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Kleine Poetik in Bildern V

15.06.2015

Wenn uns unter hohen, finsteren Gewölben feuchter Modergeruch entgegenschlägt und wir in unbestimmter Ferne das Flackern von Kerzen gewahren, sind wir schon zu dem heiligen Schrecken gestimmt, der uns beim Anblick tausender Schädel und nackter Knochen anfasst, die in Nischen und Höhlungen der Mauern und Gänge der römischen Katakomben aufgebahrt und geschichtet sind. Die urtümliche Scheu vor den Toten empfinden wir hier geläutert zu einer Ehrfurcht und Pietät, die den Reliquien Orte friedvoller Stille, heiliger Dämmerung und dunkler Erwartung zugemessen hat. Wir staunen, wie sich der Totenkult einfacher Methoden der Reihung und Schichtung der menschlichen Überreste bedient, mit denen die Verstorbenen ihr Anrecht auf individuelle Trauer als wahre Glieder der versammelten Totengemeinschaft dahinzugeben scheinen.

Wie anders besänftigend und befriedend uns die Luft in den heimischen Totengärten, Seelenhainen und Waldfriedhöfen anweht, wo die Gräber aufgebahrt sind in das große Leben der Bäume, deren Samen sie bestreuen und deren Blätter sie zudecken! Hier gedenken die Trauernden vor dem Stein mit der Inschrift ihrer Toten, während in den Wipfeln Vögel ihre Nester bauen oder die Eichhörnchen ungescheut über die Stämme huschen, die Flammen der Kerzen im schützenden Glas den Regentropfen widerstehen oder der Witwer den Saum des Schnees zärtlich vom Grabstein fegt.

Der Trauernde bringt am Grab ein Blumenopfer dar und er weiß die Vase an eine gute Stelle vor dem Grabstein zu platzieren. Er zündet einen Stundenbrenner an und verrichtet stumm sein Gebet oder neigt sich dem flüsternden Hauch der Erinnerung. Wie ist er seltsam beglückt, in der Abendstunde die Lichter über all den Gräbern geschwisterlich winken zu sehen!

Wir bemerken, wie die Haltung der Pietät sich eigene Wege ästhetischer Gestaltung bahnt: die starke Mauer aus Bruchstein oder Basalt, die den Friedhof einhegt, die lichte Pflanzung von Eiben, Eschen, Birken, Ahorn, Linde, Eiche und Buche, die bergenden und bahnenden Büsche von Buchs, Seidelbast und Holunder, die Einfriedung der Grabstätte mit kostbaren Steinen, die Aufrichtung des Denksteins mit Namen und Spruch, die Krönung der Stätte mit Figuren oder Emblemen, die den Lebenssinn des Entschlafenen bezeugen, bis hin zur Anlage der Pfade und Wege, die im Hauptgang münden, der zur Grabkapelle geleitet, wo die Zeremonie der Totenfeier den würdigen Abschied unter Gebet und Gesang rituell gestaltet.

Wir tragen anlässlich dieser Zeugnisse menschlicher Gesinnung und Gesittung angesichts des Todes in unser imaginäres Wörterbuch der Ästhetik Adjektive und Adverbien ein wie „pietätvoll“, „dezent“, „ruhig“, „feierlich“, „weihevoll“, „würdig“, „reinlich“ und ihre Gegenteile und Widerparte „schamlos“, „aufdringlich“, „grell“, „vulgär“, „ungeschlacht“, „rüde“ und „schmutzig“.

Wir erkennen noch deutlicher, wie es um die Grammatik und Semantik ihrer Verwendung bestellt ist, wenn wir von ästhetischen Werten und Zeichen der Verletzung der Pietät unangenehm berührt werden: So ist uns die Schändung von Gräbern ein Greuel oder ihre Überladung mit buntem Plastikkitsch eine Beleidigung unseres ästhetischen Sinns.

Wir sehen klarer, dass es sich bei der ästhetischen Grammatik wie bei allen Grammatiken um Vorschriften für Handlungen handelt, worunter auch Sprechhandlungen fallen. Vorschriften oder Anweisungen sind Typen der Deontik, das heißt entweder Gebote oder Verbote. Gebote fordern uns auf, das Konsistente oder Angemessene oder Verträgliche zu verbinden, Verbote, das Inkonsistente oder Unangemessene oder Unverträgliche zu meiden. Dabei qualifizieren wir als konsistent, angemessen und verträglich die Zuordnung und Verknüpfung bestimmter Werte, die wir aufgrund von definierten Typologien in unseren Vokabularien und Wörterbüchern zur Geltung bringen. So gebietet uns der logische oder grammatische Wert des Eigennamens, nur bestimmte Typen von Wörtern oder Wortarten, zum Beispiel Substantive, aus unserem Wortschatz auszuwählen, und ihnen nur bestimmte andere Typen von Wörtern, zum Beispiel Adjektive, zuzuordnen. Wenn wir aufgrund dieser Vorschrift „Schnee“ wählen, wissen wir, dass wir Wörter wie „schwarz“ oder „weiß“ mit diesem Wort verknüpfen können, wobei wir mit einer Aussage wie „Schnee ist weiß“ richtig liegen, während wir mit der Aussage „Schnee ist schwarz“ falsch liegen, es sei denn wir wollen bewusst das Unwahre sagen, um einen ironischen oder poetischen Effekt zu erzielen.

