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Nadelstiche und Seidenspitzen

24.02.2023

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Das Leben stellt uns keine unbeantwortbaren Fragen.

Die Kunst, die richtigen Fragen zu stellen, hält die Besonnenheit in der Waage, nicht weiter zu fragen.

Der Riese nahm den Zwerg auf die Schulter und sagte, er solle ihm beschreiben, was er von dort aus sieht. Doch der Zwerg konnte es nicht. Sah er nicht die fernen Hügel und das Meer oder hatte er keine Begriffe dafür?

Die Staatsformen der Hochkultur sind die Königs- und die Adelsherrschaft.

Re und Amun, die ägyptischen Götter des Lichts und des Dunkels, der sonnenhaften Epiphanie und der nächtlichen Verborgenheit, sind Zeichen eines hohen Geistes.

Journalisten oder Hunde, die dem Zeitgeist hinterherhecheln.

Hunde, die den Unrat apportieren, den sie öffentliche Meinung nennen.

Nach den Sippen und Stämmen bilden sich unter geistlichen und weltlichen Eliten Völker als geschichtlich wirkende Kräfte, so die Sumerer, Assyrer, Babylonier, Hethiter oder Ägypter; unter ihnen steigen unter dem Siegel göttlicher Berufung einige zu Reichsgründern auf, wie die Ägypter, aber die Latiner unter dem römischen Senat, die Franken unter den Karolingern und die Sachsen unter den Ottonen. Kaum zu überschauen ist die Anzahl der Völker, die vom Malstrom der Geschichte verschluckt wurden, wie die Hyksos, die Philister, die Phönikier, aber auch die Prußen, die Kurländer, die Sorben. In dieser Warte bleibt Deutschland nach dem Untergang Preußens und der Habsburger nur ein als blendendes Luxurieren getarntes langes Siechtum, das vom Zustrom kulturfremder Elemente beschleunigt wird, ganz im Sinne der Mehrzahl von Leuten, die sich auf der Seite einer höheren Moral sehen und Begriffe wie Vaterland, Heimat und kulturelle Identität, auf das eigne Volk angewandt, für moralisch stigmatisierend halten.

Kum einer hat bis in die dunkle Tiefe der Geschichte das ethnisch-kulturelle Substrat erforscht, das all den Völkernamen zugrunde liegt.

Die großen Völker, die zur Reichsgründung aufsteigen, gewinnen sich die kühnen, glänzenden Embleme der Macht wie die Symbole der herrscherlichen Tiere Adler und Löwe, die Krone, das Szepter, den Herrscherstab und den Reichsapfel

Das Christentum hat noch den Abglanz des Erhabenen im Königstitel des Erhöhten und dem Charisma seiner Kaiser und Könige, die sich von ihm eingesetzt und gesalbt glaubten.

Unter dem Druck der Gefahr, im Schatten des Feindes verstummt der Diskurs und das unverantwortliche Gerede.

Tausend Jahre kultische Feier des heiligen Opfers im mystischen Dämmerschein geweihter Kerzen des Hochaltars, dann kommen die aufgeklärten Banausen und installieren elektrisches Licht, um am runden Gemeindetisch gemütlich zu schmatzen und zu schwatzen.

Der Soldat weiß, was er zu tun hat, wenn es gilt, den verwundeten Kameraden aus dem Schützengraben zu bergen; er muß nicht den Moralphilosophen fragen, der in seinem dicken Wälzer leider gerade die Stelle nicht findet, wo er von den Pflichten der Kameradschaft handelt.

Der Denunziant im Auftrag einer höheren Moral ist gefährlicher und unwürdiger als der gedungene Spitzel, der gewissenlos sein mag, aber bisweilen sein Opfer zum Essen einlädt und sich einmal von ihm (statt umgekehrt) ausfragen läßt, während für den Denunzianten der Hypermoral eine solche Tischgemeinschaft Anathema ist.

Die ein Mitspracherecht einklagen, haben am wenigsten zu sagen.

