Luftwurzeln
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Worin zeigt sich die Dummheit der Philosophen? – In der Anbetung der Vernunft.
Worin die Dummheit der Wissenschaftler? – In der Vergötzung der erklärenden Methode.
Dasein ist jenseits von Vernunft (und Unvernunft).
Wie die Erde nicht an Fäden hängt und von keiner Schildkröte getragen wird, so schweben auch wir gleichsam im Freien ohne festen Halt und tragenden Grund.
Wir befürchten nicht, daß die Erde plötzlich klafft und uns verschlingt, daß unser Gegenüber sich plötzlich in Luft auflöst.
Wie zweifeln nicht daran, daß wir nicht als Double unseres gestrigen Selbst aufwachen, auch wenn wir die Fäden der Erinnerung nicht vollständig zurückspulen können.
Wir wissen in einem basalen Sinne, daß die Sprechpuppe oder die digitale Stimme der Mailbox nicht meint und nicht versteht, was sie quiekt und quakt.
Wir wissen, daß unser Hund zwar auf seinen Namen hört, doch nicht versteht, daß er einen hat.
Uns überkommt kein Zweifel derart, daß wir an unserem Schreibtisch sitzend in einem unserer Wahrnehmung unzugänglichen Sinne (oder weil der Faden der Erinnerung über Nacht gerissen ist) nicht mehr dieselben sein könnten, die gestern an demselben Schreibtisch saßen.
Wir sind uns sicher, daß die Rosen in der Vase sich nicht in Luft auflösen, wenn keiner sie wahrnimmt; obwohl es keine Möglichkeit gibt, dies empirisch zu prüfen.
Mit Lebewesen, die in einer Welt zu Hause wären, in der sich die Gegenstände (einschließlich ihrer selbst) ohne Vorankündigung und Grund in Nichts auflösen könnten, wären wir nicht in der Lage, uns über basale Angelegenheiten zu verständigen.
Müßten wir befürchten, daß sich die Rosen, die wir unserer Freundin zum Geburtstag schenken, sich kaum in die Vase gesteckt in Luft auflösen könnten, verlören sie in dem Maße an Wert, wie unser Vertrauen darauf, daß sie sich wenigsten einige Tage halten, an Sicherheit einbüßte.
Unser Dasein ruht aufgrund der Annahme einer gewissen Dauer der Dinge in einem wenn auch fragilen Gleichgewicht.
Würde sich die Bedeutung der Begriffe, die wir täglich verwenden, in einem unvorhersehbaren Ausmaße ändern, würden wie bald verstummen.
Das Wort gilt, und wir verlassen uns auf die Zusage. Warum? Weil dies die Bedeutung oder Spielregel für das ist, was wir Zusage oder Versprechen nennen.
Wären alle unsere mentalen Zustände kausale Bilder physischer Zustände unseres Gehirns und unsere Handlungen mit ihnen identische Naturereignisse, wäre das Leben ein Traum. – Und wir hätten nicht einmal die Chance, dahinterzukommen und den Schleier zu lüften.
Wäre unser Gehirn eine Rechenmaschine, wie könnten wir uns verrechnen, wie den Fehler bemerken und revidieren?
„Woher weißt du das?“ – „Ich habe es selbst gesehen.“ Mit solchen Auskünften geben wir uns zumeist und zurecht zufrieden, ohne die Bedeutung dessen, was mit den Begriffen „ich“ und „sehen“ gemeint ist, in Frage zu stellen.
Während einer angeregten Plauderei wägen wir nicht jedes Wort ab und haben nicht für jede Äußerung einen zureichenden Grund in petto. Dennoch würden wir den Verdacht, wonach wir nicht im eigenen Namen sprechen, sondern als Sprachrohr unzugänglicher fremder Mächte, als Ausgeburt einer sinnlosen Skepsis zurückweisen.
Wir können an der Wahrheit mancher Aussagen Cäsars in seinem Bericht an den römischen Senat zweifeln, aber nur, wenn wir die Bedeutung seiner Aussagen, wonach er dies und jenes gesehen, gesagt, getan habe, nicht in Frage stellen, sondern so verstehen, wie wir sie gebrauchen, wenn wir von uns behaupten, wir hätten dies und jenes gesehen, gesagt, getan.
