Logische Schneisen XIII
Mit einer auf deine Sehschwäche eingestellten Brille siehst du so gut wie Normalsichtige. Du siehst mit einem Sehapparat, was immer es zu sehen gibt. Die Brille täuscht ja nichts vor – über den Rand der Brille kannst du freilich nicht sehen.
Mit einer Karte der wichtigsten Fuß- und Wanderwege sowie Fahrradwege, die sich durch deine Stadt schlängeln, erfasst du leicht, wie du vom Ort A zum Ort Z gelangst – freilich per pedes oder mit dem Fahrrad. Willst du mit der U-Bahn oder S-Bahn zum deinem Zielort fahren, benötigst du eine andere Karte und eine andere Art von Karte. Dasselbe gilt für die Straßenkarte.
Die Karten kannst du übereinander projizieren oder als transparente Folien übereinanderlegen, dann erhältst du eine Übersichtskarte für Fuß- und Fahrradwege, Straßen und U-Bahnlinien sowie S-Bahnlinien in deiner Stadt.
Wenn du den auf der Karte der Stadt Frankfurt verzeichneten Fußweg vom Merianplatz durch den Bethmannpark über die alte Wallanlage bis zur Alten Oper abschreitest, wird es dich nicht erstaunen, festzustellen, dass der von dir gesehene und beschrittene wirkliche Weg ganz anders ausschaut als die dünne Linie auf der Karte. Ja, die auf die zweidimensionalen Fläche projizierte Linie hat mit der dreidimensionalen Wegstrecke kaum Ähnlichkeit – außer der einen, aber entscheidenden: von dem topographischen Zeichen für einen Platz, deinem Ausgangsort, bis zum topographischen Zeichen für ein kulturelles Monument, deinem Zielort, zu reichen und die dazwischen liegenden Wegabschnitte metrisch proportional zu den wirklichen Wegabschnitten abzubilden. Und diese Eigenschaft der Projektion, uns eine metrische Ähnlichkeit eines Weges, einer Fläche oder eines Raums zu vermitteln, reicht aus und erfüllt den gewünschten Zweck, uns auf den Weg und ans Ziel zu bringen.
Die Wegekarte verzeichnet nicht die schnell wechselnden Eigenarten und Individualitäten, die dir unterwegs begegnen können, nicht die Forsythien an der Umfriedung des Kindergartens, die gerade jetzt blühen oder nicht blühen, und schon gar nicht jenen alten Bettler, der auf dem Stein am Teich sitzt und vor sich hinstarrt und vielleicht morgen dort nicht mehr sitzen wird und vielleicht nirgendwo mehr sitzen wird. Wir sagen kurz, die Karte vermittelt einen Ausschnitt des Wesentlichen oder Bleibenden: Der Platz, von dem du ausgehst, gehört zu diesem Bleibenden, und das Gebäude der Alten Oper ebenfalls – freilich, müssen wir einschränken, bleibend heißt in der Welt, in der wir leben, voraussichtlich und vorübergehend bleibend. Immerhin wurde das Opernhaus im Kriege zerstört, und jener Platz könnte einmal zugebaut werden und verschwinden, aus der Wirklichkeit und von der Karte.
Was aber vorübergehend auf der Karte und in der Wirklichkeit seinen Platz einnimmt, wie der Platz und das Gebäude, nimmt nur diesen und keinen anderen Platz in dieser Stadt, in diesem Land, auf dieser Erde und im gesamten Universum ein. Mit dem topographischen Zeichen für den Platz und dem topographischen Zeichen für das historische Gebäude reservieren wir einem singulären Gegenstand einen singulären Ort auf der Karte, der einem singulären Gegenstand an einem singulären Ort in der Wirklichkeit entspricht. Wir sagen: Zeichen wie die topographischen Zeichen sind Identitätszeichen. Sie stehen stellvertretend für einen Gegenstand, der nur einmal auf der Welt vorkommt.
