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Kleine Poetik in Bildern II

12.06.2015

Wir können die griechischen Säulenordnungen nicht willkürlich mischen und ionische neben dorische Säulen stellen; das wäre barbarisch. Schon Abweichungen des Säulenabstands oder Säulenumfangs, gar Fehlstellen und Höhlungen in den Kapitellen verletzen unser Auge. – Wir können auch die abendländischen Tonarten nicht willkürlich mischen und neben Akkorden des wohltemperierten Systems unvermittelt Kirchentonarten einschmuggeln. Unser Ohr wäre das Gegenteil von geschmeichelt. – Wir wollen den Gregorianischen Gesang nicht durch Verwendung von weltlichen Musikinstrumenten seiner Würde berauben; er lebt ganz aus seiner reinen, spirituellen Vokalität. – In all diesen ästhetischen Gegebenheiten haben wir räumliche und zeitliche Reihen von kompositorisch wohlbemessenen Phänomenen, die unsere visuelle und akustische Wahrnehmung einladen, anziehen, bezaubern sollen, sich ihren mehr oder weniger verborgenen Ordnungen anzubequemen und unseren Geist über diese wohltätigen Insinuationen der Wahrnehmung in einen Zustand in sich ruhender, sich selbst genießender Freude und Harmonie zu versetzen.

Betrachten wir die peniblen, unseren Alltagsverstand verstörenden Speise- und Ritualvorschriften der Bücher Mose einmal nicht als uns nicht tangierende religiöse Gesetzlichkeiten, sondern als ästhetische Ordnungen des Lebens: So erfahren wir, wie auf der Basis von Differenzordnungen des Reinen und Unreinen, also mittels Zeichen zweiter Stufe, die Gemeinschaft die Bedingungen der Wahrnehmung strukturiert und stilisiert. Milchige Speisen getrennt von blutigen zuzubereiten, die Speisen und Getränke in einer bestimmten Reihenfolge zu sich zu nehmen und den Verzehr mit einer bestimmten Reihe von Erzählungen über das Schicksal der Vorfahren zu verknüpfen, die Erzählungen mit bestimmten Gebeten und Anrufungen zu vervollständigen, all dies befriedigt unseren ästhetischen Sinn für die wohlgeordnete Gestaltung des Lebens.

Mit dem Setzen der ersten Linie auf dem weißen Blatt ist eine Entscheidung gefallen, eine Grenze definiert, ein Diesseits und ein Jenseits, ein Hinüber und ein Herüber ins Spiel gebracht. Das neutrale Blatt ist gleichsam stigmatisiert und strahlt unter einem tiefen Erwartungshorizont unsichtbare Spannungs- und Verbindungslinien aus, denen wir uns vertrauensvoll anheimgeben oder gegen die wir uns widerspenstig stemmen können, um nach entlegeneren, unvorhergesehenen Lösungen zu suchen. – Wenn du „Weiß“ sagst, werde ich nicht wieder „Weiß“ sagen, sondern „Gelb“, wenn du „konkav“ sagst, werde ich „konvex“ sagen oder „gerade“. So könnte uns der schöpferische Prozess in ein Gespräch hineinziehen, das erst endet, wenn das Blatt keine freien Stellen mehr hat. – Wenn ich „gerade“ sage, schließe ich alles, was nicht gerade ist, aus. Das, was ich einschließe, schließt den Rest oder das Negativbild oder den Schatten, aus. – Du bist zugleich die Sonne, die alle Linien und Figuren ins Sichtbare hebt, und der Schatten, den sie werfen und der stetig als Dickicht der unbetretenen und unbetretbaren Räume wächst. Denn jedes Gesicht hat sein Gegen-Gesicht, und der Januskopf blickt in das unsichtbare Reich, das seinem Gegenüber für immer verborgen bleibt. Jede Tür, durch die du gehst und die sich dir zu neuen Horizonten öffnet, verschließt ganze Welten des Ungesagten und des ungelebten Lebens hinter dir. Wie viele Möglichkeiten, die du verwirklichst, so viele Möglichkeiten, die du vertust. Mit jedem Wort, das du sagst, hebt sich hinter dir um ein kleines Stück das Gebirge des Ungesagten. – Durch die in Klang und Echo der Metapher mithörbaren Obertöne oder mittels der um die Figur aufgeladenen und seltsam gemischten Luft gelingt es uns bisweilen, diese weltabgewandte Seite der Dinge wie Schlehmils Schatten zu erhaschen.

Wir könnten das Innere des Körpers durch beständiges Auseinanderfalten in die Fläche aufheben. Wir verlieren so zwar die Höhlung seelischer Resonanzen, gewinnen aber Klarheit unter einem tiefen, grenzenlosen Horizont.

Säule und Plastik sind eine Antwort auf das Problem der Schwerkraft. Ihr Ausdruck des Gedrungenen oder Schwebenden, des Drückenden oder Erhebenden, des Schweren oder Schönen ist eine Ableitung aus der Form dieser Antwort. Die frei stehende Figur löst das Problem der Schwerkraft auf individuelle Wiese. Sie definiert mittels der eigenen Konturen sowohl den Raum, den sie einschließt, als auch den Raum, der sie einschließt. Sie schließt dabei den Raum, der sie einschließt, von sich aus. Es ist diese Spannung des Einschließenden und Ausschließenden, des Umfassenden und des Umfassten, der uns anschaulich erlebbar wird und unseren Sinn für feine Balancen befriedigt.

Das Reich der Kunst ist die Utopie der Wahrnehmung.

Von der monotonen, spannungsfreien Linie sind wir bald gelangweilt; das unentwirrbare Knäuel eines aufgeschlitzten Linienbündels verstört uns und stößt uns ab. Sind wir ästhetisch deshalb in der Mitte zwischen Langeweile und Lärm, Gähnen und Quasseln, Stumpfsinn und Hysterie zu Hause?

Die stumme Kreatur ist in sich vollkommen. Die Schale der Muschel, von mächtiger Formkraft und innigstem Schmelz, schützt und birgt die kostbar-weiche Substanz des Lebens. Die Schale öffnet und schließt sich im Rhythmus des tierischen Daseins, sie gibt den schmalen Horizont der Umgebung frei (der für sie grenzenlos ist) und birgt sich wieder in das Dunkel zwischen dämmerndem Wachsein und wachsamem Schlaf (von dem wir keinen Begriff haben). Aber wir empfinden unwillkürlich den sinnreichen Zusammenhang von Härte und Weichheit, Hülle und Gehalt, Dauer und Augenblick. Dieser Sinnzusammenhang, der dem Leben überhaupt entspringt, beglückt und erleuchtet uns auch in Gebilden und Fiktionen, die ihn sich kunstvoll transponiert und abstrahiert anverwandelt haben.

Kunst, als das Reich der Fiktion, des Unwirklichen, des Imaginären, bevölkert von Farben und Figuren, von Klängen und Harmonien, an denen sich das Bewusstsein selbst genießt, befreit uns ein Weilchen und ein wenig von den Fesseln oder Einflüsterungen der Triebe, die wir überlisten, indem wir ihre Objekte zu Zeichen zweiten Grades transponieren, erhöhen oder sublimieren und ihre kausale Wirksamkeit einklammern.

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