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Kleine Poetik in Bildern VII

17.06.2015

Der wuchtige Glatzkopf mit dem ungeheuren Wanst hat seinen verbeulten Filzhut neben sich auf die Holzbank gelegt und tätschelt ihn wie ein Schoßhündchen, von dem man für eine kurze Weile Abschied nimmt. Er hat sodann mit einem schonungslosen Gähnen die Höhle seiner inneren Leere der Welt als letzte Botschaft enthüllt und sich mit einem riesigen blau-weiß karierten Schnupftuch den kalten Schweiß von der Stirn gewischt, die einer Mauer des Starrsinns gleicht, an der jedwedes leise Klopfen des Mitmenschen ungehört verhallt. Der Berg aus Fleisch wird straff umschlossen von den perlmuttbesetzten Riemen seiner Lederhose, die in ihrer unsäglichen Tiefe von der Drangsal walrossförmiger Schwellungen ausgewuchtet ist. Er hat es sich im Englischen Garten unter schattiger Platane bequem gemacht. Während er den Schaum vom Maßkrug schlürft, gehen seine winzigen blauen Augen über und befeuchten sich, als die Kellnerin die Schlachtplatte mit dem dampfenden Haufen gebratener Würste, brutzelnder Wachtelschenkel und tränender Innereien auftischt, wie die panischen Augen eines Schweins, das quiekend zur Schlachtbank geführt wird. Unter dem Tisch aber gewahren wir zwischen den borstigen Waden des bewamsten Monstrums ein Mäuschen, das fette Brosamen vom Tisch des Schmausenden aufliest und geschwind in sein Nest birgt. Und das Lebenslied, das hier erklingt, dessen Verse Schlürfen und Schmatzen, Grunzen und Rülpsen, Husten und Niesen und dessen Refrain nur Furzen ist, gilt es uns nicht für ein verzerrtes Echo der mystischen Orgien der Antike?

Als die Oberprima, die erste gemischte Klasse dieser Altersstufe, von den gemeinsamen Ferien in Italien zurückkehrte, war das Schicksal deines geschätzten ehemaligen Deutschlehrers schon beschlossen. Er wurde aufs Land auf eine Lehranstalt für widerspenstige Bauernlümmel verbannt, und einmal, erinnere dich, ist er dir in einem Abteil des Nahverkehrszugs auf der Strecke zwischen Bonn und Koblenz begegnet, sichtlich vom Alter und einem unbestimmtes Etwas gezeichnet – er grüßte dich nicht. Sah er verschämt auf den Boden? Stieg er aus Verlegenheit in Andernach aus, obwohl er gar nicht dort wohnte? Er, der dir ein Vorbild lyrischer Hellhörigkeit und poetischer Finessen war, dir Dichter deines Sinns wie Mörike, die Droste, Trakl mit der Innigkeit mitfühlenden, mitschwingenden Rezitierens nahegebracht hatte, er, der aus dem Fenster des Schulzimmers nirgendhin starrend sich in Absencen mystischen Schweigens verlor, er soll sich, ging die Fama, durch einen sexuellen Fauxpas während der Ferien unmöglich gemacht haben. Wurde er erwischt, wie er nackt und mit erigiertem Glied die nächtlichen Gänge entlangtastete, unzüchtig einander schlingenden Atemstößen nachjagend? Hat er sich im Frauenbad der Hose entledigt und einem kreischenden Mädchen unter der Dusche seine einsam in die Nacktheit der Welt strotzende Wollust entboten? Welch ein Lebenslied erklang dir hier? Waren seine Verse nicht Seufzen und Schniefen, Schluchzen und Glucksen, Fisteln und Mucksen und sein Refrain nichts als Verstummen?

