Skip to content

Lumen vespertinum

18.11.2015

Philosophieren heißt nicht Antworten finden auf Fragen, die andere gestellt haben, wie wenn der Schüler mit einer guten Note oder einem freundlichen Lächeln belohnt wird, weil er die Frage des Lehrers richtig beantwortet hat.

Die Antwort heißt den Ballast oder das Joch der Frage abwerfen.

Du hast den Ballast und das Joch der Frage lange tragen müssen, und es war gut. Denn im Ertragen bist du gereift, denn ohne die deinen Gang beschwerende und verlangsamende Last wärest du rasch in den Abgrund gerannt.

Der Schüler wird gelobt, wenn er eine Rechenaufgabe gelöst hat. Er fragt nicht nach dem Wesen der Zahl, auch nicht wenn er bei dem Versuch, die Rechnung zu lösen, auf Granit stößt. Erst wenn der Sinn der Rechenoperationen klar ist, stößt der Nachdenker auf die Frage nach dem Wesen der Zahl.

Die Lösung dieser Frage besteht nicht in der Definition der Zahl, auch wenn die Logiker ausgezeichnete Definitionsvorschläge erarbeitet haben. Sondern in einer Abwendung von der Fragerichtung, ähnlich der Abwendung der Chemiker von der Richtung der Frage der Alchemisten, ob das Wesen des Feuers sich in einer speziellen Kraft der brennbaren Stoffe verberge, oder ähnlich der Abwendung der Physiker von der Richtung der Frage der Metaphysiker, ob die Welt aus den elementaren Stoffen bestehe, deren sensible Aspekte wir wahrnehmen. Nur geht es bei den Fragen der Philosophie gleichsam um das Ganze des Lebens und das Ganze der Welt.

Du bist weit gegangen, der Weg war labyrinthisch und die Pfade überwuchert. Du weißt nicht, ob du nicht im Kreis gegangen bist. Und nur noch blaß schwant dir, von wo und wohin du eigentlich aufgebrochen bist. Dann kommst du auf die Anhöhe und bei klarem Rundblick hast du eine gute Aussicht. Du erkennst, daß du tatsächlich nicht weit gekommen bist. Unten liegt der Flecken, von dem du am Morgen losgegangen bist. Es ist zu spät, den Rückweg einzuschlagen, es dunkelt schon. Aber du bist es zufrieden, auch wenn du nichts erreicht hast als zu sehen, daß du nichts erreicht hast.

Wenn sich die Telefonschnur verheddert und Knäuel gebildet hat, bleibt dir nichts übrig, als die Verknotung dadurch aufzulösen, daß du vom Ende her schrittweise den Verlauf der Schnur bis zum Anfang zurückverfolgst und damit die Knäuel nach und nach auflöst. Die Schnur ist wieder glatt und schwingt. So mit dem Leben. Was hast du erreicht? Nichts. Aber jetzt mag es wieder zwischen Anfang und Ende schwingen.

Wir können den Zustand, den wir durch Auflösung der Knäuel und Knoten erlangen wollen, Klarheit oder Gelassenheit oder innere Ruhe nennen. Obwohl dies zu weit geht und zu übertrieben klingt. Denn während du im Abendlicht sitzt, schürzt sich ein neuer, der letzte Knoten.

Wir sind eins mit der Welt, wir sind die Welt. Wir müssen nicht umständlich suchen und mühsam finden, was uns fehlt. Denn es fehlt nichts. Alles ist immer schon da.

Was uns zu fehlen scheint, ist die Projektion einer Unruhe oder einer Qual, die uns die Geburt mitgibt. Wenn wir der Projektion hinterherlaufen, gleichen wir dem Windhund, der dem vor ihm hingehaltenen Köder über die Rennbahn hinterherläuft. Wir können den Schatten nicht fangen.

Don Juan glaubt mit jeder Eroberung den Schatten eingefangen zu haben. Doch vergebens. Der Geizige und der triebhafte Sammler glauben den Schatten mit jedem Wert, den sie in ihrer Schatztruhe einheimsen oder in ihrer Sammlung bergen, verringert zu haben. Vergebens. Der Attentäter glaubt den Schatten mit dem Tod seiner Opfer ausgelöscht zu haben. Vergebens.

Die Lösung einer philosophischen Frage ist kein Satz, der sie ein für allemal beantwortete, sondern das Verschwinden der Frage, ähnlich der Wolke, die langsam vorüberzieht und den klaren Himmel freigibt.

Die Einsicht in die Kontingenz des eigenen Daseins scheint die Schwelle zu sein, hinter der die Lösung wohnt. Doch wärst du ein anderer, würdest nicht du sie betreten können, und existiertest du nicht, hättest du sie nie betreten können.

Klar zu sehen heißt nicht mehr zu wissen.

