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Muster der Wahrnehmung

11.05.2016

oder warum Intelligenz keine Sache der Erfahrung ist
Ein Beitrag zur Theorie der Subjektivität

Das Geräusch regelmäßig (nicht zu schnell, nicht zu langsam) fallender Tropfen pflegen wir in rhythmische Muster abzuteilen und hören etwas wie: pling, plong; pling, plong; pling, plong – wobei wir den Hauptton oder Akzent jeweils entweder auf den ersten oder zweiten Schlag setzen; im ersten Falle bilden wir einen trochäischen Akzent, im zweiten Falle einen iambischen. Wenn wir eine größere seelische Spannung oder einen stärkeren seelischen Tonus anlegen, hören wir: pling, pling, plong; pling, pling, plong oder plong, pling, pling; plong, pling, pling – im ersten akustischen Muster setzen wir den Akzent auf jeden dritten Ton und bilden somit den Versfuß des Anapästs, im zweiten Fall setzen wir den Hauptton auf den jeweils ersten Ton einer Dreierkette und bilden somit den Versfuß des Daktylus.

Wir können die metrischen Muster auch in Form zahlenmäßiger oder algebraischer Matrizen darstellen, wobei die arabischen Ziffern bzw. kleingeschriebenen Zeichen für die unbetonten Senkungen, die römischen Ziffern bzw. großgeschriebenen Zeichen für die betonten Hebungen stehen:

Trochäus (Choreus):
I 2
I 2
oder:
A b
A b

Jambus:
1 II
1 II
oder:
a B
a B

Anapäst:
1 2 III
1 2 III
oder:
a b C
a b C

Daktylus:
I 2 3
I 2 3
oder:
A b c
A b c

Definition (1): Wir metrisieren das akustische Material in der Form oder Struktur einer gegliederten Reihe. Wir können jede Reihe in der Form einer Matrize abbilden.

Mittels der Verwendung von Matrizen wird der zeitliche Ablauf der rhythmischen Gliederung entlang dem Zeitstrahl auf die geometrisch plane Anordnung von Zeichen auf der Fläche oder der zweidimensionalen Ebene projiziert.

Wir können die trochäische Metrisierung zum Ausdruck einer seelischen Spannung verwenden, die einen gestauten oder schwebenden Gefühlszustand evoziert, wie in den Zeilen Mörikes:

ße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen.

Während wir mit dem jambischen Muster seelischen Spannungen Ausdruck verleihen können, die einen gleichmäßig fließenden und ins Unbestimmte und Weite ziehenden Gefühlszustand evozieren wie in den Zeilen Goethes:

Kennst du das Land? wo die Citronen blühn
Im dunkeln Laub die Gold-Orangen glühn?

Definition (2): Die Intensitäten seelischer Spannung können wir in Form einfacher Wahrnehmungsmuster und ihrer zeitlichen oder räumlichen rhythmischen Gliederung und Anordnung abbilden.

Natürlich können wir den seelischen Tonus, den wir an die akustische Wahrnehmung anlegen, nicht nur intensivieren, sondern auch komplizieren oder in einer komplexen Mannigfaltigkeit von kombinierten Mustern ausdrücken.

Wenn wir unsere Tropfgeräusche in dieser Weise gliedern: pling, plong, plong, pling wobei wir auf die zweite und die dritte akustische Einheit den Hauptton oder den Akzent setzen, erhalten wir ein komplexes rhythmisches Muster, das die antike Metrik als Choriambus bezeichnet, welcher ein wesentliches rhythmisches Element der alkäische Odenstrophe bildet. In Matrizenform abgebildet, sieht der Choriambus so aus:

Choriambus:
I 2 1 II
oder:
A b a B

Der komplexe Rhythmus des Choriambus ist in der Odenstrophe ein akustisch auffälliges Muster, das nicht isoliert auftritt, sondern mit anderen Mustern und ihren typischen Verstärkern wie den Zäsuren verschränkt ist. Wir geben hier nur das Muster der vierten Zeile der alkäischen Ode, den sogenannten alkäischen Dekasyllabus, in dem der Choriambus vorherrscht:

Alkäischer Dekasyllabus:
—◡◡—◡◡—◡—×

In Matrizenform dargestellt (wobei die Null als Leerstelle fungiert, die beliebig von beiden Werten ausgefüllt werden kann):

I 2 1 II 1 1 II 1 II 0
oder:
A b a B a a B a B 0

Hölderlin verwendet die alkäische Odenform kunstgerecht in seinem Gedicht „An die Parzen“ (1. Strophe:)

Nur Einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen!
Und einen Herbst zu reifem Gesange mir,
Daß williger mein Herz, vom süßen
Spiele gesättiget, dann mir sterbe.

