Kommentar zu dem Gedicht „Prière“ von Antonin Artaud
Prière
Ah donne-nous des crânes de braise
Des crânes brûlés aux foudres du ciel
Des crânes lucides des crânes réels
Et traversés de ta présence
Fais-nous naître aux cieux du dedans
Criblés de gouffres en averses
Et qu’un vertige nous traverse
Avec un ongle incandescent
Rassasie-nous nous avons faim
De commotions intersidérales
Ah verse-nous des laves astrales
A la place de notre sang
Détache-nous. Divise-nous
Avec tes mains de braises coupantes
Ouvre-nous ces voûtes brûlantes
Où l’on meurt plus loin que la mort
Fais vaciller notre cerveau
Au sein de sa propre science
Et ravis-nous de l’intelligence
Aux griffes d’un Typhon nouveau.
Gebet
Ah, gib uns Schädel, die glühen,
Schädel, die Himmelsblitze entzünden,
Seher-Schädel, die Wahres künden,
die deine Gegenwart fühlen.
Erweck uns aus inneren Himmeln,
durchlöchert von Abgrundschauern,
ein Taumel durchquere die Mauern
mit eines Nagels Glimmen.
Sättige uns, wir sind hungrig
nach interstellaren Beben.
Anstatt daß wir dem Blute leben,
wärme astrale Lava die Venen.
Mach uns los. Trenn uns auf
mit deinen Händen brennender Wut.
Öffne uns diese Gewölbe aus Glut,
wo wir tot sind toter als der Tod.
Laß unsre Hirne wallen
auf eigenen Wissens Grunde.
Ritze der Einsicht die Wunde
mit neuen Typhons Krallen.
Das Leben und Werk Artauds muten uns heute als Kreuzweg einer absurden Passion an, als schreckliches Scheitern, als notwendiges Scheitern.
Das Gedicht „Prière“ entstammt der Sammlung „Le Pèse-nerfs“ aus dem Jahre 1923 (deutsch: Die Nervenwaage, Berlin 1961) und ist das Werk eines noch jungen Mannes (geboren 1896 in Marseille, wo er der Wahrheit der katholischen Liturgie in dem von ihm besuchten Gymnasium der Marinistenmönche ansichtig wurde), eines jungen Beaus, dessen verletzliche und nach letzten Steigerungen ins Überwirkliche aufzüngelnde Seele die Wahrheit der liturgischen Hostie schon in die Säure des ätzenden Zeitgeistes von Paris, vulgo Sürrealismus, geworfen hatte, um ihre Auflösung als Befreiung von sich selbst zu genießen und in theatralischen Zuckungen und Verzückungen zu feiern.
Blicken wir kurz auf Syntax und Metaphorik. Syntaktisch herrschen die einfache Reihung und meist die parataktische Gliederung vor (es gibt nur einen unscheinbaren mit „que“ eingeleiteten abhängigen Nebensatz in Vers 7), wobei die imperativischen Verbformen entweder durch Akkusativobjekte, die Partizipien und erweiterte Partizipialkonstruktionen mit sich führen, oder durch Infinitive ergänzt werden. Uns will bedünken, daß der Lyriker Artaud von der manchmal schwindelerregenden Höhe der syntaktischen Verschränkung und Verflechtung, wie sie die Lyrik eines Mallarmé oder Valéry erklommen hat, eilends oder unwirsch hinabgestiegen ist, um auf der parataktisch flachen Ebene umso schneller seinen atemlosen Laufschritt einnehmen zu können.
Die Diktion und die Lexis stehen ganz im Bann der Feuer- und Lichtmetaphorik, die für das Seelendrama Artauds so typisch ist: von himmlischen Blitzen entzündete Schädel, Schädel, die leuchten, ein glimmender Nagel, den der Taumel (eine Artaud gemäße Allegorie) ausstreckt, um damit fatal auf das sprechende Subjekt einzuwirken, glühende Sternenlava, die statt des Bluts die Adern füllt, die Flammenhände Gottes, die das Subjekt auseinandernehmen, oder Glutgewölbe, wo man über den Tod hinaus stirbt. Die Entflammungssehnsucht verbindet sich stets mit grausamen und bisweilen schaurigen Bildern einer Neuschöpfung durch Verstörung, Verletzung und Vernichtung. Immer wieder wird das Subjekt mit Nägeln geritzt, mit Glut begossen, mit Feuerhänden drangsaliert, zerrissen und in Höllenspektakel geworfen, es muß schwanken und wanken, zittern und bangen – kurz, wir befinden uns mitten im Artaudschen Theater der seelischen Folter und Grausamkeit, auf lyrische Maße verknappt und eingedampft, sodaß der zu befürchtende Flächenbrand gerade noch an den Enden der Verse und Strophen haltmacht.
