Kleine philosophische Lektionen XVI
Über den recht verstandenen Sinn der Eigenliebe
Wer dich freundlich anblickt, dem kommst du wahrscheinlich eher mit einem freundlichen Lächeln entgegen als dass du dich mit finsterem Ernst von ihm entfernst oder fernhältst. Und wer dich scheel anschaut, dem begegnest du eher mit einem gesunden Misstrauen als mit heiterer Gelassenheit.
Und dennoch kann es sein, dass sich hinter freundlichen Mienen ungute, nicht wohlwollende oder gar feindliche Absichten verstecken. So halten uns Betrüger, Beutelschneider, Vertreter von Waren und Weltanschauungen oder Verführer zu schlechten Gedanken und bösen Taten gern die Maske eines freundlichen Lächelns und einer gewinnend-heiteren Miene entgegen.
Ob wir anderen freundlich, indifferent oder feindlich entgegentreten, hängt von unseren Neigungen und Interessen ab. Unser höchstes Interesse ist durch unser Leben und unser persönliches Dasein gesetzt und definiert. Was unser Leben und unsere Person einzuschränken, zu beschädigen oder zu zerstören droht, dem begegnen wir legitimerweise mit Misstrauen und Feindschaft und sinnen vernünftigerweise nach Mitteln, Personen, von denen uns die genannten Gefahren drohen, aus unserem Lebensbereich fernzuhalten, unschädlich zu machen oder aus unserem Lebensbereich zu entfernen. Personen, die sich als falsche Freunde in unser Leben eingeschlichen haben, um hinter unserem Rücken auf unsere Kosten ihren Vorteil zu suchen, sollen wir vernünftigerweise zu entlarven, unschädlich oder beim Vorliegen widerrechtlicher Vergehen dingfest zu machen suchen. Umgekehrt heißen wir gern Personen in unserem Lebensbereich willkommen, die unser Leben erheitern, fördern und bereichern.
Wir wollen Lebenskunst den vernunftgeprägten freundlichen Umgang mit sich selbst, mit dem eigenen Dasein und der eigenen Person nennen, abgesehen davon, inwiefern und in welchem Ausmaße diese Kunst gelernt werden kann oder auf angeborenen Dispositionen beruht. Denn das Vernunftinteresse und das Interesse an der Erhaltung und Förderung des eigenen Lebens scheinen in dem Haupt- und Nervenpunkt zu kongruieren, in dem sich ein fehlendes Interesse am eigenen Leben negativ auf alle anderen Lebensbereiche auswirkt, in denen vernunftgeprägte Lebensgestaltung sich konstruktiv und positiv zur Geltung bringt. Insofern ist Idiophilie oder recht verstandene Eigen- und Selbstliebe in diesem Sinne ein vernünftig begründbares moralisches Gebot. Schließlich kann ich für die Personen, an denen mir etwas liegt, nur etwas tun, wenn ich schon ausreichend für mich selbst getan habe.
Ob wir, nebenbei bemerkt, befugt sind, die aus dem Nahbereich der persönlichen Erfahrung und Kommunikation erwachsenen Begriffe der Eigenliebe und ihrer Pathologien auf die Identität von Gruppen, Ethnien oder ganzen Nationen zu übertragen, scheint unklar. Nur wenn der Begriff der Eigenliebe das recht verstandene Selbstverhältnis einer Gruppe adäquat erfasste, wären wir berechtigt, ihr kollektives Misstrauen gegen Personen oder Mitglieder fremder Gruppen, die ihrer Identität Schaden zufügen könnten oder zuzufügen beabsichtigen, als legitime Form der Xenophobie oder Misoxenie zu benennen, wie umgekehrt, ihre Neigung und ihre empathische Haltung gegen Personen und Mitglieder von Gruppen, die ihr Eigenleben zu fördern scheinen oder zu bereichern beabsichtigen, als legitime Form der Xenophilie. Wenn diese Übertragung allerdings – was uns nicht unwahrscheinlich dünkt – nicht mehr als metaphorische Geltung beanspruchen sollte, verfügen weder diejenigen über die adäquaten Begriffe, denen ihr Misstrauen oder ihr Ressentiment Mitgliedern fremder Gruppen gegenüber als Xenophobie vorgeworfen zu werden pflegt, noch diejenigen, die wie es heißt den Mitgliedern fremder Gruppen eine bedenkenlose oder bedingungslose Willkommenshaltung gegenüber als legitime Form der Xenophilie an den Tag legen.
Der Eigenliebe in vernünftiger Weise leben heißt nicht, das Leben anderer Menschen und seine Förderung aus dem Auge zu verlieren. Im Gegenteil. Wer als Pädagoge und Lehrer das Leben der ihm anbefohlenen Schüler und Studenten fördert, führt ein besseres Leben als derjenige, der sich auf Kosten der Beschämung oder des Schurigelns seiner Schutzbefohlenen in ein selbstgerechtes Licht rückt und zur Geltung bringt. Jeder erfolgreich behandelte, gerettete oder zumindest vorläufig verschonte Patient bereichert und beglückt das Leben des Mediziners mehr als die Patienten, die er trotz all seiner Bemühungen verloren geben muss.
Wir können von seelischer Krankheit, von Neurose und Psychose, unter dem Aspekt der recht verstandenen Eigenliebe insofern handeln, als uns die Psychopathologie der Eigenliebe Merkmale an die Hand gibt, anhand deren wir klinische Erfahrungen mit seelisch Kranken klarer machen können. Wir vermessen den Verlust an Lebenszeit und produktiver Leistung an den Auswirkungen, die pathologische Formen der Eigenliebe auf die Lebensführung des Patienten haben. Der Zwanghafte, der tausend Stunden darauf verschwendet, durch das Einhalten minutiöser Rituale das Hereinbrechen seiner Urängste hintanzuhalten, verliert tausend Stunden für die produktive und genussvolle Gestaltung seines Lebens. Der Wahnhafte, der in seiner Umgebung alle Personen als Verschwörer wider sein Dasein identifiziert, verliert all diese Personen für den freundschaftlichen Umgang oder den kooperativen Aufbau seines Lebens.
Natürlich sind wir uns bewusst, dass wir kein präzises, systematisches Wissen darüber zur Verfügung haben, was es heißt, ein gutes oder gelingendes Leben oder ein Leben zu führen, das die Zeichen der Freundschaft mit sich selbst gleichsam auf der Stirne trägt. Aber des Gegenteils sind wir uns, wenn auch wieder mehr intuitiv als systematisch begründet, eher bewusst. Wir kannten und kennen ja jene, die aus vorgeblicher Schuld oder angemaßtem Schuldgefühl sich dem Leben verweigerten und in die dunkle Zelle einer unproduktiven Buße verschlossen. Jene, die aus Hass vor der Kontingenz der Herkunft ihren Eltern, Lehrern und alten Weggefährten abschworen, um im Niemandsmeer einer exotischen Scheinidentität zu versinken. Und jene auch, die im Ressentiment gegen die kleinen Lebenssorgen der kleinen Leute von Genuss zu Genuss jagten und dabei den Atem für das Ja zum Augenblick einbüßten.
Wir sind geneigt zu sagen, dass sich selber Freund zu werden ein hohes Ziel der Lebenskunst überhaupt und der Therapien im Umkreis der erkrankten Eigenliebe im Besonderen darstellt.
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