Kleine philosophische Lektionen XI
Ursache, Beweggrund, kausale und intentionale Erklärung, Wechsel des kategorialen Bezugsrahmens
Was steckt dahinter? Das ist eine gute Frage, und das ist keine ungefährliche Frage.
Wenn du weißt, dass alle Säugetiere lebend gebären und erfahren hast, dass Wale lebend gebären, schließt du daraus richtig, dass Wale Säugetiere sind. Wir können diese einfachen logischen Zuordnungen schematisch mit Mengendiagrammen (wie den Venn-Diagrammen) darstellen. Wenn du bisher dachtest, Wale seien Fische, die bekanntlich nicht lebend gebären, sondern ihre Eier ablaichen, ist diese Schlussfolgerung eine Bereicherung. Aber diese Schlussfolgerung ist keine Bereicherung des Wissens, sondern eine Klärung des schon Gewussten, und zu diesem gehörte auch die neue Erkenntnis, dass Wale lebend gebären.
Es ist ein Kennzeichen des von Aristoteles begründeten und formalisierten Syllogismus, denn um dessen primäre Form handelt es sich hier, dass wir bei jedem gültigen Argument den Gegenstandsbereich, über den wir Aussagen machen, eindeutig festlegen. In unserem Falle handelt es sich um den Gegenstandsbereich der Lebewesen. Wenn wir zur tiefer schürfenden Erklärung einen Wechsel des kategorialen Bereichs benötigen, um absehen zu können, was dahintersteckt, müssen wir uns anderen Formen der stichhaltigen Argumentation als dem Syllogismus zuwenden.
Was also steckt dahinter? So kannst du gut fragen, was hinter einer Handlung steckt, zum Beispiel, wenn dir dein angeblicher Freund ein Beinchen stellt. Hier fragst du nach dem Beweggrund oder Motiv der Handlung, wobei wir unter einer Handlung das Ganze aus physischer Bewegung und Motiv verstehen. Wir leiten in diesem Falle der Erklärung menschlichen Verhaltens das Physische aus dem Psychischen ab, denn ein Bein zu stellen ist freilich ein körperlicher Vorgang, jemandem übel mitspielen zu wollen augenscheinlich ein psychischer Vorgang.
Wir sagen: A hat B ein Bein gestellt, weil er ihm übel mitspielen wollte.
Formelhaft ausgedrückt: A wirkt aufgrund der Intention i mittels der Handlung h auf B ein.
Die physische Realität können wir beobachten und beschreiben, die wirkursächliche psychische Realität können wir nicht beobachten, sondern müssen sie erschließen. Wir sagen: A hat an B die Handlung h vollzogen. Wer immer h tut, ist in einem mentalen Zustand M1, M2, M3 … Mx. In welchem Zustand aus der Reihe der Handelnde tatsächlich ist, bedarf weiterer Analysen, unter Einbeziehung der Situation, der vorausgehenden Zustände und der Geschichte des Verhältnisses zwischen den Personen A und B.
Wenn dir die Erklärung einleuchtet, hat dies unmittelbar erhebliche Folgen für dich und deine Lebenswelt: Du wirst dem angeblichen Freund die Ehre, unter deine Freunde gerechnet zu werden, entziehen und etliche Maßnahmen ergreifen, euer Verhältnis einzuschränken, wenn nicht einzufrieren oder zu beenden. Deine Überlegung und deine Einsicht haben ziemlich weitgehende Folgen in der physischen Welt, soweit sie dich betrifft: Du wirst nicht mehr den Hörer abheben und die Nummer des Verräters wählen oder den Hörer abheben, wenn du seine Nummer auf dem Display erkennst, du wirst nicht mehr aus dem Haus gehen, um zu eurem gewöhnlichen Treffpunkt zu gelangen, du wirst den Teufel tun, ihm beim nächsten Umzug zu helfen.
Wir können von der Handlung auf den Beweggrund schließen, aber nicht umgekehrt von einem Beweggrund auf die daraus etwa prognostizierbare Handlung. Dein Gast hat sich bei Tisch vor deinen eingeladenen Freunden wieder einmal danebenbenommen; dennoch gibst du deinem Impuls, ihn mit einer scharfen Bemerkung oder Rüge abzustrafen und vor den anderen herabzusetzen, nicht nach, sondern bewahrst wenn auch nicht ohne Anstrengung dein Gesicht und milderst die Verlegenheit oder rettest die Situation mit einer witzigen Bemerkung.
