Nach dem Wetterleuchten
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Es waren bloß Schatten. Restitutio omnium. Alles war nur ein Traum. Ausflucht für geisteskranke Kriminelle. Illusion von Manisch-Religiösen. Dichterische Wahrheit.
Der bleiche Knochen, der plötzlich aus dem Moos der Idylle ragt.
Je mehr wir suchen, desto weniger finden wir.
Je mehr wir fragen, desto weniger verstehen wir.
Man stürzt sich auf blutige Fetzen der Realität wie das abgeschnittene Ohr van Goghs, nimmt es unter die kriminologische Lupe, schwingt es wie ein mythisches Wappen in den Korridoren der kunsthistorischen Institute und wähnt, aufgrund solcher Wühlmausaktivitäten unter dem Bergmassiv des Genies seine Bilder besser sehen oder zum ersten Mal richtig verstehen zu können.
Der Künstler ahmt nicht das Leben nach, sondern entwirft ein Bild des Lebens im Licht oder Zwielicht der Kunst.
Schatten ihrer selbst, die vorgeben, sich selbst zu suchen, sich selbst zu verwirklichen.
Die Dummheit steckt im Begriff wie die Zyste unter der Haut.
Devise der doktrinären Moralisten: Über Leichen gehen, um die Menschheit zu retten.
Wer wie rasend an die Türe pocht, dem wird nimmermehr aufgetan.
Sich umdrehen und in der Gewißheit wieder einschlafen, daß die Erde unser nicht bedarf.
Nach dem frenetischen Wirbel der Worte und dem manischen Knacken der syntaktischen Gelenke kehren wir zur Schlichtheit der Aussage „Über allen Gipfeln ist Ruh“ und der Lakonie der Antwort „Ja, ja“ und „Nein, nein“ zurück.
Tiefer, beseligender, heiterer als die dämonische Mittagsstille des Pan und die geisterhafte der Mitternacht ist die Ruhe nach dem Gewitter, wenn das Blatt dem Sturm noch nachzittert, das Wasser noch unruhig atmet und schwillt, die Vögel noch schweigen, aber die Luft, gesättigt vom Wohlgeruch erfrischter Kräuter und Gräser, die dunkelblaue Fahne souveräner Gelassenheit ausrollt.
Wir suchen anhand eines Farbmusters die Farbe der Rose, die wir vor Augen haben; freilich, für die Farbe der Danteschen Rose fehlt uns das Muster.
Aus der Tatsache, daß eine totgeschundene dichterische oder musikalische Phrase, die zum tausendsten Mal denselben Akkord auf unserem Vorstellungs- und Empfindungsklavier anschlägt und die ausgelaugte Erwartung eines Bilds, einer harmonischen Auflösung zum abertausendsten Mal erfüllt, ein Kunstwerk minderen Ranges charakterisiert, können wir nicht folgern, ein Kunstwerk sei hohen Ranges, weil es unsere Erwartungen systematisch an der Nase herumführt, unser Verständnis mittels unverständlicher Wendungen vor den Kopf stößt und unsere Hoffnung auf Sinnzuwachs am erratischen Block seiner snobistischen Artistik hart aufprallen läßt.
Nicht wie laut der Löwe brüllt, ist erstaunlich, sondern daß es ihn gibt.
Die eifersüchtige Nachbarin mokiert sich über den bezaubernden Gesang ihres Artgenossen: „Wie schrill der wieder klingt!“
Akteure in einem Stück, das mal einer Komödie, mal einer Tragödie, heute einer Farce, morgen einem Passionsspiel gleicht, Akteure, die nicht wissen, daß sie Masken tragen, Stück ohne Autor, das dennoch geheimen Regeln gehorcht.
Der Platoniker: „Gott hat die Sterne gezählt wie die Haare auf dem Kopf.“ – Der Anti-Platoniker: „Ein paar Sterne weniger hätten es auch getan; das blinde Fatum hat meiner Stirn die Kahlheit verpaßt.“
Auch der Schnee des Gedichtes knirscht, aber in ihm knirscht der Schnee der Stille.
Auch im Herbst des Gedichtes fallen die Früchte, doch nicht auf das Moos der Erde, sondern auf das erschrockene Herz.
Schlagzeilen, die vom Blute triefen, von dem sie künden.
Das Blut der homerischen Opfertiere, das Blut der homerischen Helden fließt in die Furchen des Hexameters, die Schalen und Amphoren der Musen fangen es auf.
Das Fenster des Gedichtes schaut auf den Garten der Vergangenheit.
Die Tages- und Jahreszeiten des Gedichtes sind die Tages- und Jahreszeiten der Seele.
Die abendländische Lyrik von Sappho bis Trakl zehrt metaphorisch (wie das japanische Haiku) von den Jahreszeiten; am Amazonas oder in der Arktis wäre sie nicht entstanden.
Nach dem Gewitter der Geschichte lauscht der Hymnus Hölderlins auf das meeresblaue Tönen der gereinigten Luft.
Nach dem Gewitter wiegt sich die erfrischte Atmosphäre der Pastorale Beethovens in lieblichen Rhythmen, befriedeten Sängen.
Das frenetische Klopfen des Regens auf Knospen und Blätter bricht ab, das Gras seufzt auf, die Erde dampft.
Die reißerische Rhetorik und anklagende Deklamation, wie wir sie aus den aufwiegelnden Reden der Revolutionäre kennen, sind Salz in der Wunde des Gedichts.
Die Expressionisten, deren Gedichte der Sturm sein wollten, von dem der Hut des Bürgers in die Gosse geweht wird, haben die Windstille nach dem Gewitter als verlogene Idylle verunglimpft und in Mißkredit gebracht.