Natürlich ist es ein gewaltiger Unterschied, ob wir wie im Falle der Odenstrophe Hölderlins eine rhythmische Gliederung von bedeutungstragenden Elementen, nämlich der semantischen Elemente der natürlichen Sprache, vor Augen oder im Ohr haben, oder ob wir natürliche Elemente der akustischen Wahrnehmung wie das Geräusch fallender Wassertropfen rhythmisch gliedern, Elemente also, die von Natur aus keine Bedeutungen an sich tragen.

Definition (3): Die Komplexität seelischer Spannung können wir mittels der Kombination einfacher Wahrnehmungsmuster und ihrer zeitlichen oder räumlichen rhythmischen Gliederung und Anordnung abbilden.

Was tun wir, wenn wir unsere akustischen und visuellen Wahrnehmungen nach bestimmten Mustern gliedern und rhythmisieren? Wir wenden ein wohlbekanntes Verfahren an, mit dem wir als Subjekte unser alltägliches Leben steuern und organisieren, das Verfahren der Eins-zu-eins-Projektion oder der wohlgeformten Zuordnung.

Haben wir die Arten der metrischen Rhythmisierung der akustischen Erfahrung, wie sie sich in der abendländischen Verskunst verdichtet darstellen, peu à peu mit Geschick und Finger- oder besser Ohrenspitzengefühl unseren Wahrnehmungen, wie dem Hören fallender Wassertropfen, abgelauscht? Wir begegnen immer wieder der verdrießlichen, aber informativen Tatsache, daß stumpfsinnigen Zeitgenossen die Wahrnehmung komplexer metrischer Rhythmen wie der komplexen Mannigfaltigkeit der Odenformen verschlossen bleibt. Sie gelten dann für unmusikalisch, jedenfalls vermögen noch so gutwillige und einfühlsame Belehrung und Unterrichtung ihnen das taube Ohr nicht aufzuschließen.

Daraus (und natürlich noch aus anderen Tatbeständen) schließen wir, daß die Muster und besonders die kunstvollen Muster, in denen wir unsere alltägliche und besonders unsere künstlerische Erfahrung gliedern und artikulieren, wohl der Erfahrung gemäß angewandt, nicht aber aus der Erfahrung abgeleitet oder erschlossen werden können. Die grundlegenden Muster unserer Erfahrung sind demnach Projektionen und Zuordnungsdirektiven der Strukturen des menschlichen Geistes. Daß sie wiederum in ihrem Quellpunkt mit dem Erfahrungsgrund harmonieren und wie dies möglich sein kann, ist eine andere Frage, ein wahrhaft weites Feld, das hier nicht beschritten, geschweige denn beackert werden kann.

Nehmen wir die Tätigkeit unseres Briefträgers als Beispiel: Allmorgendlich steht er vor einem Korb von Briefen und anderen Schriftstücken, die er ordnungsgemäß zustellen muß, das heißt in der Weise, daß der dir bestimmte oder an dich adressierte Brief deines Freundes am Ende das Tages in deinem Briefkasten landet. Wie verfährt unser Austräger? Nun, er ordnet die Briefe aus dem Haufen des Sammelkorbs oder der Aluminium- oder Plastikkiste den jeweiligen Fächern auf seinem Arbeitstisch zu, die in ihrer Reihenfolge die Hausnummern und die Straßen abbilden, die er später abschreiten und mit seinen Postsendungen beliefern muß. Hier ersehen wir eine erste Form des Projektionsverfahrens oder der wohlgeformten Zuordnung: Der an dich adressierte Brief deines Freundes findet seine vorläufige Unterkunft ordnungsgemäß in dem Fach, das mit der Straße und Hausnummer deiner Wohn- und Postadresse markiert ist. Auf diese Weise, mittels des Projektionsverfahrens, wird aus dem chaotischen Haufen von Briefen eine wohlgeordnete Reihe nach dem Muster der Adressen, die sie tragen.