Das strengste Regularium und die am präzisesten formulierbare Grammatik des Handelns bildet demnach sicherlich die Logik, die uns gebietet, aus welchen wahren Prämissen wir gemäß welchem korrekten Folgerungsprocedere welche wahren Schlüsse zu folgern haben, und uns verbietet, das Inkonsistente zu verknüpfen und Widersprüchliches zu behaupten. Die Logik unterrichtet uns allererst über den Begriff der Konsistenz, nämlich nur dann zu sagen, etwas sei so und so, wenn etwas so und so ist, und über den Begriff der Inkonsistenz, nämlich zu sagen, dass etwas so und so ist, und gleichzeitig zu sagen, es sei nicht so und so. Wobei wir nicht wissen müssen, was es heißt, dass etwas so und so ist. Denn wir haben richtig gehandelt, wenn wir sagen, Schnee sei weiß, wenn Schnee weiß ist, auch wenn wir nicht wissen, was Schnee ist. Wir müssen dies nicht wissen, sondern für die allgemeine Formel „a ist F“ nur den richtigen Begriffstyp jeweils für a und für F aus unserem Wörterbuch zuordnen, nämlich einen Eigennamen für a und einen Funktionsbegriff wie ein Adjektiv für F. Sodann können wir die Korrektheit unserer Zuordnung und Begriffsverknüpfung unterstellen, auch wenn wir die Bedeutung der einzelnen Begriffe nicht kennen.

Das am wenigsten strenge Regularium und die daher nicht mit letzter Präzision formulierbare oder vollständig formalisierbare Grammatik des Handelns bildet sicherlich die Ästhetik, denn ihre Auswahlverfahren gehorchen nicht dem Prinzip der Konsistenz, sondern dem Prinzip der Angemessenheit.

Dennoch vermögen wir auch auf diesem Felde gewisse Gebote und Verbote oder gewisse Einschluss- und Ausschlussregeln einer Deontik ästhetischer Handlungen (worunter auch Sprechhandlungen fallen) zu formulieren. Wir blättern in unserem imaginären Wörterbuch der ästhetischen Begriffe und finden auch hier gewisse Typologien anwendbar, die uns die Zuordnung und Verknüpfung bestimmter Begriffe wenn nicht gebieten, so doch wünschenswert erscheinen lassen, und wenn nicht verbieten, so doch mit Sanktionen und Hemmungen beschweren. Wir sollten demgemäß Begriffe wie „pietätvoll“, „dezent“, „ruhig“, „feierlich“, „weihevoll“, „würdig“, „reinlich“, die wir zum Ausdruck der Pietät für angemessen halten, nicht mit Begriffen wie „schamlos“, „aufdringlich“, „grell“, „vulgär“, „ungeschlacht“, „rüde“ und „schmutzig“ verknüpfen, die ihre Gegenteile und Widerparte ausdrücken.

Wir sollten uns gehemmt fühlen und Sanktionen wie das ironische Lächeln oder den Spott der Verwandten und anderer Trauergäste fürchten, wenn wir die Würde der Totenfeier durch die Verwendung vulgärer Musikeinlagen stören, auch wenn wir wissen, dass sie dem schlechten Geschmack des Verstorbenen entgegenkämen.

Der Dichter, dem es obliegt oder der sich berufen fühlt, eine Elegie oder ein Trauergedicht auf die verstorbene Frau oder Mutter oder Tante zu schreiben, das womöglich in der Trauerfeier Gehör findet, sollte sich hüten, sein Werk, hingerissen vom Strom der Assoziationen oder aufgestachelt von unbeherrschten Affekten, mit satirischen und polemischen Einlagen zu garnieren, so genial und kunstgerecht sie immer daherkommen mögen. Er müsste den Spott oder die Indignation seiner Verwandten und anderer Trauergäste gewärtigen und fürchten. Der Komponist, dem es obliegt oder der sich berufen fühlt, einen Trauermarsch für den Gang der Trauergäste hinter dem Sarg des verstorbenen Vaters oder Onkels zu verfassen, sollte sich hüten, sein Werk mit unangemessenen musikalischen Einfällen nach der Art eines Scherzos zu garnieren oder durch Verwendung unangemessener Instrumente wie eines Saxophons oder von Kastagnetten zu beschwingen, so genial und kunstgerecht sie immer eingesetzt wären und auch wenn er rechtens glaubt, damit den Musikgeschmack des Verstorbenen zu treffen.