Wir sehen: Handlungsgründe sind nicht identisch mit ihren physischen Ursachen, deren Vorkommen wir aus dem Vorkommen anderer physischer Ursachen gesetzmäßig ableiten und vorhersagen können. Wir verbleiben mit unseren Erklärungen physischer Ereignisse in einer kausal geschlossenen Welt: Wir gehen von der Bewegung eines Körpers weiter zur Bewegung eines anderen Körpers, der den ersten wiederum in Bewegung gesetzt hat, oder wir reduzieren die fühlbare und messbare Hitze des Wassers im Kochtopf auf die nur mittels eines Elektronenmikroskops sichtbar zu machende Bewegung der Wassermoleküle.
Wenn wir aber die unverschämte Handlung deines angeblichen Freundes als physische Bewegung seines Beines auf die neuronalen Bewegungsmuster in seinem Gehirn reduzieren, bleiben wir ebenfalls in einem geschlossenen kausalen Bezugsrahmen: Allerdings erhalten wir durch diese reduktive Analyse keine Erklärung, die uns das bizarre Tun deines Freundes verständlich macht, sondern nur eine tautologische Verdopplung derselben Beschreibung, einmal auf der Ebene der Alltagssprache, sodann auf der Ebene der Wissenschaftssprache.
Freilich können wir uns in der Zuordnung oder Identifikation von physischen und psychischen Ereignissen irren: Wenn dich dein Freund von hinten unglücklich gestoßen hat, weil er selbst gestolpert ist, rechnen wir ihm die physische Bewegung nicht als willentliche Ausführung einer Handlungsabsicht oder eines Bewegungsgrundes bösartiger Natur zu. Er tat dies unwillentlich und ohne Absicht und ist daher nicht zu tadeln. Und solltest du ihn im ersten Aufruhr der Gefühle grundlos getadelt haben, ist es an dir, dich von ihm wegen grundlosen Tadelns in die Schranken weisen zu lassen.
Wenn wir physische Ereignisse mittels des Vorkommens anderer physischer Ereignisse erklären, verbleiben wir nicht nur im selben Bezugsrahmen der physischen Welt beziehungsweise der physikalischen Erklärung. Die kausalen Bezüge, die wir auffinden, sind auch zumeist symmetrisch und transitiv: Wenn es regnet, wird die Straße nass, und wenn die Straße nass wird, ist es ziemlich wahrscheinlich, dass es regnet – falls nicht die städtische Versorgungseinrichtung bei großer Sommerhitze die Straße mit Wasser besprengt hat.
Wenn wir die physische Realität aus dem Vorliegen von mentalen Zuständen und Intentionen erklären, wechseln wir den kategorialen Bezugsrahmen. Hier sind wie bei den relationalen Ausdrücken „kleiner als“ oder „größer als“ oder „ist der Vater von“ Symmetrie und Transitivität des Bezugs ausgeschlossen: Wenn du größer bist als ich, bin ich kleiner als du, und wärst du mein Vater oder meine Mutter, könnte ich dich nimmermehr gezeugt oder geboren haben.
Denken wir kurz an den Sprung von einer Kategorie des Realen zu einer anderen, die wir Extrapolation nennen, wie sie die Logiker W. V. O. Quine und Peter Thomas Geach aufgezeigt haben: Wenn ich sage: „A ist kleiner als B“, bleibe ich unter Anwendung desselben Standardmaßes mit diesen Ausdrücken im Bereich des physisch Beobachtbaren als meinem standardisierten Gegenstandsbereich. Wenn ich aber sage: „Es gibt mindestens ein x und x ist kleiner als alle sichtbaren Objekte“, extrapoliere ich mit dieser Aussage auf einen Bereich, der mein Standardmaß und meinen standardisierten Gegenstandsbereich übersteigt.
Das regelmäßige Vorkommen eines physischen Ereignisses, das sich zeitlich einem psychischen Ereignis mehr oder weniger eng anschließt, muss nicht auf eine kausal-notwendige Beziehung beider Ereignisse hinweisen: Immer wenn ich nach draußen gehen will und es regnet, greife ich nach meinem Schirm. Aber ich kann es auch einmal vergessen.
Und warum sollte ein Gedanke wie eine Absicht oder ein Motiv, etwas zu tun, immer mehr oder weniger vollständig auf der physischen Ebene repräsentiert sein? Dass ich meinen Tadel zurückzuhalten weiß, um einen Gast nicht in Verlegenheit zu bringen, haben wir bereits gesehen. Aber warum sollte immer dasselbe oder überhaupt ein korrespondierendes Muster neuronaler Bewegung in meinem Kopf ablaufen, wenn ich denke „Ach, wie langweilig!“ oder „Warum nur gibt es keine größte Primzahl?“. Das hat noch keiner erwiesen, und wie es aussieht, bleibt dieses Blatt leer.