Die philosophischen Fragen sind Parasiten auf dem Körper der ganz normalen Fragen des Alltags. „Warum bist nicht wie verabredet zu mir gekommen?“ Hier sind die Antworten bare Münze: „Weil ich verhindert war. Weil ich es vergessen habe.“ Aber auf die Frage: „Warum fühle ich mich allein und so, als hätte keiner, auch du nicht, mich erblickt, wie ich wirklich bin, obwohl du liebenswerterweise mich wie verabredet besucht hast?“ oder: „Warum hat mein Leben oder hat das Leben keinen Sinn?“ kann man weder mit Kleingeld noch mit großen Scheinen herausgeben. Auch das Abtöten der Parasiten ist keine wirkliche Lösung. Sie wachsen aus dem Nichts wieder nach.

Es ist nicht nur ein Zeichen begrifflicher Konfusion, sondern auch ein Zeichen von Hilfslosigkeit oder Verzweiflung zu glauben, alle Fragen ließen sich durch wissenschaftliche Forschung oder die strenge Disziplin wissenschaftlicher Methoden, sei es der Naturwissenschaft oder der Soziologie oder der Psychologie, lösen. Denn wir können fragen: „Wozu soll ich Wissenschaft treiben?“ Und angesichts der scheinbaren Antwort der Wissenschaft, wir seien wie alle Tiere das Produkt der bestimmten Gesetzen unterworfenen Evolution oder wir wohnten an der Grenze der sozialen Systeme oder wir seien die Resultante unserer Verhaltensdispositionen, können wir fragen: „Wozu soll ich leben?“

Wir können daran zweifeln, ob die Welt so ist, wie wir sie wahrnehmen, oder ob uns unsere Erinnerung nicht systematisch darüber in die Irre führt, was wir erlebt zu haben glauben. Aber wir können nicht daran zweifeln, daß der uns Nahestehende, dem wir uns aus freundschaftlicher Verbundenheit oder aus Liebe durch ein Versprechen oder einen Treueschwur verpflichtet haben, wirklich existiert, denn er mahnt uns durch seine bloße Existenz an unsere Verpflichtung oder unser Gelöbnis.

Wichtiger als die Lösung einer philosophischen Frage ist die Antwort auf die Frage des uns Nahestehenden. Wir können auch sagen: Durch die Verwiesenheit auf den Anspruch des uns Nahestehenden rücken die philosophischen Fragen in einen neuen Horizont und verlieren, zumindest vorübergehend, ihren Charakter der Unruhe und Bedrängnis.

Müssen wir uns mit dem Umstand oder dem Schicksal versöhnen, daß die seltenen Augenblicke der Klarheit immer wieder von einer unauflöslichen Dämmerung oder einem anhaltenden Zwielicht abgelöst und aufgelöst werden?

Manchmal, wenn wir uns darauf beschränken, das Nächste und das nächste Beste zu tun, schwindet die Unruhe, und wir können Knollen in die Erde stecken, auch wenn wir nicht mit Sicherheit davon ausgehen können, daß wir die Blüten der Tulpen noch erblicken werden. Wir sagen uns vielleicht, ein anderer möge sich an ihrer Schönheit erfreuen, oder wir sagen uns, immerhin, sie werden hoffentlich das Licht des Lebens erblicken.

Manchmal können wir einen scheinbar unauflöslichen Knoten entwirren, indem wir einem uns einmal Nahestehenden, der uns verstört hat oder den wir verstört haben, mit einer letzten Geste, einem letzten Zuruf beglücken, ja wir können es sogar oder wir können es vielleicht am ehesten, wenn er die Herkunft der Geste oder des Zurufs nicht erkennen und nicht enträtseln kann.

Es ist gleichgültig, ob wir von den abertausend Galaxien oder dem Ursprung des Universums aus einer quantenphysikalischen Singularität oder von der DNS als dem Urfaden der Lebensinformation wissen, ob wir nach dem Zweiten oder dem Ersten Weltkrieg, dem Dreißigjährigen Krieg oder den Perserkriegen gelebt haben werden.

Es ist töricht, den Sinn des Daseins mit den Etiketten der Geschichte zu bekleben. Warum sollte es uns auszeichnen, das angebliche Projekt der Aufklärung und Moderne zu betreiben, wenn wir genauso gut an den mystischen Orgien der Großen Mutter hätten teilhaben können?

Können wir, indem wir die historischen Ereignisse als Traumrequisiten und die historischen Gestalten und Namen als Reimwörter oder Tarn- und Spitznamen für unsere humoristischen Gedichte verwenden, das Joch der Geschichte abschütteln?

Wir sind den langen Weg gegangen und sitzen müde auf der Bank am Aussichtspunkt. Das Abendlicht läßt die scharfen Konturen der Gegenstände allmählich verschwimmen oder hüllt den rohen und gewalttätigen Ursinn des Lebens in eine gnädige Aura aus purpurner Stille. Wir geben der Müdigkeit nach und lauschen ins Nirgendwo. Hören wir von fern das seltsam vertraute, seltsam fremde Plaudern der Wellen des tief unter uns ins Meer drängenden Stroms oder sind es die neckenden oder lockenden Rufe der Toten?

Comments are closed.

Top