Wen ruft das Gebet an? Wer ruft und für wen und in welcher Art der Stellvertretung für ein unsichtbares oder sich erst durch den Anruf bildendes Wir? Sicher ist nicht der christliche Gott der Angerufene. Und gewiß ist die lyrische Stimme ein Repräsentant des Dichters selbst.
Artauds Gebet ist eine satirische Umkehrung und genialische Übersteigerung des Hauptgebets der Christenheit und der christlichen Liturgie, des „Vater unser“, in dem der Name des himmlischen Vaters geheiligt, das Kommen seines Reiches und die Erfüllung des Kosmos mit seinem Willen und dem Feuer seines Geistes erfleht wird. Und es heißt in ihm: „Unser tägliches Brot gib uns heute.“ Wir denken, daß mit dieser Nahrung das Wort des Sohnes, der Logos, gemeint ist, von dem geschrieben steht, er sei im Anfang bei Gott gewesen und aus ihm sei alles hervorgegangen, denn mit dem Wort erschuf der Schöpfer das geschöpfliche Sein.
Artaud spricht das Vater unser mit bleckendem und zerrissenem Mund. Oder anders gesagt: Wenn man das Vater unser wie Artaud mit bleckendem und zerrissenem Mund spricht, verkehren sich die Worte Jesu und es werden Worte ausgestoßen wie die des Gedichts.
Wir bemerken zunächst, daß im Gedicht Verszeilen unregelmäßiger Silbenanzahl und verschränkte Reime (abba) vorwalten, wobei nur das innere Reimpaar (bb) eine reine Gestalt vollen Klanges erhält, während die äußeren Reime (aa) oft unrein sind oder manchmal nur Assonanzen oder Klangähnlichkeiten darstellen (braise – présence, faim – sang). Hervorzuheben ist, daß der Dichter der grausamen Zerreißung alles Gefügten und Geformten sich hier noch (anders als in seinen späteren Werken) der Konzentration auf eine geschlossene Versgestalt befleißigt hat. Indes, der Gehalt spricht eine andere Sprache, dem Sturm gleich, der das Dach des befriedeten oder vor sich hin dösenden Daseins hinwegfegt. Oder ist es bloß die lose sitzende Krawatte des Bürgers, die in wildes Flackern gebracht wird, ohne davonzufliegen?
Wir haben fünf Strophen vor uns, fünf Bitten, die sie jeweils eröffnen und ihren Ton anschlagen. Der wesentliche Inhalt der Bitten bezieht seine Faszination und seinen gleichsam dämonischen Charme aus der Idee der Neuschöpfung und Wiedergeburt im Medium der Verletzung und der Vernichtung. Das Wunschziel nach einem neuen animalischen Körper mit einer brennenden und sich verzehrenden Seele verrät uns alles über das seelische Elend des Betenden: sich gänzlich abgeschnitten zu fühlen von der Intensität des Lebensstromes, der sich in den schillernden Bildern seiner aufgeschäumten Blasen selbst genießt und wieder zurücknimmt in eine unauslotbare Tiefe.
Die Bitten, die den angebeteten Schöpfergott und Schöpfergeist nicht mit Namen anrufen, sondern ziemlich unwirsch und ungehalten mit kühnen Imperativen angehen, kreisen um den neuen Leib einer neuen Seele. Die erste Bitte spricht aus dem Unbehagen dessen, der sich in seinem Schädel wie in einer Muschel oder blechernen Kapsel oder einem Schildkrötenpanzer eingeschlossen und eingezwängt fühlt: Gott möge ihn mit Himmelsfeuer und himmlischen Blitzen gewaltsam öffnen und in Brand setzen. Der Beter verlangt nach einer Neufassung seines Daseins, die transparent ist und osmotisch die Lebensregungen von außen und nach innen, von innen nach außen durchläßt.
Wir bemerken dazu zwei Dinge: Zum einen changiert die angeflehte Gottheit zwischen dem biblischen Schöpfergott des Worts und dem mythischen Blitzeschleuderer Zeus, ein Phänomen, das uns aus der Dichtung Hölderlins wohlbekannt ist. Paradox daran ist, daß der mythische Gott nicht durch eine gemeinsame Sprache, eben den schöpferischen Logos, mit dem Geschöpf verbunden ist, sondern in seiner unbezogenen Willkürmacht die Kreatur tödlich schlagen oder belebend treffen kann. Beides ist Schicksal und nicht Gnade, wie im christlichen Gebet vorausgesetzt.
