

Lippen, ungesalbt, Schläfen, unbekränzt, Herzen, unbeschnitten.

Stadt Gottes – und du siehst im stumpfen Morgengrauen auf den Kehricht trostloser Feste.

Süßes Licht oder die Verklärung des Ödipus.

Atem Gottes – und eine dünne, brüchige Maske fällt wie ein welkes Blatt herab.

Hauch des Heils – und die trockene Rinde der Erinnerung zerstäubt.

Olivenhain – unter den Tränen funkelnder Sterne sehend gewordene Nacht.

Lautlos fallen Flocken schimmernder Abwesenheit auf das Ahnengrab.

Schiefer Mund eines letzten Staunens.

 

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