Die Dichter, die anstatt im Geheul stürmischer Rhetorik die Erde zu häuten und ihre innere Fäulnis freizulegen eher geneigt sind, das Schneetuch der Stille über die Schründe und Abgründe zu breiten, gelten für parasitäre Fliegen im Wohlstandsdung oder impotente Stotterer bei der Weltkonferenz für Frieden und soziale Gerechtigkeit.
Die Futuristen, die dem edlen Monstrum der in erhabener Ruhe erstarrten Nike von Samothrake das perverse Monstrum des heulenden Rennwagens vorzogen, konnten ihr, so sehr sie aufs Gaspedal der Fortschrittsrhetorik drückten, den Siegeskranz nicht entreißen.
Der am Moder der Vergangenheit schnüffelnde, im Kleiderschrank fremder Leute wühlende naturalistische Schriftsteller ist schon die Parodie des Spitzels, die Karikatur des Geheimdienstagenten.
Aus dem wirren Geranke des Dickichts, das wir Erfahrung nennen und das bisweilen die Irrealität des Tagtraums oder die Surrealität des Albtraums an sich hat, taucht plötzlich, unerwartet, unverhofft ein eine Gestalt auf, die ihre Hand ausstreckt, ein Gesicht, das seine Augen aufschlägt.
Ein Wort, ein Blick. – Das Wort, das einen aus dem Gedicht anschaut, verliert seine gewohnte und gewöhnliche Eigenschaft, transparent, durchsichtig, ja unsichtbar im praktischen Alltag zu sein, und kondensiert, kristallisiert und verdichtet sich, einem Kieselstein gleich, der sonst unscheinbar zwischen den anderen herumliegt, aber unter dem leisen Rieseln des Versflusses zu schimmern beginnt.
Gut, daß während des Gewitters so viel Regen floß; denn was da glänzt, sind die noch an den Gräsern und Halmen der Verse zittern, Tropfen.
Man könnte die Spannung eines Gedichts in der gedichteten Zeitspanne aufbauen, die zwischen dem die Landschaft jäh erhellenden stummen Blitz und dem Augenblick währt, wenn der Donner losbricht.
Ein Vogel, der im grellen Leuchten des Blitzes zu singen aufhört und beim ersten Grollen des Donners aufflattert.
Fernes Wetterleuchten über den Hügeln und dann der Regen, der mit traubendunklen Tropfen niedergeht und Nacht bringt.
Psalm und Hymnus, liturgischem Gebrauch entstammend, bleiben, ins rein Lyrische transponiert, problematische Gebilde, insofern ihnen (wie bei Klopstock und Hölderlin) die schwere brokatene Purpurschleppe der Verkündigung anhängt und oftmals an der anmutig-freien Gangart hindert.
In der schwülen Luft, der unheilschwangeren des Sommernachmittags, die einem den Atem benimmt und wie ein Alb aufs Gemüt drückt, scheinen die Knospen zu erstarren, die Quellen zu stocken, die Lebenden gebannt in die Leere zu starren. Endlich wird die Atmosphäre von niedersausenden Blitzen gelöst und gelockert, endlich die Beklemmung von den Sturzbächen des Gewitters hinweggeschwemmt. – Gedicht, irdener Krug, der die von den Spitzen der Gräser herabzitternden Tropfen aufsammelt.
Ein jedes Wesen, Stein und Stern, Anemone und Ahorn, Mücke und Mensch, hat seine Form, seine Gestalt, so auch das Gedicht. Aber gehört es als Kunstgebilde, als sprachliche Form in die Reihe mit Kieseln, Violen und Muscheln?
Die Sprache für sich schon ist nichts Künstliches, wir lernen sie spontan, wenn wir ihren Gebrauch auch mehr und mehr durch Nachahmung, Lernen, Studium vertiefen. Natürliche Sprachgebärden sind, könnte man sagen, uns eingewurzelt, wenn ihre Sprossen auch von Eltern, Lehrern und leider auch trocken-pedantischen Beckmessern gebogen, gestutzt und manchmal zu symmetrischen Wuchsformen sei es verschönert sei es verunstaltet werden. Das imperative Heischen wie Bitten, Fordern, Herbeirufen, Verwünschen und Verbieten, das deskriptiv-deiktische Sagen wie Nennen, Mitteilen und Beschreiben und das expressive Verlautbaren wie Jubeln und Jammern, Frohlocken und Klagen, Loben und Tadeln scheinen exemplarische Sprachgebärden, die in Gedichtformen wie den Zauberspruch, das Gebet oder den rituellen Fluch, in die Ballade, die Moritat, die Fabel oder das Erzählgedicht, in den Hymnus, die Klage, das Spottgedicht und das Epigramm eingehen.
Wie der Weg vom urtümlich-magischen Zauberspruch zum symbolistischen Gedicht verläuft oder ansteigt, wie vom schlichten Spottvers zum feingeschliffenen Epigramm, vom hemmungslosen Jubelschrei zur hochartifiziellen Ode oder vom einfachen Lied zum dialektisch verschlungenen Sonett – das ist ein weites kaum noch beackertes Feld.
Eine vollständige Liste aller faktischen und möglichen Sprachgebärden scheint es nicht zu geben; der Dichter mag wie der Musiker musikalische neue dichterische Gebärden zu Tage fördern. Ob es dazu auch neuer Formgebilde bedarf, so wie das Rühmen seine dichterische Gestalt in Ode und Hymnus, Wunsch und Traum im Lied, die Klage in der Elegie fanden, bleibe dahingestellt.
Endlich stoßen wir auch auf die sei es inklusive sei es exklusive Alternative von kommunikativer Offenheit und selbstbezüglicher Abgeschlossenheit des Gedichts: Gabe oder reiner Ausdruck, Stern am offenen Himmel oder Kristall, der im esoterischen Dunkel glüht.
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