Kleine Poetik in Bildern IV
Es wäre eine Fleißaufgabe, ein Vokabularium oder ein Wörterbuch des Redens und Schreibens über Kunst nach Kunstgattungen und Medien der Kunstvermittlung zusammenzustellen, welches das Material für die Analyse der Aussagen über diesen Gegenstand liefern würde. Im Reden über Kunst fallen Stich- und Schlagworte wie „eindrucksvoll“ oder „spannungslos“, „anmutig“ oder „plump“, „anspielungsreich“ oder „banal“, „einfallsreich“ oder „stereotyp“, „schlicht“ oder komplex“, „bündig“ oder „überladen“, „vielschichtig“ oder „eintönig“. Fast immer handelt es sich bei solchen Qualifizierungen um die Charakteristik des ästhetischen Eindrucks, wie ein Kunstgegenstand auf einen typischen oder idealen Betrachter und Rezipienten ästhetisch wirkt.
Wir können das Spezifische der ästhetischen Wirkung durch die Analyse der Verwendung des ästhetischen Vokabulars und seine Abgrenzung von Vokabularien ermitteln, die dem Ausdruck und der Qualifizierung pragmatischer oder moralischer Gegenstände oder Sachverhalte dienen. Zu diesen gehören Vokabeln wie „zweckdienlich“ oder „zweckwidrig“, „nützlich“ oder „schädlich“, „ökonomisch“ oder „überflüssig“ in pragmatischen Kontexten sowie „hilfsbereit“ oder „tückisch“, „kooperativ“ oder „gemeingefährlich“, „aufopferungsvoll“ oder „eigensüchtig“ in moralischen Kontexten, wobei die Handlungsfelder des alltäglichen Wirkens und Umgangs im pragmatischen und moralischen Sinne von Natur aus ineinanderfließen.
Der Dandy will mit seinem neuen Sportcoupé auf die Damenwelt Eindruck schinden. Das Auto erfüllt dabei nicht nur die üblichen Zwecke des Transports von Menschen und Gütern, sondern erweitert diesen pragmatischen Handlungsrahmen mittels eines ausgeklügelten Designs, beispielweise durch die Technik aerodynamischer Materialverarbeitung oder metallische Farbwerte, deren ästhetische Wirkung in der Verwendung von Vokabeln wie „schnittig“, „elegant“, „dynamisch“, „luxuriös“ und „expressiv“ zum Ausdruck kommt.
Wir bemerken, dass jede Art von Design, ob bei Autos, Möbeln, Tapeten, Parfumflaschen, Tafelservice, Modeartikeln oder Blumenvasen, insofern und in dem Maße zur Kunst gehört, als sich seine ästhetische Wirkung unter Verwendung des ästhetischen Vokabulars beschreiben lässt.
Wenn unser Dandy allerdings in einem fleckigen Overall am Steuer sitzt und mit seinem Aufzug dem ästhetischen Anspruch seines eleganten Wagens Hohn spricht, trübt dies unseren Eindruck, weil es unseren Geschmack an ästhetischer Harmonie und Ausgewogenheit verletzt. Es sei denn, wir verziehen ironisch den Mund, wenn wir erfahren, dass der disharmonische ästhetische Eindruck ein Ergebnis der Tatsache ist, dass ein Automechaniker der unfeinen Sorte seinen Spleen auslebt, nachdem er das große Los gezogen hat.
Wir bemerken, dass es sich bei ästhetischen Eindrücken um Gesamteindrücke handelt, bei denen jeder Teil das Niveau, den Anspruch und die Funktion der anderen Teile widerspiegeln sollte. Deshalb müssen wir unser ästhetisches Wörterbuch um eine Semantik oder Grammatik, das heißt um bestimmte Regeln der sinnvollen Zusammenstellung und Komposition der einzelnen ästhetischen Werte, ergänzen. Dabei gehorcht die Anwendung dieser Regeln natürlich nicht Regeln zweiter Stufe (so verlören wir uns in einen dummen unendlichen Regress), sondern der ästhetischen Urteilskraft oder der ästhetischen Intuition, die von Faktoren wie Erfahrung, Gewohnheit, Erwartung, Erziehung und Bildung aufgebaut wird, Faktoren, deren Gewicht und Leistung wir wie bei Anwendungsregeln der historischen Grammatiken natürlicher Sprachen zusammenwirken sehen, auch wenn ihre einzelnen Konturen bisweilen zu verfließen scheinen. Für immer bleibt uns hier ein gewisses Je ne sais quoi des Bon sens unauflösbar.
