Kleine Poetik in Bildern VI
Johann Wolfgang von Goethe
Du tanzest leicht bei Pfirsich-Flor
Am luftigen Frühlings-Ort:
Der Wind, stellt man den Schirm nicht vor,
Bläst euch zusammen fort.
Auf Wasserlilien hüpftest du
Wohl hin den bunten Teich;
Dein winziger Fuß, dein zarter Schuh
Sind selbst der Lilie gleich.
Die andern binden Fuß für Fuß,
Und wenn sie ruhig stehn,
Gelingt wohl noch ein holder Gruß,
Doch können sie nicht gehn.
Wir sagen, in der Haltung des beflissenen Kellners, der uns auf traumsicher balanciertem Tablett die Getränke bringt, liege eine gewisse Anmut, weil uns die Mühe des aufrechten Gangs und die Konzentration auf das Gleichgewicht seiner Bürde unauffällig bleiben und hinter der lächelnden Fassade seines Gesichts verschwinden. Wir betonen, wie anmutig das Kind den Blumenstrauß überreicht hat, wenn die zweckhafte Ausrichtung der Armbewegung im Fluss und der sanften Kontinuität der Geste unterzugehen scheint. Uns bezaubert die Anmut in der Hingabe des Kusses, der den Mund oder den Busen nicht wie der Durstige die Quelle sucht, sondern selbst zur Quelle überströmender Zärtlichkeit wird.
Natürlich lachen wir, wenn der Kellner stolpert und ihm das Tablett auf den Boden saust. Das Kind, von der Mutter instruiert, reckt den Blumenstrauß dem Gast abrupt ins Gesicht, sodass er sich unwillkürlich abwendet: Die Mutter blickt peinlich berührt. Der ungestüme Liebhaber scheint den Mund der Geliebten mit der Zunge öffnen zu wollen: Sie wendet sich indigniert ab.
Wir empfinden in den Phänomenen der Anmut – Leichtigkeit und Nonchalance der Geste und Bewegung – eine die Schwerkraft scheinbar ausgleichende Macht, und in den Phänomenen, die die Leichtigkeit und Ungezwungenheit der Bewegung hemmen und zerstören, eben jene Schwerkraft ungehindert am Werke.
Wir bemerken zudem, wie der ästhetische Eindruck anmutiger Handlung und Bewegung vernichtet wird, sobald die Macht der Schwerkraft das Gleichgewicht stört oder die Absicht der Handlung und Bewegung aufdringlich ins allzu Sichtbare tritt.
Erblickt sich der Kellner zufällig im gegenüberliegenden Spiegel, während er uns das traumsicher balancierte Tablett bringt, mag es geschehen, dass er das Gleichgewicht verliert, weil er seiner Bewegung bewusst wird. Insofern hat etwas Wahres gesehen, wer die helle Reflexion der anmutigen Bewegung oder der Handlungsabsicht in Gegensatz zu ihrer vollkommenen Ausführung stellt.
Der Fußballspieler, der sich aufgrund physischer Überlegenheit und rüder Abwehr der Gegenspieler auf plumpe Weise Zugang zum gegnerischen Tor verschafft und den Ball siegreich verwandelt, mag den Jubel seiner Fans einheimsen, doch verdient er weniger Bewunderung als der Kicker, der sich tänzelnd um die verblüfften Abwehrspieler schlängelt und den Ball elegant ins Tor schlenzt.
Natürlich hat die Mannschaft gewonnen, die mehr Tore erzielt hat, gleichgültig ob mit plumpen, ruppigen und rohen Methoden oder mit Spieltechniken, die durch Eleganz und Anmut der Bewegung bestricken. Wir konstatieren, dass ästhetische Werte in den strategischen Spielen des Lebens meist nur eine untergeordnete Rolle beanspruchen können, wenn sie auch den Reiz und die Spielfreude oder den Genuss der Betrachtung erhöhen oder allererst freisetzen.
In unserem imaginären Wörterbuch der ästhetischen Grundbegriffe finden wir unter dem Lemma „Anmut“ Vokabeln wie „graziös“, „beschwingt“, „fließend“, „lieblich“, „spielend“ oder „weich“ und in der gegenüberliegenden Spalte Gegenbegriffe wie „plump“, „schwerfällig“, „stockend“, „roh“, „ruppig“ oder „starr“.
Wir schlagen die imaginäre Seite um und entdecken noch eine andere Reihe von Einträgen: „leichtfüßig“, „natürlich“, „behende“, „zartsinnig“, „transparent“, „heiter“ und auf der Gegenseite: „gravitätisch“, „gespreizt“, „schwerblütig“, „trübsinnig“, „obskur“, „ernst“.
Wie in der physischen Realität die Schwerkraft auf die Körper, so wirkt in der humanen Realität der Ernst des Lebens oder die Angst und Gefahr des Todes auf die Seelen, auf Wollen und Handeln, auf Sprechen und Träumen.
Wir finden ästhetische Gestaltungen der Anmut und Heiterkeit in Garten und Park, Oper und Drama, Poesie und Musik, Gespräch und Gebärde in den kostbaren Hochblüten aristokratisch-sublimer Kulturen, in denen es gleichsam der Muse gelingt, den Menschen einen mit farbigen Träumen bestickten Vorhang vor den Abgrund des Todes zu weben. Der Vorhang verbirgt das Dasein der Unterwelt nicht ganz: Von dorther zieht eine kühle Luft und versetzt den schwerelosen Chiffon in ein geisterhaftes Wehen.
Es ist bezeichnend für das Empfinden des alten Goethe, den wir als eine der letzten Verkörperungen dieser Kultur ansehen können, dass er das ästhetische Phänomen der Anmut nicht nur in den leichten Schritten der Tänzerin gewahrt, die vom Kelch der Seerose gewiegt scheint, sondern sie in menschliche Lebensbezüge bettet, denen wie durch Zauberhand die Schwere und der Ernst von den Bewegungen und Absichten genommen scheinen. Ihre Art, zu geben und zu nehmen, zu empfangen und zu danken, ist leicht ohne Leichtsinn, durchsichtig ohne Entblößung, natürlich ohne Zwang:
Die Grazien
AGLAIA
Anmut bringen wir ins Leben;
Leget Anmut in das Geben.
HEGEMONE
Leget Anmut ins Empfangen,
Lieblich ist’s, den Wunsch erlangen.
EUPHROSYNE
Und in stiller Tage Schranken
Höchst anmutig sei das Danken.
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