Du musstest am Bett des sterbenden Vaters im Krankenhaus, dem Stift in Koblenz, bei weit geöffneter Tür, denn brütende Hitze des Spätsommers stand in den Gängen und den Schwestern genügte das elende Keuchen und Röcheln als Lebenszeichen und das Stocken des Atems als Zeichen, wieder einmal nach dem Grad der Aussichtslosigkeit dieses Lebens Ausschau zu halten, du musstest aus dem Nachbarzimmer, das ebenfalls offen stand, die letzten Verlautbarungen einer anderen Sterbenden vernehmen, die aus nichts als einer Kaskade obszöner Flüche auf das Dasein, die Welt und Gott bestanden. Die sterbend dem siechen Leib entpressten Worte und Klänge ballten und streckten sich rhythmisch am Faden einer Litanei, der sich wie der Faden der Spinne aus dem lebendigen Mark selber erzeugte. Und war es nicht eine Litanei, nur mit umgekehrtem Vorzeichen?

Wir nennen grotesk den ästhetischen Ausdruck einer Wahrheit über den Menschen und das Leben, der im Maßlosen sein Maß findet und auf den schiefen Bahnen der Verzerrung, Überdehnung und Zerstückelung alles menschliche Maß im Maßlosen verliert. Grotesk heißt uns die wulstig und wurmig, brüllend und brechend, wabernd und labernd sich entblößende animalische Natur, wie sie von Horaz und Juvenal, Martial und den christlichen Kirchenvätern, Baudelaire oder Proust unbarmherzig zur Sprache oder von den Bildhauern der gotischen Kathedralen und den Genremalern Hollands, von Hieronymus Bosch oder George Grosz trefflich ins Bild gebracht worden ist.

Das groteske Unmaß kommt zur Geltung nur im Verhältnis zu einem mehr oder weniger bewusst empfundenen oder ersehnten oder vermissten Ideal gemessener Formen, die Körper und Geist des Menschen ein harmonisches Gesicht und Gepräge geben oder den guten, wohltuenden Umgang der Menschen miteinander stiften.

Wir finden in unserem imaginären Wörterbuch der ästhetischen Grundbegriffe unter dem Lemma „Groteske“ Einträge wie „unmäßig“, „verzerrt“, „grell“, „unförmig“, „aufgedunsen“, „verfault“ oder „aufgebläht“ und auf der Gegenseite Einträge wie „maßvoll“, „harmonisch“, „mild“, „gefasst“, „prägnant“, „genießbar“ oder „schlicht“. Wiederum schlagen wir eine imaginäre Seite in unserem imaginären Vokabularium um und treffen auf folgende Reihe: „verfressen“, „wüst“, „gewalttätig“, „viehisch“, „lasterhaft“, „wollüstig“, „triebhaft“ oder „schandhaft“ und auf der Gegenseite Einträge wie „maßvoll“, „bescheiden“, „sanft“, „menschlich“, „edel“, „zartfühlend“ oder „besonnen“. Wir bemerken, wie das Groteske sowohl den animalischen Körper als auch den sozialen Körper mit seinen Schlangen und Ungeheuern umklammert und umwürgt.

Nicht unähnlich anderen ästhetischen Werten wie dem der Anmut finden wir auch für das Groteske Anwendungsregeln der ästhetischen Grammatik oder der Deontik künstlerischen Handelns, die es uns ermöglichen, sowohl Körper und Objekte durch Konjunktion oder Reihung bestimmter ästhetischer Werte als auch Körperbewegungen und Geschehnisse durch Attribution oder Mengenbildung bestimmter ästhetischer Werte zu charakterisieren. Gerade für das Groteske bietet sich die Häufung, das Aufeinanderschichten und Aufeinandertürmen solcher Eigenschaftsbestimmungen an, um den Eindruck zu intensivieren oder das Bild, die Erzählung oder das Gedicht zur Klimax des Ausdrucks zu treiben.

Allerdings erreichen große Künstler einen bleibenden ästhetischen Eindruck dadurch, dass sie die Klimax durch Häufung und Agglomeration plötzlich abbrechen – an dieser Stelle weht uns aus unbestimmten Fernen eine kühle Luft oder eine Stille an, die uns ernüchtert und uns in unser eigenes Selbst zurückholt.

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