Zum anderen entspringen die Gewalt und die Grausamkeit des Wunsches aus der gnadenlos-unerlösten Selbstbefangenheit des Bittenden. Wir wissen um die Gewalt, die Artaud sich durch exzessiven Abusus aller ihm zugänglichen Drogen anzutun bemüßigt fühlte, um den schmerzenden Druck seines Schädels und Panzers auf sein Gemüt wenigstens zeitweise zu lindern.
Die zweite Bitte spricht den Wunsch nach Neugeburt direkt aus („Fais-nous naître“), eine Neuschöpfung nicht aus dem gemischten Stoff der Bibel, Erde und göttlichem Atem, sondern unmittelbar aus Äther, Himmeln, die, Wiederholung der Grausamkeit der ersten Bitte, durchlöchert sein sollen von Abgrundschauern, gleichsam feurigen Tropfen, die sich durch das ganze Dasein des Geschöpfes brennen (eine ferne Assoziation der Feuerzungen des Pfingstereignisses). Ein Schwindel oder Taumel soll sodann mit brennendem Nagel das Geschöpf markieren oder anders gewendet: Nur ein gewaltsamer, ja tödlicher Eingriff und Angriff kann die schwielige Haut des Entzauberten aufritzen oder die Mauer der Totenstille durchbrechen.
Wir bemerken hier zum einen, daß die Wunschbilder um die gefährliche Nähe der Vernichtung und des Todes kreisen, auch wenn paradoxerweise dieser Tod heiß ist und glühend überwallt wie die Esse des göttlichen Schmieds. Zum anderen ist evident, daß mit dem Wunsch nach dem großen Taumel („vertige“) der Wirklichkeit der menschlichen Existenz, auf der Erde zu gründen und durch die Techniken des Lebens die Schwerkraft auszutarieren, Hohn gesprochen wird, eine Lästerung der kreatürlichen Schwäche, die sich öfters durch Wahnsinn rächt. Natürlich darf verbucht werden, daß die metaphysische Metapher des unteren Abgrunds (gouffre, abîme) sich wie die gegensinnige des oberen Abgrunds (bleu du ciel, azur) von Baudelaire an durch die symbolistische Dichtung zieht (und manchmal schleppt), um, wie zu sehen, in der des Sürrealismus ihre Aussagekraft auszuhauchen. Denn uns dünkt bereits hier der von Artaud evozierte Schwindel einem geschickt inszenierten Theaterschwindel nicht unähnlich.
Die dritte Bitte und die dritte Strophe stehen im Zentrum des Gedichts und beziehen sich, wie erwähnt, explizit auf die Bitte des Vater unser nach dem täglichen Brot. Nun, welcher Hunger schreit hier nach Sättigung? Das Verlangen, die mysteriösen Bewegungen und Schwingungen zwischen den Gestirnen mitzuvollziehen und zu vergegenwärtigen. Das Verlangen, statt des menschlichen Bluts astrale Lava in den Adern zu fühlen.
Wir bemerken hierzu folgendes: Sicher ist es gut, statt immer nur die alltägliche Kruste zu kauen ab und an den außeralltäglichen Kuchen des Charismas zu schmecken. Doch welcher Meisterkoch oder besser welcher Arzt der Diäten unterscheidet das Charisma, dessen Genuß zu einem dunklen Schwindel und am Ende zu Durchfall führt, von jenem, das wie das Charisma der Propheten den rechten Weg weist? Besser ist es allerdings, Blut statt Sand in den Adern zu haben. Aber ist flüssige Lava nicht letztlich auch Sand, nur vermengt mit glühender Magma?
Sein Hunger und sein Verlangen, klopft uns der Dichter mit dem Hammer insistenter Verzweiflung und leicht outrierten Aufruhrs auf den Schädel, gehen nach dem Absoluten. Und eben darum sprechen wir von dem tragischen, dem notwendigen Scheitern Artauds: Denn das Absolute, Gott, kann sich nicht in der Vernichtung des Einzelnen manifestieren, in der mystischen Nacht, die dann eintritt, leuchtet kein Stern und spricht kein Lebendiger mehr. Gott selbst ist ja der Einzelne und Einzige und er ist mit den Geschöpfen eben durch die Schöpfung und die Wirkung des sprechenden und inspirierenden Geistes vermittelt. Die wahre Einzelheit oder Einsamkeit ist das sprechende Ich, so wie Gott das einzelne und einsame Ich ist, das allein Wahres spricht, und das Geschöpf das einzelne und einsame Ich ist, das spricht, Wahres und Unwahres, zu sich und seinesgleichen und im Gebet zu Gott, und wenn der Einzelne angesprochen wird, auch von der höchsten Instanz, soll und muß er die Möglichkeit haben, mit eigenen Worten, wie ungelenk auch immer, zu antworten. Aber wenn man den Einzelnen aus der sich sehr langsam und langhin flechtenden Kette der Kultur der Sprache und des Geistes herausreißt, wie es Artaud exerziert und programmtisch fordert, bleiben nur Lallen und Glossolalie, die aus weniger edlen und inbrünstigen Herzen wie dem Artauds nichts als Aufschneiderei und clowneske Selbstinszenierung hervorspucken.