Wahre Erinnerung kann kein Bild dessen sein, woran wir uns erinnern; denn dafür haben wir kein Kriterium.
Warum hat er das getan? – Er wollte es. Dafür, daß er dies eher als etwas anderes oder gar nichts wollte, kann er Gründe angeben; aber nicht dafür, daß er es wollte.
Die Vernunft ist kein Wesen, keine Person, kein Richter, der ihre eigenen Befugnisse legitimieren, ihre eigenen Grenzen ein für alle Mal abstecken könnte. – Wir finden nur Argumente, die mehr oder weniger stichhaltig, einleuchtend, plausibel sind. Aber das Spiel der Argumente wiederum auf einem Argument oder einem letzten Grund, der das ganze Spiel trägt, gründen zu wollen, wie etwa das Haus auf seinem Fundament, mutet widersinnig und töricht an.
Jener scharfsinnige Kopf, der die anthropologische Mannigfaltigkeit der Artung und Gesittung, die bunten Einsprengsel der Begabung und auch das so unterschiedliche Talent zur moralischen Lebensführung der Menschen in einem kalten und ernüchternden Licht vor Augen hatte, glaubte dennoch, dies krumme Holz mit dem scharfen Eisen seiner sittlichen Vernunft glattschaben zu sollen.
Die Wurzeln des menschlichen Daseins gehen nicht in die haltgebende Tiefe eines festen Grunds, sondern sind gleichsam Luftwurzeln.
In dem Maße, wie unser Leben von Konventionen, Ritualen, Regeln und Gebräuchen durchflochten und durchkreuzt ist, können wir es nicht auf objektive Faktoren oder die Einheit einer natürlichen Art zurückführen. Denn alle konventionellen Ordnungen, ob die Mathematik, die verbale Alltagsverständigung oder das sprachliche Kunstwerk, unterliegen Kriterien wie dem Korrekten und Inkorrekten, dem Angemessenen und Unangemessenen, dem Richtigen und Falschen, während natürliche Ordnungen mehr oder weniger deterministischen Gesetzen gehorchen, deren Erfüllung diesseits der Normen menschlichen Ermessens geschieht.
Der Vogel singt, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, dasselbe vom Dichter einzufordern, zeugt von wenig Kunstverständnis.
Der Vogel singt nicht eigentlich wie der Sänger, der ein Notenbild vor Augen hat; die Noten liest er ab, indem er sie singend interpretiert, der Vogel interpretiert nichts.
Die Anthropomorphismen und Metaphern, mit denen wir über Tiere reden, bringen sie uns nur scheinbar nahe, in Wahrheit verstellen sie uns die Fremdheit ihres Daseins.
Du oder ich zu sein sind keine Formen des Wissens, sonst könntest du ja wissen, wie es wäre, ich, und ich, wie es wäre, du zu sein.
Es ist merkwürdig und erstaunlich, daß wir mittels bedeutender Dichtung fühlen können, was wir bisher kaum oder nur dunkel gefühlt haben, und mittels großer Malkunst sehen können, was wir bisher so nicht gesehen haben.
Der Atheist wird nicht gläubig aufgrund der Gottesbeweise des Anselm, aber vielleicht durch das Erlebnis einer religiösen Liturgie.
Der Dichter verstummt nicht, weil ihm die Worte ausgehen, sondern weil sie schal werden, ihren Glanz und ihre Frische verlieren wie ein morastig gewordener Teich, weil sie fade schmecken wie ein abgestandener Wein.
Ein anderer verstummt, weil ihm das Salz des Lebens, mit dem er das Brot des dichterischen Worts gewürzt hat, schal geworden ist – jenes Salz oder jene kaum definierbare Würze, die wir schmecken, wenn wir „ich“ sagen und „du“.
Und wieder einer mag die eigene Sprache wiederfinden, nachdem er die allzu scharfen exotischen Gewürze, mit denen er seine exquisiten Gerichte überfeinerte, weggeworfen hat und zu schlichter frugaler Kost, bestreut mit Kräutern des heimischen Gartens, zurückgekehrt ist.
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