Die durch das Projektionsverfahren ermöglichte Musterbildung funktioniert nur im Lichte der wohlgeformten Zuordnung identischer Elemente: Straßenname und Hausnummer, die dein Freund auf das Adressfeld des an dich gerichteten Briefes geschrieben hat, müssen identisch sein mit dem Straßennamen und der Hausnummer, die sich auf den Verteilungsfächern am Arbeitstisch des Briefträgers befinden. Wenn der Zusteller den für dich bestimmten Brief in das falsche Verteilerfach mit dem falschen Straßennamen und der falschen Hausnummer steckt, kommt er heute wahrscheinlich nicht an. Schließlich muß dein Name, den dein Freund auf das Adressfeld des Briefes geschrieben hat, identisch sein mit dem Namen auf deinem Briefkasten, in den der Briefträger ihn einwirft.

Wenn nun der Briefträger mit den vorsortierten Packen von Briefen an deiner Adresse angelangt ist, ordnet er alle Briefe des Bündels, das für die Bewohner deines Hauses (denn du wohnst wie die meisten in einem Mehrfamilienhaus) der Reihe nach den vertikal oder horizontal oder vertikal und horizontal angeordneten Briefkästen zu. Ist er ein gewitzter Mensch, hat er die Briefe, die für dein Haus bestimmt sind, zuvor in der Reihenfolge der zu bestückenden Briefkästen vorsortiert: Er wirft also die Briefe von oben nach unten und rechts nach links in die Schlitze ein und geht dadurch viel früher nach Hause als sein weniger schlauer Kollege, der jedes Mal neu den jeweiligen Brief dem jeweiligen Briefkasten zuordnen muß und dabei die kreuz und die quer herum verteilt.

Dein Briefträger ist ein alter Hase und macht seinen Dienst routiniert und geschickt. Dennoch kommt sein junger Kollege, der die Zuordnung der Postsendungen nach der Reihenfolge der Briefkästen berücksichtigt und geschickt abbildet, täglich früher nach Hause. Der schlaue Bursche ist dem alten natürlich an Erfahrung weit unterlegen, aber bei ihm ist eine Fähigkeit stärker ausgeprägt als bei jenem: die Fähigkeit, formale Zuordnungen mittels Anwendung mehr oder weniger komplexer Algorithmen abzubilden. Diese Fähigkeit ist eine der elementaren Fähigkeiten der menschlichen Intelligenz und dem Grad und Maß ihres Vermögens nach nicht durch Erfahrung erworben, sondern angeboren.

Wie sieht der Algorithmus dieser formalen Zuordnung in unserem Falle aus? Etwa so: Projiziere die Adressen der zuzustellenden Briefe sowohl auf die Straßennamen, Hausnummern und Namen als auch auf die Reihen der Briefkästen von rechts nach links und von oben nach unten. Natürlich könnte der junge Kollege den Trick dem alten Hasen beibringen und dieser ihn dankbar annehmen und wirkungsvoll umsetzen. Aber der springende Punkt ist: Der alte Zusteller ist selbst darauf nicht gekommen, auch jahrzehntelange Erfahrung wies ihm keinen Weg, den entscheidenden Rest von Unordnung in seinem Verteilungs- und Zuordnungsverfahren durch eine einfache intelligente Lösung zu bereinigen.

Wir haben die Muster der Erfahrung nicht willkürlich konstruiert und der Mode des Tages gemäß zugeschneidert. Sie wohnen gleichsam jenseits der Moden und Konventionen in den Tiefen und der fruchtbaren Latenz unseres Daseins als selbstbewußte sprachliche Lebewesen und werden aktiviert und ans Licht gezogen, wenn wir handeln und sprechen, wenn wir unser alltägliches Leben leben oder in die sublimen Regionen der Kunst aufsteigen.

Definition (4): Muster der Wahrnehmung formen und erleuchten unsere Erfahrung, sie werden von ihr aktiviert und animiert, aber sie entspringen ihr nicht. Intelligenz als Fähigkeit, durch Anwendung mehr oder weniger komplexer Algorithmen formale Zuordnungen von Mustern auf die Ebene unseres Wahrnehmens und Handelns zu bilden, wird durch Erfahrung aktiviert und animiert, sie entspringt ihr aber nicht.

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