Die Zuordnungsregeln der ästhetischen Grammatik gehorchen gewissen nicht streng definierbaren Typologien des Einschließens und Ausschließens, des Umfassens und Umfasstwerdens. Das Schöne schließt das Erhabene aus, die Groteske die Idylle, die Hymne die Satire und die Elegie die Invektive. Aber die hohe See des Homer kann die kleinen Inseln versponnener Vergleiche oder behaglicher Gruselgeschichten tragen, und der Faust II ist eine metaphysische Oper mit engelreinen Arien und dem Murren und Knurren von Unterweltsgesindel. Manchmal geben die Regeln nach wie zart gespannte Fäden der Spinne, manchmal bringen sie prägnante Formen hervor wie die aus Sand, die Kinder mit ihren Hohlkörpern backen – bisweilen kommen aber auch nur untote Förmchen ans Licht.
Die Anwendung des ästhetischen Vokabulars und seiner Verwendungsregeln gilt nicht nur für einzelne Gegenstände wie Kunstwerke oder Produktdesigns, sondern auch für rituell gestaltete Handlungsabläufe wie Zeremonien, Liturgien, Opern oder andere theatralische Darbietungen.
Wenn wir die königliche Hochzeitszeremonie am Fernseher mit Wohlgefallen verfolgen, weil uns das Blumendekor des Altars, der feierliche Aufzug der adligen Gäste in kostbaren Kleidern, der rituelle Empfang und der sanft lächelnd gesprochene Treueeid des Hochzeitspaares sowie das würdige Florilegium der von ausgewählten Gästen reihum verlesenen biblischen Stellen aus dem Evangelium, den Briefen des Apostels Paulus (1 Kor 13 ff) und des Hohelieds einen insgesamt weihevollen, festlichen und dem Anlass gebührenden ästhetischen Eindruck machen, sind wir umso mehr vor den Kopf gestoßen und widerrufen unsere ästhetische Bewertung, wenn zum krönenden Abschluss ein geschlechtlich unspezifischer Popsänger auf der Stelle hüpfend einen schmalzigen Song ins Mikrophon dudelt und eine vulgär verpoppte Version des Lieds an die Freude, interpretiert von einem durch eine wildgewordene Rhythmusgruppe aufgeheizten Orchester, das Ohr beleidigt. Wir konstatieren den Niedergang des Adels anhand der Dekadenz seines guten Geschmacks und seiner höfisch vererbten feinen Sitten, die ja in erster Linie hochgezüchtete ästhetische Gepflogenheiten und Traditionen darstellten oder, wie wir jetzt wissen, die Anwendung hochselektiver grammatischer Regeln auf ein hochselektives ästhetisches Vokabular.
Gewiss sind die Codes der ästhetischen Werte und Bewertungen historisch gewachsen, aber das heißt nicht, dass ihre Regime Willkürherrschaften und ihre Verwendung blind und einzig den Launen der Anwender unterworfen wären, genauso wenig wie natürliche Sprachen, die ebenfalls historisch gewachsen sind, eine blinde und willkürliche Verwendung und Interpretation ihrer Regeln zulassen.
Der Barockgarten hat seine eigene Grammatik der Verwendung ästhetischer Werte durch geometrische Ordnungen, skulpturale Noten, farbliche Flächen und herrschaftliche Bahnungen des Wassers. Anders die Grammatik des englischen oder romantischen Gartens, der den spielerischen Gelüsten unserer Einbildungskraft und unserer Sehnsucht nach geheimnisvollen Begegnungen durch die Verwendung überraschender Blickachsen und einladend winkender Figuren, den Bau melancholischer Ruinen und zierlicher Tempel eines wehmütigen Seelenkults ein intimes Verweilen und Aufblühen gestattet.
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