Spitzen, Rüschen, Fransen an Revers, Kragen und Seidentüchern oder ornamentale Ranken, ob an Wänden und Fassaden oder auf Vasen und an Versen, gelten dem gemeinen Geschmack als vornehmes Getue und Blendwerk, hinter dem sich nur niedrige Absichten, wie die seinen, verbergen können.

Klopstocks im Hauch des zweiten abendländischen Frühlings wehenden rhythmischen Ranken gelten den schmerbäuchigen Literaturprofessoren und stumpf skandierenden Beckmessern für pathologisch anders als dem Dichter der „Sarmatischen Zeit“, dem der germanische Aöde nach eigenem Bekenntnis ein Zuchtmeister war.

Manchmal, wenn uns im Herbst die reifen Früchte vor die Füße fallen, bedürfen wir keiner Leiter.

Manchmal genügt es, die roten Äpfel ausgereifter Verskunst im Abenddämmer zwischen den Schatten geistreich verzweigter Andeutungen glimmen zu sehen.

Nun gut, du könntest die rote Ampel grün sehen, Hauptsache du hältst bei Rot an. – Daraus folgt, daß die Bedeutung unserer visuellen und sprachlichen Zeichen nichts Mentales und kein Vorstellungsinhalt sein kann.

Wir sagen, jemand, der vor einer roten Ampel Halt macht, wartet darauf, daß sie auf Grün springt. – Aber wir können nicht sagen, Warten sei eine gewisse mehr oder weniger starke Empfindung innerer Anspannung, die verschwindet, wenn das Erwartete eintritt. Denn auch wenn wir vor der Ampel Halt machen und dabei gar nichts empfinden, ist klar, daß wir gewartet haben, wenn wir, sobald die Ampel auf Grün springt, unseren Weg fortsetzen.

Die Psychologie kann die Semantik nicht erklären; sie kann die Bedeutung dessen, was wir propositionale Einstellungen nennen und in Sätzen nach dem Muster „Ich hoffe, daß p“, „Ich fürchte, daß p“ oder „Ich erwarte, daß p“ ausdrücken, nicht erklären.

Der Zwergpudel kann sich vor der Dogge fürchten. Aber der treue Hund, der sich langweilt, kann nicht hoffen, daß sein Frauchen heute früher nach Hause kommt.

Der sogenannte Tod Gottes ist nicht die Folge einer heroisch-prometheischen Tat von Aufklärern, Freigeistern und Atheisten, sondern das finale Stadium der Entwicklung ihrerseits religiöser Strömungen der Innerlichkeit (die bei Luther nicht entsprangen und bei Kierkegaard nicht versiegten) wie des Idealismus und des Pietismus, wonach das, was wir mit Gott bezeichnen, nur in den verborgensten Falten der Innerlichkeit gegenwärtig, aber als gegenwärtig zugleich auch eigentümlich abwesend ist, sodaß am Ende nicht einmal mehr der Religiöse zu sagen vermag, ob er glaube, vielmehr nur Gott um seinen Glauben oder Unglauben wissen kann.

Etwas wissen heißt nicht, etwas zu wissen glauben.

Etwas meinen heißt nicht, etwas zu meinen glauben.

Vorurteile sind Krücken der Daseinsvorsorge.

Ohne Vorurteile hinsichtlich der Eigenarten gewisser Ethnien wäre schon mancher ihnen aus Unbedachtsamkeit zum Opfer gefallen.

Das größte Vorurteil besteht in der Annahme, von allen Vorurteilen frei zu sein.

Stereotype sind wie Kleiderpuppen; bekleiden à la mode müssen wir sie selbst.

Erst lernen wir den Typus kennen und wiedererkennen, den Lehrer, den Kaufmann, den Polizisten, den Amtmann, den Dichter, den Schauspieler; dann lernen wir den Lehrer Meier und die Schauspielerin Müller kennen; am Ende versuchen wir uns zu erinnern: Wie hieß noch dieser Lehrer, wie diese Schauspielerin?