Die logischen Begriffe haben per definitionem bestimmte Grenzen, und daher können wir ihre Relationen genau bemessen, also angeben, ob der Begriff Vieleck den Begriff Dreieck und der Begriff Dreieck den Begriff rechtwinkliges Dreieck umfasst. Ihre Identität geht über viele Kontexte hinweg nicht verloren. Wir müssen ein Dreieck schon weit in den nichteuklidischen Raum verschieben, damit es seine wesentliche gute alte Eigenschaft, die Winkelsumme von 180 Grad, und damit seine alte Identität verliert.

Anders die ästhetischen Begriffe, die nicht Kriterien der genauen Abgrenzung, Überlagerung oder Identität verwirklichen müssen, sondern viele Grade der Ähnlichkeit und der Verwandtschaft unter sich dulden. Doch muss es am Ende irgendein gemeinsames Merkmal geben, das die ästhetischen Phänomene einer Gruppe gemeinsam haben müssen, damit sie überhaupt noch dieser Gruppe oder einem bestimmten Typus ästhetischer Phänomene zugeordnet werden können. Wenn der Trauergast zwar keinen schwarzen Anzug und nicht einmal eine Trauerbinde am Arm trägt, signalisiert er seine Zugehörigkeit zur Trauergemeinde vielleicht immerhin durch das Tragen einer schwarzen Krawatte. Verlässt der Mann den Friedhof, mag der Kellner ihn an der Bar anhand dieses Accessoires nicht mehr als Mann, der Trauer trägt, wahrnehmen.

Es war alte Sitte, ein Trauerjahr nach dem Tod eines nahe stehenden Menschen durch das Tragen von dunkler oder zumindest gedeckter Kleidung oder durch das Tragen einer schwarzen Binde oder eines Trauerflors anzuzeigen. Kleine Riten dieser Art schonten und bargen den Trauernden in der Würde seiner Haltung und schlossen sein Leben sichtlich von den heiteren und unbefangenen Lebensäußerungen der Umgebung ab. Das ästhetische Dekor verschmolz mit der pragmatischen Funktion der Trauerbewältigung. Frauen trugen Schwarz auch zum Zeichen, keine Bereitschaft für intime Beziehungen zu bezeigen. Das ästhetische Dekor richtete gleichsam ein Banner auf vor den Lustbarkeiten des Daseins mit seinen Festen und Frivolitäten. Selbst Speise und Trank des Trauernden nahmen asketische oder frugale Züge an. Wir bemerken, wie die Ästhetik der Pietät die Form und den Gehalt ganzer Lebenskreise mehr oder weniger intensiv handlungsleitend und affektbindend durchtränken und durchsäuern kann.

Genau den Typus des ästhetisch Angemessenen oder Geziemenden, zum Beispiel des für den Ausdruck der Pietät ästhetisch Angemessenen und Geziemenden, bestimmen oder definieren zu wollen, ist gewiss kein leichtes Unterfangen. Wir finden den Typus des Angemessenen und Geziemenden in den Begriffen des griechischen prepon und des lateinischen decorum, die sinnigerweise zwischen den pragmatisch-ethischen und ästhetischen Feldern ihrer Anwendung changieren. Cicero macht auf die Schwierigkeit ihrer genaueren Bestimmung, aber auch auf ihr ästhetisches und ethisches Gewicht in der menschlichen Kultur aufmerksam:

Ut enim in vita sic in oratione nihil est difficilius quam quid deceat videre. Prepon appellant hoc Graeci, nos dicamus sane decorum; de quo praeclare et multa praecipiuntur et res est cognitione dignissima; huius ignoratione non modo in vita sed saepissime et in poematis et in oratione peccatur. (Nichts ist schwieriger, als zu sehen, was „angemessen“ bedeutet. Prepon heißt es bei den Griechen, was wir sinnvoll mit „decorum“ wiedergeben. Viele Regeln und Anweisungen liegen hierfür auf dem Tisch, und die Sache ist mehr als bedenkenswert. Verkennt man das decorum, muss man es nicht nur im Leben bereuen, sondern es unterlaufen einem auch in der Dichtung und der Redekunst jede Menge Schnitzer.) Cicero, Orator ad Brutum sive de optimo genere dicendi, XXI, 69).

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