Die ontologische Klippe, daß das einzelne Ich die atmende Grenze ist, die aufzutrennen Verlöschen und Verstummen hieße, daß das einzelne Ich sich mit Worten ausspricht, die nur ihm gehören und gleichzeitig die Worte aller anderen sind, diese Klippe ist es, an der die Flammenbrandung Artauds zerschellt.
Die wahre Aufklärung über das Absolute erteilt die Wahrheit des Evangeliums von der Einwohnung des absoluten Gottes in der kontingenten historischen Welt eines kleinen jüdischen Fleckens. Der Durchbruch des vereinzelten Ich zum Absoluten geschieht nicht im spektakulären Verglühen des Schädels und im Zerschmelzen des Konkreten, sondern in der einfachen Geste des Essens und Trinkens beim Abendmahl.
Die vierte Bitte beschwört erneut die Loslösung und Trennung des Ich von sich selbst, die, weil sie unmöglich zu erfüllen und paradox ist, nur wiederum Bilder des gewalttätigen Eingriffs nach sich zieht, in denen sich der Schöpfergeist in ein mythisches Monstrum mit glühenden Greifern zu verwandeln beginnt, eine Verwandlung, die in der Schlußstrophe in einer Invokation des Unterweltsgeistes Typhon gipfelt.
In dieser letzen Strophe verstehen wir den Genetiv „de l’intelligence” (statt der harmloseren Lesart des Akkusativs „l’intelligence“) als genetivus seperationis, eine deutliche Markierung für den Abweg Artauds in einen hemmungslosen und selbstzerstörerischen Irrationalismus, der in der gänzlichen Abwendung vom Logos und der Vernunft zu münden oder unterzugehen bestimmt war.
Typhon, ein Riese mit hundert Köpfen von Schlangen und Drachen, ist nach einer Variante des griechischen Mythos der Sohn der Erdmutter Gaia von Tartaros, dem Gott der Unterwelt, nach einer anderen der Sohn der Zeusgattin Hera von demselben Vater. Beide Zeugungen sind vom Rachegelüst der Mütter inspiriert, mit dem geborenen Ungeheuer die oberen Lichtmächte des Olymps zu verstören und zu kränken. Der Name des ozeanischen Sturms „Taifun“ leitet sich sprachgeschichtlich von „Typhon“ ab.
Typhon hat also bei Artaud gleichsam das letzte Wort: Er steht für die nietzscheanische Umkehrung der europäischen Tradition, in der sich die lichten Mächte der Höhe gegen die Chaosmächte der Tiefe behauptet haben, in der sich der Geist der hebräischen Weisheit von den barbarischen Blutkulten der orientalischen Götter verabschiedet hat.
Warum notwendiges Scheitern? Gewiß gewahren wir hier die krumme Linie von Nietzsche über Artaud bis zu Derrida und der Postmoderne: Sie scheitern an der ontologisch notwendigen Grenze des Selbst oder Ich und an der logisch notwendigen Grenze der Konsistenz unserer Aussagen. Das Ich kann nicht als anderer seiner selbst erwachen und es kann nichts sagen, was es nicht sagen kann, wenn das Gesagte dem Sinn widerspricht, den es aussagt. Die mit dem Verhängnis der Einsamkeit behaftete Kontinuität der Person ist kein Gefängnis, sondern die Grenze des Selbst ist die ontologische Voraussetzung dafür, daß es sich öffnen und auf Zeit in das Gespräch und die Interaktion eingehen kann. Das Verbot des Widerspruchs ist kein Maulkorb, sondern die logische Voraussetzung dafür, daß eine Gliederung und Ordnung unserer Sätze zustandekommen, denen wir Wahrheit zuzusprechen berechtigt sind.
Der Theatermann und Regisseur Artaud hat ganz folgerichtig die lichte Gestalt des Wortes hinter den Rauchfahnen blutiger Orgien zu verbergen gesucht – und wenn wir sagen können, an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen, müssen wir mit geringer Anteilnahme und großem Bedauern auf die faulen Früchte zeigen, mit denen heute vulgäre Theaterinszenierungen, die das Wort nicht lassen stehen, die gänzliche Entartung und Vermüllung der hochherzigen Aspirationen der großen, brennenden Seele eines Antonin Artaud bezeugen.