Immerhin, der Name gehört als Eigentümlichkeit zum Typus Mensch und zugleich als Eigenname zur individuellen Person.

Das Kind zieht der Puppe unterschiedliche Kleidungsstücke über, die ganz verschiedenen Moden oder Zeitaltern angehören, verschiedenen Zwecken dienen mögen, sagen wir eine Ritterrüstung, einen Smoking und eine Badehose; das einzig Erforderliche: Sie müssen passen, zur Figur und den Maßen der Puppe und dem Spiel, welches das Kind in der Phantasie mit ihr treibt. So auch unsere Verwendung sprachlicher Ausdrücke.

Was heißt hier passen? Der Dichter evoziert, was er nicht lassen kann, in seiner Liebeselegie den Mond; der Astronom verwendet dasselbe Wort, nur in seiner, wie wir sagen, wörtlichen Bedeutung.

Was der Dichter mit Mond meint, kann von dem, was der Astronom darunter versteht, so verschieden sein wie die Göttin Luna, die sich den Hirten Endymion zum Geliebten erwählt, von dem Erdtrabanten, auf dem Menschen ihre Spuren hinterlassen haben. – Indes, Luna ist der mythische Name des Erdtrabanten, auf dem Menschen gelandet sind.

Nehmen wir an, phantasiebegabte Gegen-Menschen oder kosmische Antipoden einer fernen Gegen-Erde, um die kein Trabant kreist, hätten mythische Erzählungen von der Göttin Luna und Gedichte wie das Mondgedicht des Matthias Claudius hervorgebracht; würden sie dann, wenn sie mit einem Raumschiff den Weg zu uns gefunden und des Nachts den Erdmond gesehen hätten, ausrufen: „Da ist er ja, der Mond!“?

Technisch hochbegabten Robotern auf einem fernen lebensfeindlichen Planeten, auf dem es kein Wasser gibt, ist es gelungen H2O zu synthetisieren; würden sie, mit einem Raumschiff auf die Erde gelangt, was hier in den Flüssen und Meeren wogt und aus den Leitungen quillt, Wasser nennen?

Der „Luna hat sich in Endymion verliebt“ ist nicht im gleichen Sinne und gemessen an denselben Kriterien unwahr wie der Satz „Der Mond besteht aus Käse.“

Wir können nur Aussagen über Dinge und Sachverhalte korrigieren, bei denen wir in wesentlichen Hinsichten übereinstimmen. – Deshalb gelingt es uns nicht, den Verrückten, der von sich behauptet, Cäsar oder Jesus zu sein, eines besseren zu belehren.

Ein Kleid kann nicht ausschließlich aus Rüschen, Fransen und Spitzen bestehen, ein Gebäude nicht ausschließlich aus Ornamenten.

Auch der Schmuck der Rede oder die dichterische Verwendung von Metaphern und bildhaften Wendungen bedarf eines gleichsam schmucklosen Kerns und Fundaments; wir nennen dies die wörtliche Bedeutung der sprachlichen Ausdrücke.

Was wir Bewußtsein nennen, kann kein ornamentaler Zierrat unserer neuronalen Behausung sein.

Der Gedanke, also gleichsam die Berührung oder Nahtstelle zwischen uns und der Welt, hat die logische Struktur des Satzes, in dem wir ihn zum Ausdruck bringen. – Das reine Bewußtsein des Descartes dagegen ist strukturlos. – Der Gedanke, daß Wasser H2O ist, hat eine solche Struktur; nicht aber der Gedanke „Ich weiß, daß ich weiß.“

Das Cogito ist nicht die epistemische Nadelspitze, die eine Welt tragen könnte.

Wir können natürlich alle ornamentalen Ranken und Zierrate von der Wand oder der Fassade abschlagen, um unserer radikalen Leidenschaft für die nackte Wahrheit zu frönen; aber wir können kein Gedicht schreiben, in dem wir auf Endymion anspielen, ohne die Blöße des Erdtrabanten mit dem milden Schleier Lunas zu verhüllen.

 

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