Wenn einer dich am Merianplatz fragt, wie er denn zu Fuß zur Alten Oper gelange, kannst du es ihm vielleicht umständlich erklären – ob er den langen Sermon freilich behält, steht dahin. Besser du kannst es ihm auf seiner Karte zeigen, indem du mit dem Finger die Strecke vom Ausgangs- zum Zielort langsam abfährst. Noch besser, du zeichnest den Verlauf des Weges mit dem Bleistift nach.
In der geometrischen Ebene und im dreidimensionalen Raum des kartesischen Koordinatensystems können wir beliebige Punkte mittels geordneter Paare beziehungsweise geordneter Tripel von Punktmengen herausgreifen und identifizieren. Hier sind die Zeichen für die Punktkoordinaten, also schlichte ganze oder rationale Zahlen, die Identitätszeichen.
Wenn wir auf dem Notenpapier hinter dem C-Schlüssel mit dem Zeichen für den Ganzton das eingestrichene c als unseren Ausgangspunkt herausgreifen und mit dem Zeichen für die Viertelnote das zweigestrichene c als unseren Zielpunkt bestimmen, haben wir mittels der Notation auf dem Notenpapier den realen Ausgangsklang c’ und den realen Zielklang c’’ projiziert. Unsere Notenzeichen sind Identitätszeichen für die Identität der von ihnen bezeichneten Tonwerte. Wie auch immer wir die bezeichneten Töne realisieren, ob mit dem Klavier, der Geige oder unserer Stimme, die Notation geht das gleichsam nichts mehr an. Natürlich werden bei der Wiedergabe desselben Tons mittels Klavier, Geige oder Stimme genügend Nebengeräusche oder auch kleine Fehlgriffe dafür sorgen, dass die erzeugten Töne physikalisch nicht hundertprozentig identisch sind. Dennoch lassen wir den Tonwert in einem gewissen eng bemessenen Spielraum von Abweichungen über und unter einer idealen Norm als DENSELBEN Tonwert gelten.
Mittels unserer Notenschrift können wir nicht nur die Oktave c’ und c’’ angeben, sondern auch die Ganztöne und gewisse Halbtöne zwischen diesem Ausgangs- und Zielpunkt. Wir können zwischen c und d sowohl ein cis wie ein des eintragen und lassen diese Halbtöne als sogenannte enharmonische Verwechslung füreinander gelten. Wir können aber mit unserer Notation zwischen c und des nichts mehr bezeichnen – obwohl es gewiss möglich ist, zwischen diesen Tonwerten physikalisch neue Klänge zu generieren, die auch von anderen als dem von uns festgelegten und benutzten Notensystem in einer komplexen Notation aufgezeichnet werden könnten.
Die Notation, mit der wir Ganz- und Halbtonschritte zwischen den 7 1/3 Oktaven des wohltemperierten Klaviers herausgreifen, bildet eine logische Mannigfaltigkeit, die unseren tonalen Zwecken genügt, weil sie differenziert und reichhaltig genug ist, um alle Noten zu identifizieren – alle Noten im Sinne all der Noten, die wir brauchen.
Wir können sagen: Die Notation schreibt mir vor, was ich als möglichen tonalen Bezug auffassen kann, und was nicht. Zwischen den Notenwerten cis und des existiert für uns kein weiterer Ton. Vergleiche diesen Sachverhalt mit dem Zahlenstrahl, dessen logische Mannigfaltigkeit weit umfangreicher ist – lässt er doch gleichsam beliebige „Zwischentöne“ zu: zwischen den ganzen Zahlen die rationalen Zahlen, zwischen den rationalen Zahlen die irrationalen Zahlen, zwischen den irrationalen Zahlen die imaginären Zahlen.
Wollen wir annehmen, dass unsere Sprache zum Zwecke der Repräsentation und Projektion dessen, was „es gibt“, was wir als Gegenstände oder Tatsachen der Welt bezeichnen, ähnlich funktioniert wie die erwähnten Formen der topographischen, geometrischen, tonalen oder zahlenförmigen Projektionen mittels eines Zeichensystems, das letztlich den Umkreis dessen, worüber wir reden können und worüber wir nicht reden können, ähnlich festlegte wie die Notenschrift festlegt, welche Töne wir hervorbringen können und welche Töne hervorzubringen uns versagt ist?